Peter Feldbauer / Gottfried Liedl / John Morrissey (Hg.): Vom Mittelmeer zum Atlantik. Die mittelalterlichen Anfänge der europäischen Expansion (= Querschnitte. Einführungstexte zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Bd. 6), München: Oldenbourg 2001, 296 S., 11 SW-Abbildungen, 5 SW-Karten, ISBN ISBN 3-486-56537-0, DM 48,00
Rezensiert von:
Jürgen G. Nagel
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München
Dass ein Buch, welches ausdrücklich auf das Mittelalter Bezug nimmt, im Rahmen eines Rezensionsdienstes der Frühen Neuzeit besprochen wird, mag im ersten Moment überraschen. Doch spätestens seit Charles Verlindens umfassenden Forschungen wird den mittelalterlichen Wurzeln der Europäischen Expansion allgemein ein angemessener Stellenwert eingeräumt. Und dass die Europäische Expansion eines der prägendsten Phänomene der Frühen Neuzeit war, sollte heute eigentlich unumstritten sein. Insofern ist es nur verdienstvoll, dass in der Reihe 'Querschnitte' ein Band vorgelegt wird, der einem breiten deutschsprachigen Leserkreis, der nicht nur aus Fachgelehrten bestehen soll, diese Wurzeln nahebringen soll. Der Bedarf an einer solchen Darstellung ist offensichtlich, handelt es sich bei diesem Buch doch um die überarbeitete und erweiterte Version des vergriffenen zweiten Bandes der Reihe. Der Band behandelt das gestellte Thema in zwölf Aufsätzen in einem weit, wenn nicht gar überweit gespannten Bogen. Eine gewisse Klammer bildet dabei der erste Beitrag von Janet L. Abu-Loghod, 'Das Weltsystem im dreizehnten Jahrhundert: Sackgasse oder Wegweise'. Die Kernthesen ihrer bedeutenden Monographie (Before European Hegemony. The World System A.D. 1250 - 1350, New York 1989) aufgreifend, liefert sie auf anschauliche Weise einen konzeptionellen Rahmen für das Folgende, ohne sich in theoretischen Abstraktionen zu verlieren.
In seinem Beitrag 'Die Kreuzzüge. Feudale Kolonialexpansion als kriegerische Pilgerschaft' führt Ingolf Ahlers deren Charakter auf die strukturbedingte Gewaltbereitschaft der feudalen mittelalterlichen Welt zurück - eine Interpretation, die gelegentlich etwas einseitig erscheint. Entsprechend ist die Übertragung auf den Charakter der frühen Europäischen Expansion, die hier - wie auch häufig sonst - in der Nachfolge der Kreuzzüge gesehen wird, nicht durchgehend überzeugend. Zumindest entsteht der Eindruck - möglicherweise unbeabsichtigt - eines vorrangigen Faktors in der Grundlegung der Expansionsbewegung, der andere zu weit in den Hintergrund drängt.
John Morriseys Darstellung 'Die italienischen Seerepubliken' versucht sich hingegen gar nicht erst in umfassenden Erklärungsansätzen für die Europäische Expansion. Sie hat vielmehr Handbuchcharakter: Die Seerepubliken Amalfi, Pisa, Genua und Venedig werden nacheinander abgehandelt, gespickt mit wertvollen Detailinformationen, ohne dass jedoch ein Bezug zum Generalthema, der Europäischen Expansion, hergestellt wird. Auch ein Vergleich der vier Republiken, der sich an dieser Stelle angeboten hätte, wird allenfalls in Ansätzen geboten.
Zusammen mit Peter Feldbauer kommt John Morrisey im darauffolgenden Beitrag, 'Italiens Kolonialexpansion - östlicher Mittelmeerraum und die Küste des Schwarzen Meeres', einen Schritt weiter. Dargestellt werden die Aktivitäten Venedigs und Genuas im östlichen Mittelmeer, wobei stets der Blickwinkel des 'Kolonialismus' eingehalten wird. Auf diese Weise ergibt sich weitaus eher ein Zusammenhang mit den Entwicklungen, die seit dem 16. Jahrhundert die Welt verändern sollten. Allerdings dominiert auch hier ein handbuchartiges Abarbeiten der relevanten Lokalitäten, von Kreta über Zypern und Chios bis zur Schwarzmeerküste.
