Norbert Brieskorn / Markus Riedenauer (Hg.): Suche nach Frieden. Politische Ethik in der Frühen Neuzeit, Bd. 1 (= Theologie und Frieden; Bd. 19), Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 2000, 276 S., ISBN 3-17-016439-2, DM 49,10
Rezensiert von:
Harald E. Braun
Oxford
Der vorliegende Band dokumentiert im Wesentlichen zwei Symposien, die das Institut für Theologie und Frieden 1998 und 1999 im Rahmen seines langfristigen Projektes "Ethik des Friedens in Theologie und Philosophiegeschichte" veranstaltete. Er versammelt elf Beiträge zu Aspekten des - im weitesten Sinne - friedensethischen Denkens einflussreicher Theologen und Reformatoren der Frühen Neuzeit, etwa der theologisch-juridischen Begründung und (Weiter-) Entwicklung der Theorie des bellum iustum im Kontext des frühneuzeitlichen Machtstaates, dem Problem religiöser Toleranz im Angesicht interreligiösen und konfessionellen Konflikts, der Lehre vom Gewissensentscheid, der fortdauernden Debatte um Kolonisierung und Christianisierung heidnischer Kulturen, oder dem Problem des Widerstandsrechts. Ein zweiter Band will mit Untersuchungen zu weiteren humanistischen und spätscholastischen politischen Theoretikern anschließen. Beide Bände zusammen sollen lediglich das Material für eine noch zu schreibende Geschichte der Friedensethik in der frühen Neuzeit aufbereiten.
Ausgehend von der Leitthese der allmählichen "Verrechtlichung" ethischen und politischen Denkens vom 15. zum 17. Jahrhundert verfolgen die Herausgeber dahingehend zwei Ziele: einmal soll die "Korrelation von spezifischen historischen Situationen und theologisch-philosophischen Antwortversuchen hermeneutisch" aufgearbeitet werden. Der vorliegende Band beansprucht somit zunächst den Charakter einer analytischen Bestandsaufnahme wesentlicher friedensethischer Themen, Probleme, und Lösungsversuche in - oft wenig zueinander in Bezug gestellten - Einzelstudien zu verschiedenen Autoren und politik- und geistesgeschichtlichen Kontexten der Frühen Neuzeit. In dieser Hinsicht bedauerlich ist, dass leider nicht alle Verfasser mit einer weiterführenden Bibliographie der wichtigsten Quellen und Literatur schließen. Zum anderen aber soll der Band auch helfen, den Anschluß der Forschung zur frühneuzeitlichen Friedensethik an Methoden, Debatten und Zielsetzungen der modernen Sozialethik und Friedensforschung zu gewährleisten.
Einleitend skizzieren die Herausgeber sehr kurz die Situation fortgesetzten politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Umbruchs (Konfessionalisierung, Modernisierung, military revolution, Wegfall von Kaiser und Papst als wirksamen Zentralgewalten und Schiedsgerichtsinstanzen im Aufstieg europäischer [Proto-]Nationalstaaten), welche Kategorien und Grenzen der mittelalterlichen Denkens über Krieg und Frieden sprengt und dazu nötigt, philosophische, juristische, und theologische Traditionen zu überdenken und weiterzuentwickeln.
Eingangs untersucht dann Jakob Schneider den Versuch des Nicolaus Cusanus (1401-64), die Erfahrung des Falls von Byzanz in der heilsgeschichtlichen Hoffnung auf die letztlich bezwingende Rationalität des christlichen Glaubens und auf einen im fortwährenden philosophisch-rationalen Dialog der Religionen verwirklichten "ewigen Religionsfrieden" aufzuheben.
Rudolf Schüßler zeigt an den Schriften des Niederländers Adrian Florisz (1459-1523), des späteren Papstes Hadrian VI., dass scholastisches Denken dem Individuum ein weit größeres Recht auf Befehlsverweigerung und damit eine weitaus größere Freiheit gegenüber sozialen und politischen Hierarchien einzuräumen vermochte als weithin angenommen.
Hans-Richard Reuter spürt den inneren Grenzen des lutherschen Denkens im Umgang mit dem von der causa Lutheri selbst provozierten Umbruch im Verhältnis zwischen kaiserlicher Zentralgewalt und Fürsten nach. Seinem brüchig gewordenen Obrigkeits- und personalen Amtsbegriff auch nach 1530 letztlich treu, interpretiert Luther Pflicht zum Widerstand als Teil der Gehorsamspflicht nicht gegenüber der Person des Kaisers, sondern gegenüber kaiserlichem positivem Recht.
Eva-Maria Faber führt die Diskussion um die Friedensethik Johannes Calvins (1509-1564) auf die in den Schriften des Reformators tatsächlich greifbaren Aussagen zurück. Sie zeigt einen Calvin, der die von ihm selbst aufgeworfene zwingende Frage nach vernunftmäßigen Kriterien der Erkenntnis des Willens Gottes angesichts der Ambivalenz geschichtlicher Situationen und der Vorläufigkeit auch der eigenen religiösen Erkenntnis letztlich unbeantwortet lassen will.
