Walther Ludwig (Hg.): Vater und Sohn im 16. Jahrhundert. Der Briefwechsel des Wolfgang Reichart genannt Rychardus mit seinem Sohn Zeno (1520-1543), Hildesheim: Weidmann 1999, 446 S., ISBN 3-615-00205-9, DM 78,00
Rezensiert von:
Florian Neumann
München
Warum sollte man Briefe sammeln? Als sich der Ulmer Stadtarzt Wolfgang Reichart (1486 - 1547), ein begeisterter Briefsammler, 1534 diese Frage vorlegte, fielen ihm eine ganze Reihe von Gründen ein: "Gedichte und Briefe an andere sowie Gedichte und Briefe von anderen an uns aufzubewahren", schreibt er, das sei, wie ihm sein Lehrer beigebracht habe, "der Königsweg, die unwiederbringliche Zeit wiederzubringen." Hatte nicht Martial (Epigramme, 10,23,7f.) geschrieben, dass sich der gute Mann die Spanne seines Lebens erweitere, ja sogar zweimal lebe, wenn er die frühere Lebenszeit (noch einmal) genießen könne? Und hatte nicht Reicharts Zeitgenosse Baptista Mantuanus geschildert, wie er durch das Wiederauffinden einiger seiner Jugendwerke plötzlich seine Jugend zurückgewonnen hatte? Das waren gewiss sehr persönliche Gründe. Aber, fragte Reichart weiter, seien Briefe nicht auch das ideale Mittel, sein Wissen im Austausch mit anderen kundzutun? Und könne man nicht dank der Briefsammlungen sicher sein, seine Kenntnisse auch der Nachwelt zu übergeben?
Reichart mochte 1534 im Einleitungsbrief zu einer Sammlung seiner Briefe erklären, dass der Leser wohl erkennen könne, dass er mit ihr nicht danach strebe, die Schriftstücke (und mit ihnen sich selbst) unsterblich zu machen: Zu viele Dinge hätten ihn vom Studium abgelenkt, als dass die Briefe hätten gelehrt ausfallen können, zu viel habe er sich um das zum Leben Notwendige kümmern müssen. Abgesehen von den stark formelhaften Bescheidenheitsbekundungen ist es aus heutiger Sicht in der Tat zu großen Teilen gerade diese Gewichtung in Reicharts Briefen, die ihren Wert ausmacht. Nicht nur, dass er in seinen Sendschreiben von der Dichtung, Philosophie und Medizin seiner Zeit handelt, sondern vor allem, dass er sich mit Bekannten und besonders mit seinem Sohn Zeno über Alltägliches austauscht, macht seine Briefsammlungen zu wahren Fundgruben für ein ganzes Spektrum von historischen Forschungsrichtungen wie Alltags-, Bildungs-, Universitäts-, Kirchen-, Mentalitäts-, Wahrnehmungs- und Medizingeschichte, aber auch für die Erforschung der Geschichte Geistesbewegung des Humanismus oder des Postwesens.
Es ist das große Verdienst des Herausgebers, das Potential von Reicharts Briefsammlungen für die historische Forschung erkannt und einen Teil der Schreiben in einer mustergültigen Edition zugänglich gemacht zu haben. Die rund 160 Schriftstücke des Briefwechsels zwischen Wolfgang Reichart und seinem Sohn Zeno und die ihnen beigegebenen Tagebuchausschnitte und Gedichte sowie die auf die beiden "Rychardi" bezogene Briefe anderer Verfasser machen das insgesamt 235 Texte umfassende Corpus des vorliegenden Bandes zu einer äußerst vielfältig anregenden Lektüre. Da den durchgehend lateinischen Texten vom Herausgeber zum Teil sehr ausführliche Paraphrasen vorangestellt wurden, die in ihrem Umfang weit mehr als ein Regest sind und sich abschnittsweise schon fast einer Übersetzung nähern, ist der Zugang zu den (von seiten des Zeno Reichart nicht immer in fehlerfreiem Latein geschriebenen, im übrigen aber sehr gut lesbaren Schriften) wesentlich erleichtert.
