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Barbara Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart: Reclam 2000, 408 S., ISBN 3-15-017025-7, DM 18,00

Rezensiert von:
Martin Papenheim
Universität Augsburg

Die Geschichte Europas im Zeitalter der Aufklärung in einem Band mit Quellentexten, Illustrationen und Literaturhinweisen, preiswert und im Jackentaschenformat, dabei auch noch hervorragend geschrieben und von einer Expertin ihres Faches mit Wissen durchtränkt: diesen Wunsch von Lehrenden und Lernenden hat uns die Münsteraner Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger in Zusammenarbeit mit dem Reclam Verlag erfüllt. Das Buch schließt eine empfindliche Lücke. In einer hochpreisigen - mit der Qualität der Verarbeitung keineswegs immer korrespondierenden - Buchlandschaft besitzt man jetzt endlich eine Einführung in das 18. Jahrhundert, die man guten Gewissens in Lehrveranstaltungen empfehlen kann. Das Buch reiht sich in die in Deutschland viel zu spät erfolgte Abkehr von neo-nationaler Geschichtsschreibung ein und eröffnet wieder europäische Perspektiven, - neben einer wünschenswerten forschungsstrategischen auch eine wichtige didaktische Verschiebung, ist doch trotz aller Globalisierung unserer Lebenswelt die Kenntnis der ausserdeutschen Geschichte beängstigend zurückgegangen.

Hier ist jedoch sogleich Kritik anzumelden: Das Europa dieses Bandes ist ziemlich klein. Die nord-, ost- und südeuropäischen Verhältnisse fallen aus der Darstellung weitgehend heraus oder werden nur erwähnt, wenn sie sich von Fall zu Fall nahtlos in ein westeuropäisch dominiertes Modell einfügen. Obwohl seit Beginn des 18. Jahrhunderts auch der Zar als europäischer Herrscher angesehen wurde (31), der Weg Skandinaviens in die Aufklärung ein ganz eigener war, in Rom der Papst residierte, Neapel nach London die größte Stadt Europas und die spanische Halbinsel immer noch ein politischer und kultureller Faktor erster Größenordnung war, erfahren wir über die dortige Geschichte so gut wie nichts. Hier wird eine seit Jahrzehnten blühende Tradition der Ost- und Südeuropaforschung nicht zur Kenntnis genommen [1].

In diesem Klein-Europa besaß die französische Aufklärung ein fast erdrückendes Übergewicht, im Reich waren es - abgesehen von der Habsburgermonarchie Maria Theresias und Josephs II. - die protestantischen Staaten, in denen der Geist der Reform sich vornehmlich ausbreitete: Sozialdisziplinierend, säkularisierend, effizienzsteigernd, kurzum preußisch oder josephinisch war diese staatliche Modernisierung. Dieser Blick auf das 18. Jahrhundert, der eine lange deutsche historiographische Tradition hat, dürfte aber nicht zuletzt aufgrund der nun fast 30 Jahre währenden intensiven Erforschung der geistlichen Staaten, die eine eigene Reformwelle durchliefen, überholt sein. So wird - wie immer - die Gründung der Universität Göttingen 1738 erwähnt, aber die sehr modernen Anstalten von Fulda (1734), Münster (1780) und Bonn (1786) werden genauso wenig beachtet wie die ihrer Zeit weit vorauseilende Medizinerausbildung in Würzburg. Das Kapitel über die Armenfürsorge lässt die sicherlich humanere Tradition der geistlichen Staaten genauso außer Acht wie deren geringe Steuer- und Militärbelastungen [2].

Natürlich kann man nicht ein Werk danach kritisieren, was es nicht enthält. Hier geht es aber darum, zu fragen, wie man heute eine historische Epoche, und wie man das Phänomen "Aufklärung" beschreiben kann. In seinem ganz anders angelegten Werk zur Geschichte Europas im Zeitraum zwischen 1250 und 1750 - mit dem ansonsten das hier zu besprechende Buch fairerweise gar nicht verglichen werden kann und soll - hat Heinz Schilling m. E. zu Recht darauf hingewiesen, dass in einer Geschichte Europas noch Mitte der 1980er Jahre "ohne betonte Beachtung der einzelnen europäischen Länder die übergreifenden Prozesse und Strukturen der werdenden europäischen Neuzeit" dargestellt worden seien. Heute hingegen müsse der "Geschichte der einzelnen Staaten und Nationen" "wieder ein eigenständiger Wert zugebilligt" werden [3]. Dies verhindert die ungeprüfte Übernahme eines vor allem westeuropäischen Leitmodells.