Die hier versammelten Untersuchungen zur Friedens- und Kriegsethik in der spanischen Spätscholastik zeigen Theologen an der Schwelle zwischen der von der Hochscholastik "ererbten" Theorie des Krieges und einem frühneuzeitlichem Machtpragmatismus, der Selbsterhaltung und Präventivkrieg wegen drohenden Ungleichgewichts der Kräfte zunehmend als juridisch greifbare Kriegsgründe anerkennt. Einig im Bestreben, eine theologisch-juridische Kritik der historischen Realität von unmittelbarem praktischen Nutzen vorzulegen, weiten sie die Machtstellung des supremus princeps gegenüber intermediären Gewalten aus und betreiben eine pragmatische Behandlung des Krieges durch eine juridisch gesättigte Theologie. Merio Scattola hebt den überraschend prozessualen und nur vorläufigen Charakter irdischer Gerechtigkeit im Denken Domingo De Sotos (1495-1560) hervor. Juan Belda Plans erhellt, in welch hohem Maße Melchor Cano (1509-60) zwar seinem Lehrer Francisco Vitoria (1492-1546) folgt, doch starke eigene Akzente in den praktischen Fragen der Reichweite und der Grenzen des Kriegsrechts (ius in bello) setzt. Norbert Brieskorn zeichnet die Weiterentwicklung der älteren scholastischen Theorie des Krieges durch den spanischen Theologen Luis de Molina, SJ (1536-1600) nach, der das ius ad bellum nicht länger im Kontext der christlichen caritas diskutiert sondern als Thema des Sachenrechts. Weitaus stärker noch als De Soto oder Cano dringt Molina auf eine rein formalrechtliche Behandlung der verschiedenen Aspekte der Kriegsproblematik sowie auf eine juridisch fassbare, faktisch uneingeschränkte Autorität des Souveräns. Auch Rainer Specht betont den im pragmatischen Umgang mit Macht erfahrenen Charakter des Denkens von Francisco Suárez, der ein weithin uneingeschränktes Gewaltmonopol des supremus princeps nach Innen und Außen vertritt und die moralische Vertretbarkeit von Kriegsmitteln und Kriegshandlungen als zentralen Rechtfertigungsgrund an die Stelle der rechten Absicht (intentio recta) treten lässt. Mariano Delgado schließlich führt den Leser in die bislang stark vernachlässigte, letztlich von differenzierten realpolitischen Argumenten dominierte Debatte um die Conquista und Evangelisation Chinas am Ausgang des 16. Jahrhunderts ein.
Klaus Schatz gelingt es letztlich nicht, die bis in die Gegenwart reichende, stark verzerrende Bewertung Juan de Marianas (1535-1624) als eines radikalen Apologeten des Tyrannenmordes zu korrigieren - zu sehr bleibt er überholten "konstitutionalistischen" und "demokratisierenden" Interpretationen der Whig-Historiographie verhaftet.
David Little versucht in seinem in der englischen Originalsprache belassenen Beitrag, Hugo Grotius als Vordenker der modernen juristischen Doktrin des gerechten Krieges als einer Reihe universaler, juristisch fassbarer Prinzipien gegen einen "fashionable belief in cultural relativism" ins Feld zu führen. Leider versäumt er es, auf frühneuzeitliche und gegenwärtige komplexe Überlegungen zur historischen Kontingenz und Relativität moralischer und juristischer Normen auch nur annähernd einzugehen.
Der Beitrag von David Little verweist dann auch auf die grundsätzliche Problematik des Anspruchs, einen wissenschaftlich nutzbaren Anschluss an die gegenwärtige friedensethische Debatte herzustellen. Neben David Little versuchen nur Rudolf Schüßler und Mariano Delgado - in kurzen, durchaus interessanten Schlußbetrachtungen - die Aktualität frühneuzeitlichen friedensethischen Denkens nachzuweisen. Der solchen Versuchen abzugewinnende Erkenntnisgewinn bleibt jedoch fraglich - nicht zuletzt weil eine notwendige methodische Problematisierung eines solchen diachronen Vergleichs weder in der Einführung noch in den einzelnen Beiträgen vorgenommen wird.
Die überwiegende Mehrzahl der Beiträge freilich verortet und erhellt frühneuzeitliches Denken aus den jeweiligen spezifischen politik- und geistesgeschichtlichen Zusammenhängen. Im Rahmen seiner vorläufigen Zielsetzung bleibt der Band daher ein reicher Fundort zu frühneuzeitlichem friedenspolitischen und kriegsrechtlichen Denken und zum Stand der neueren Forschung.
Redaktionelle Betreuung: Heinrich C. Kuhn
Empfohlene Zitierweise:
Harald E. Braun: Rezension von: Norbert Brieskorn / Markus Riedenauer (Hg.): Suche nach Frieden. Politische Ethik in der Frühen Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=138>
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