header

Frédéric Chauvaud: Les experts du crime. La médecine légale en France au XIXe siècle, Paris: Aubier 2000, 301 S., ISBN 2-7007-2323-6, FF 129,00

Rezensiert von:
Thomas Nutz
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Die Historische Kriminalitätsforschung hat nun auch im deutschen Sprachraum seit Beginn der 1990er Jahre Hochkonjunktur, nachdem in der englisch- und französischsprachigen Forschung das Themenfeld von Verbrechen und Strafen seit etwa dreißig Jahren intensiv bearbeitet wird und zu einer immer weiter fortschreitenden Diversifizierung der Themenbereiche führte.[1]

Der französische Historiker und Professor an der Universität in Poitiers, Frédéric Chauvaud, hat nun eine Studie vorgelegt, mit der er Licht in einen Bereich der Rechts- und Kriminalitätsgeschichte bringt, der bislang eher einen toten Winkel darstellte: gemeint ist der Aufstieg des außerjuristischen, vornehmlich medizinischen Experten im Rechtswesen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel Frankreichs versucht er die Formierung und die soziale Struktur des gerichtsmedizinischen Expertentums und ihrer "pratiques médico-légales" nachzuzeichnen: "ils inventent de nouvelles catégories de blessures, proposent un inventaire raisonné des folies admises dans les prétoires, fondent la toxicologie, découvrent même les traces des 'poisons invisibles'" (Klappentext).

Im ersten Teil des Buches, der drei Kapitel umfasst ("La résistible ascension d'un groupe professionnel", 19-70), beschäftigt sich Chauvaud mit der Struktur der sozialen Gruppe der rechtsmedizinischen Experten, die zunächst ziemlich heterogen ist, dann aber bis Ende des 19. Jahrhunderts durch die Gründung von Fachzeitschriften (z.B. die "Annales d'hygiène publique et de médecine légale"), die Veranstaltung von Kongressen, die Bildung von Assoziationen und die Schaffung einer professionellen Identität eine gewisse Einheitlichkeit gewinnt.

Der zweite Teil ("Les arcanes du corps brutalisé", 78-112) befasst sich mit dem Corpus des rechtsmedizinischen Fachwissens, das sich auf den Körper des Opfers des Verbrechens bezieht und die Techniken, mit denen die Experten die Wunden und Verletzungen zum Sprechen bringen (4. Kapitel: "Faire parler les violences corporelles"), erst einen klar definierten Tatbestand schaffen: "Ce que l'on demande au médecine légiste, c'est de proposer un 'décodage' des violences corporelles. [...] Dans les affaires de coups et blessures, l'opinion de l'expert détermine la classification pénale" (107f.). Leider verschont Chauvaud in diesem Teil den Leser nicht mit eingehenden Details aus den rechtsmedizinischen Gutachten zu den aufsehenerregendsten und monströsesten Kriminalfällen der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, was nicht unbedingt notwendig gewesen wäre.

Parallel zum zweiten wendet sich der dritte Teil ("Expertiser la 'teinte de l'âme'", 113-166) dem rechtsmedizinischen Fachwissen zu, das die geistige Verfasstheit des Kriminellen betrifft. Hier zeigt Chauvaud, wie den rechtsmedizinischen Experten im Strafprozess durch die Eroberung des Definitionsmonopols in der Frage der Unzurechnungsfähigkeit und der Erfindung des Krankheitsbildes der Monomanien eine immer dominierendere Rolle zukommt, die durch den Paradigmenwechsel von der um den Begriff der "responsabilité" zentrierten Vergeltungsjustiz zu einer Justiz, die sich als Institution zum Schutz des Gemeinwesens, der "défense sociale", definiert, eher noch zu- als abnimmt: "La tâche de l'expert serait alors de décider s'il [l'accusé] est 'normal' ou 'anormal'" (166).

Den innovativsten Abschnitt des Buches stellt schließlich der vierte Teil dar ("La preuve expertale en question(s)", 167-232), der sich mit den (naturwissenschaftlichen) Techniken und Verfahren zur Erzeugung und Konstruktion rechtsmedizinischer Fakten und Beweise beschäftigt. Chauvaud gelingt es hier am Beispiel der Toxikologie zu zeigen, wie die rechtsmedizinischen Expertisen in vielen Fällen zum entscheidenden Fundament des gerichtlichen Strafurteils werden, wie allein der toxikologische Beweis des Experten die juristische quaestio facti löst und die Klärung der Frage der Schuld und der Strafzumessung bestimmt.

Chauvaud hat eine überzeugende Studie vorgelegt, welche die rechtsmedizinischen Experten als Gruppe erstmals in ihrem gesamten Tätigkeitsspektrum (und nicht nur etwa in Bezug auf die geisteskranken Verbrecher) vorstellt. Vor allem der erste und vierte Teil des Buches bringen ganz neue Einsichten, wobei sich insbesondere der vierte Teil durch neue, aus der Wissenschaftsgeschichte stammende Fragestellungen auszeichnet.

Anmerkung:

[1] Vgl. beispielsweise den jüngst erschienenen Forschungsüberblick: Joachim Eibach: Recht - Kultur - Diskurs. Nullum Crimen sine Scientia, in: ZNR 23 (2001), Nr. 1, S. 102-120.

Redaktionelle Betreuung: Gudrun Gersmann

Empfohlene Zitierweise:

Thomas Nutz: Rezension von: Frédéric Chauvaud: Les experts du crime. La médecine légale en France au XIXe siècle, Paris: Aubier 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 3, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=118>

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

footer