Der Wert der Briefe ermisst sich nicht zuletzt daran, dass sie Wolfgang Reichart ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt hatte und sie erst aus seinem Nachlass von unbekannten Kopisten abgeschrieben wurden. So ergibt sich über die unstilisierten Texte ein einzigartiger Blick auf eine versunkene Welt, wie er in dieser Form bislang wohl nur durch den (etwa eine Generation später datierenden) Briefwechsel des Baseler Druckers Bonifacius Amerbach mit seinem Sohn Basilius möglich war. Im Mittelpunkt des Reichart-Briefwechsels steht der äußerst wechselvolle, keineswegs geradlinige Lebensweg und Bildungsgang des Zeno Reichart bis zu seinem frühen Tod 1543, wobei der durch die Überlieferung der Texte vorgegebene Schwerpunkt in den Jahren 1521 bis 1525 liegt. Spannung gewinnt die Geschichte der beiden Reicharts vor allem aus dem häufigen Zusammenprallen der unterschiedlichen Charaktere von Vater und Sohn und durch das Einwirken der religiösen und politischen Konflikte der Zeit in ihrer beider Leben. Auf der einen Seite erkennt man das strenge, aber doch liebevolle Bemühen des Vaters, seinen Sohn auf den rechten (Bildungs-)Weg zu bringen. So sieht man Wolfgang Reichart seinen Sohn Zeno wegen seiner Fehler im Latein und seiner Schludrigkeit beim Abfassen seiner Briefe zurechtweisen, und erkennt sein Bemühen, für Zeno in Freiburg im Breisgau einen guten Lehrer zu finden, dem er seinen Sohn umgehend entzieht, als er erfährt, dass die Verpflegung durch den Lehrer, bei dem Zeno auch wohnte, unzulänglich ist. Es wird deutlich, welche Überlegungen sich Wolfgang und Zeno Reichart über Zenos Zukunft nach dem erfolgreichen Bakkalaureat in Tübingen (1523) machen, wie sie sich über das weitere Studium (Jurisprudenz oder Medizin) zunächst uneinig sind, sich dann aber auf Medizin einigen. Man sieht, wie Zeno Reichert, der wie sein Vater Anhänger Luthers ist, Ingolstadt verläßt, um das Studium im toleranteren Heidelberg fortzusetzen, wo er sich zum Entsetzen seines Vaters mehr dem Trinken als dem Studieren widmet und schon bald wegen des durch den Bauernkrieg bedingten Geldmangels seines Vaters nach Ulm zurückgerufen wird. Man kann Zeno Reichart zur Fortsetzung des Medizinstudiums nach Wien folgen, wo er mit den Auswirkungen der Türkenkriege konfrontiert wird, abermals das Studium vernachlässigt, sich eine Malaria- und Syphilisinfektion zuzieht und auskuriert und schließlich dem mahnenden Rückruf seines Vaters nach Ulm keine Folge leistet, sondern nach einigen Wirrnissen eine Stellung als Hauslehrer in Thorn annimmt. Erst nachdem sich verschiedene Bekannte - und auch Philipp Melanchthon - um eine Versöhnung mit seinem Vater bemüht haben, kehrt Zeno nach Ulm zurück, um im Frühjahr 1530 das Studium der Medizin in Bologna, später in Ferrara fortzusetzen.
Auch dabei kommt es aber wieder zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Vater und Sohn über Zenos nach wie vor ausschweifenden Lebenswandel. Da Wolfgang Reichart seinem Sohn die finanzielle Unterstützung aufkündigt, sucht (und findet) Zeno eine Anstellung beim Bischof von Gurk und Erzbischof von Salzburg, Matthaeus Lang, was seinen Vater aufgrund von dessen ausgemachter Luthergegnerschaft noch zusätzlich erbosen muss. Nach einer Lücke im Briefwechsel (1531 bis 1534) setzen die Dokumente erst wieder Ende 1534 ein, als Zeno Reichart, der inzwischen an unbekanntem Ort (wahrscheinlich in Italien) in Medizin promoviert wurde, in Judenburg in der Steiermark vermutlich als Stadtarzt tätig ist.
Angesichts dieses abwechslungsreichen Lebenswandels und der entsprechend emotionsgeladenen Briefe von Wolfgang und Zeno Reichart, die vor dem Leser eine breite Palette von Wechselfällen im Studentenleben eines temperamentvollen (und manchmal vielleicht allzu sorglosen) jungen Mannes und seines besorgten Vaters ausbreiten, entsteht ein äußerst farben- und facettenreiches Bild des Lebens in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, das seinesgleichen sucht. Der Herausgeber Walther Ludwig hat mit seiner sorgfältigen Aufbereitung der Edition und mit seinen informativen Erläuterungen ein Buch vorgelegt, das sozial- wie geistesgeschichtlich interessierten Historikern eine äußerst anregende Lektüre bietet. Wie es Wolfgang Reicharts Absicht beim Briefesammeln war, ist es so gelungen, ein Stück unwiederbringliche Zeit wiederzubringen.
Empfohlene Zitierweise:
Florian Neumann: Rezension von: Walther Ludwig (Hg.): Vater und Sohn im 16. Jahrhundert. Der Briefwechsel des Wolfgang Reichart genannt Rychardus mit seinem Sohn Zeno (1520-1543), Hildesheim: Weidmann 1999, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=109>
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