Im Gegensatz dazu versucht Gottfried Leidl in 'Die andere Seite der Reconquista: Islamisch Spanien im Wirtschaftsraum des Spätmittelalters' immer wieder die Bögen der großen Zusammenhänge zu spannen. Es gelingt ihm, die als Vorläufer der Europäischen Expansion gerne in Beschlag genommene Reconquista in ihren Zusammenhängen darzustellen und dabei vor allem die islamische Seite in ihrer Eigenständigkeit - weder als Feind noch als Opfer - überzeugend zu beleuchten. Erfreulich an diesem Beitrag ist zudem die sprachlich Qualität, die statt für harte Arbeit am Text für einen Lesespaß sorgt, wie auch der Versuch, die Demographie der Iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert auf Grundlager einer "fundierten Spekulation" in den Griff zu bekommen.
Endgültig die Perspektive wechselt Peter Feldbauer mit dem Thema 'Die islamische Welt seit der Jahrtausendwende'. Es handelt sich um die knappe Wiederaufnahme seines umfassenden Buches zum gleichen Gegenstand (Die islamische Welt 600 - 1250. Ein Frühfall von Unterentwicklung?, Wien 1995). Hier wie dort geht er der Frage nach, ob zwischen der Jahrtausendwende und dem Beginn der Europäischen Expansion ein Niedergang der islamischen Welt zu verzeichnen ist. In Auseinandersetzung mit den neuesten Erkenntnissen und Debatten der Islam- wie auch der Weltsystemhistoriker kommt er dabei zu äußerst differenzierten Antworten. Diese werden einem komplexen Gebilde wie der islamischen Welt, die so unterschiedliche Staaten wie das Osmanische Reich, das mamelukische Ägypten oder das Kalifat von Granada umfasst, weitaus gerechter als simple Krisenszenarien für die Zeit nach dem 'Goldenen Zeitalter'.
Mit dem Beitrag von Jean-Paul Lehners über 'Die Anfänge der portugiesischen Expansion' verläßt der Band die Welt des Mittelalters. Der Aufsatz läuft stets auf die Frage hinaus: Warum gerade Portugal? Als Antwort wird eine überzeugende Grundlegung der portugiesischen Expansion im 14. und 15. Jahrhundert geboten. Im Gegensatz zu weit verbreiteten monokausalen Erklärungen, von denen die meisten das Ökonomische herausstellen, lässt Lehners religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren jeweils zu ihrem Recht kommen und weist zähen Erklärungsansätzen wie die Absperrung der Karawanenrouten durch das aufstrebende Osmanische Reich ihren angemessenen Platz zu, - im Reich der Legenden.
Das Gegenstück der portugiesischen Expansion auf der Iberischen Halbinsel handelt Ferdinand Gschwendtner in dem Beitrag 'Reconquista und Conquista: Kastilien und der Ausgriff nach Amerika' ab. Dabei schlägt er einen weiten Bogen von der in vielen Beiträgen bemühten Krise des Feudalismus bis zum 17. Jahrhundert, in welchem Spanien innerhalb Europas den Anschluss verliert. Es entsteht ein facettenreiches Bild der heimatlichen Hintergründe der Reisen und Feldzüge von Kolumbus, Cortes, Pizarro und Konsorten, ohne welches das Auftreten dieser Geschichtsbuch-Helden kaum verständlich wäre.
Die folgenden drei Beiträge haben weniger mit den mittelalterlichen Grundlagen der Europäischen Expansion zu tun; vielmehr wird die Geschichte derselben im 16. Jahrhundert jenseits aller altbackenen Vorstellungen von einer europäischen Erfolgsgeschichte nachgezeichnet. Manfred Pittioni analysiert den Aufstieg und Niedergang der Portugiesen in Asien als nur einen Teilbereich eines 'Welthandelskrieges der Neuzeit'. Peter Feldbauer schließt daran die Darstellung des portugiesischen Estado da India in Asien vor dem Hintergrund der zeitgenössischen asiatischen Wirtschaftsverhältnisse an. Mit Bernd Hausberger kehrt der Band noch einmal in die Neue Welt zurück, deren Eroberung unter angemessener Berücksichtigung der indianischen Bevölkerung er nachzeichnet.
Herbert Frey schließlich liefert mit dem Aufsatz 'Die Europäisierung Europas und die Okzidentalisierung der Welt' einen Beitrag zur Fremdwahrnehmung und zur gegenseitigen Beeinflussung der alten und neuen Welten im Zuge der Europäischen Expansion, der das faktengesättigte Werk auf geistesgeschichtlicher Ebene abrundet.