Ähnliches gilt für die Aufklärung. Zwar geht die Verfasserin zu Recht davon aus, dass es "die Aufklärung" nicht gab (196), aber sie schildert die Geschichte des 18. Jahrhunderts als eine Geschichte der Anwendung von Ideen. Gegen dieses Verfahren hat Roger Chartier Bedenken angemeldet: Die Verbindung der vielfältigen Diskurse der Aufklärung mit den Systemen von Praktiken ist weder kontinuierlich noch notwendig. Sie sind nicht auseinander ableitbar. Das Kennzeichen der Aufklärung ist nach Chartier gerade ihre Dissonanz und ihr komplexer, nicht-eindeutiger Bezug zur Praxis. Aus der befreienden Ideologie der Aufklärung konnten z.B. auch Restriktionen und Kontrollen entstehen [4]. Merciers Gesinnungsdikatur und Sades Moral waren keineswegs die illegitimen Kinder dieses Zeitalters, und ein Blick in Goethes Weimar zeigt uns ein ziemlich wenig liberales, kleinliches Milieu. Die Dialektik der Aufklärung war in der Aufklärung selbst angelegt - um dies zu behaupten, muss man nicht unbedingt Anhänger Foucaults sein. Europa im Zeitalter der Aufklärung war erheblich bunter und widersprüchlicher, als es die hier zu besprechende Darstellung suggeriert.

Allerdings gelingt es der Verfasserin, einzelne Facetten dieses Bildes plastisch und gekonnt darzustellen. Neun Kapitel behandeln übersichtlich die politische Geschichte, die Wirtschafts- , Sozial- und Religionsgeschichte, die neuen Formen der Kommunikation, die Geschlechtergeschichte, Wissenschaft, staatliche Reformen und abschließend die revolutionären Umbrüche. In einem zweiten Teil werden Fortschrittsoptimismus, Zivilisationskritik und die Grenzen der Menschen- und Bürgerrechte als Ambivalenzen der Aufklärung behandelt. 30 Textauszüge französischer, englischer und deutscher Autoren - dem Fachmann allesamt bekannt - eine Auswahlbibliographie, ein Nachweis der (aufgrund von Verlagsvorgaben?) sehr bekannten Abbildungen und ein nützliches Namensregister beschließen den Band. Die Darstellung verrät Kenntnis; der Verfasserin gelingt es, auch kompliziertere Sachverhalte gut zusammenzufassen. Zwei Abschnitte ragen m.E. deutlich heraus: Der Abschnitt "Ein Kapitel der Vernunft - Probleme, Methoden und Organisationsformen von Philosophie und Wissenschaft" ist ein Kabinettstück. Der Zusammenhang zwischen Newtonscher Physik und Veränderungen in der Theologie und Philosophie wird genauso exakt und konzise beschrieben wie die Entwicklung der Naturwissenschaften. Auch das Kapitel zur Geschlechtergeschichte dürfte breites Interesse finden. Die Verfasserin hat sich auf ein schwieriges Vorhaben, das zu mancherlei Einschränkungen und Verknappungen zwang, eingelassen. Trotz der genannten Einwände gegen die Anlage des Buches hat sie mit großer Kenntnis ohne Zweifel ein Werk geschrieben, das noch lange als Übersichts- und Einführungslektüre Bestand haben wird.

Anmerkungen:

[1] Vgl. jetzt die Einleitung in Peter Hersche, Italien im Barockzeitalter, Wien/Köln/Weimar, 2000, 11 -21.

[2] Vgl. Kurt Andermann, Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches, in: HZ 271, 2000, 593 - 619.

[3] Heinz Schilling, Die neue Zeit. Vom Christentumseuropa zum Europa der Staaten. 1250 - 1750, Berlin 1999, 9.

[4] Roger Chartier, Die kulturellen Ursprünge der Französischen Revolution, Frankfurt/New York/Paris 1995, 30.

Empfohlene Zitierweise:

Martin Papenheim: Rezension von: Barbara Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart: Reclam 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=113>

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