Den Abschluss des Bandes bildet lediglich ein Autorenverzeichnis, das auch nicht mehr als die Adressen der Beteiligten verrät. Wichtige Hilfsmittel, die dem Charakter eines Einführungsbuches gut zu Gesicht gestanden hätten, wie zum Beispiel ein Index oder eine Zeittafel, fehlen völlig. Die gängigen Themen, die gewöhnlich angesprochen werden, wenn von der mittelalterlichen Vorgeschichte der Europäischen Expansion die Rede ist - Kreuzzüge, italienische Seerepubliken, Reconquista, frühe portugiesische Entdeckungsfahrten - werden zwar mehrheitlich angeführt, doch werden sie nicht konsequent auf das, was die einzelnen besprochenen Aspekte begründen sollen, eben die Europäische Expansion, gebündelt. Die Beiträge erscheinen in ihrer Struktur für ein Einstiegswerk, das Leser über die engen Fachkreise hinaus ansprechen will, ein wenig heterogen. Es handelt sich teils um faktenorientierte Handbuchartikel, teils um Forschungsüberblicke, teils auch - mehr oder weniger theoriegeleitet - um schwungvoll vorgetragene Gesamtinterpretationen. Zudem wird, bei aller thematischer Breite, das Buch einerseits seinem mittelalterlichen Anspruch nicht ganz gerecht, sind doch nur sieben von zwölf Aufsätzen eindeutig dem Mittelalter zuzuordnen und nur 62% des Seitenumfangs - ein Umstand, der für den in Zusammenhängen denkenden Historiker allenfalls ein Schönheitsfehler ist. Andererseits, und dies fällt weitaus mehr ins Gewicht, fallen denn doch einige Themen, die in den Mittelalter-Bereich gehören, gänzlich unter den Tisch oder werden in den Texten nur als Nebenaspekte kurz angedeutet: die technischen Entwicklungen des Spätmittelalters insbesondere in der Seefahrt, die mittelalterlichen europäischen Kenntnisse über Asien, die ersten Entdeckungsfahrten vor der portugiesischen Expansion oder die Präsenz von Europäern in Asien lange vor Vasco da Gama, wobei die Polos nur die Prominentesten darstellen und nicht unbedingt auf die merkwürdige Geschichte von dem Elefanten, den Harun ar-Rashid Karl dem Große geschenkt haben soll, zurückgegriffen werden müsste.
Sei's drum: Nach all der Kritik darf der Rezensent das Buch dennoch empfehlen, auch wenn sich die Kehrtwende etwas abrupt lesen mag. Fallen doch die Kritikpunkte gegenüber den positiven Aspekten nicht allzusehr ins Gewicht. Dabei ist in erster Linie die Auffassung der Europäischen Expansion aus ihren Wurzeln, die nun einmal mittelalterlich sind, heraus zu nennen. Sie wird somit - ganz so, wie im Vorwort der Herausgeber gefordert -als epochenübergreifendes Phänomen verstanden. Eine Sichtweise, die vielleicht dazu beitragen könnte, den lächerlichen, aber in den Tempeln deutscher Geschichtsforschung noch immer gerne betriebenen Streit, welches Jahrhundert nun welchem Historiker - Mediävist oder Neuzeitler - gehören mag, zu überwinden. Weiterhin ist positiv zu vermerken, dass es sich bei dem Band um einen gründlichen Einstieg in einen noch nicht allzu weit verbreiteten Themenbereich handelt, der alte Mythen und vor allem monokausale Erklärungen, die immer wieder hochkochen (wie die 'military suprimacy thesis') behutsam vermeidet und sich auf dem neuesten Stand der Forschung bewegt - auch wenn die Literatur zu Afrika ein wenig unterrepräsentiert ist. Bei allen angedeuteten Unterschieden zeichnet sich das Buch schließlich und endlich durch eine verständliche Sprache aus, die auch für Nicht-Initialisierte der Zunft den Zugang zum Thema auf hohem Niveau erleichtert.
Redaktionelle Betreuung: Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen G. Nagel: Rezension von: Peter Feldbauer / Gottfried Liedl / John Morrissey (Hg.): Vom Mittelmeer zum Atlantik. Die mittelalterlichen Anfänge der europäischen Expansion, München: Oldenbourg 2001, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=140>
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