Marietta Meier: Standesbewusste Stiftsdamen. Stand, Familie und Geschlecht im adligen Damenstift Olsberg 1780-1810, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1999, VIII + 355 S., ISBN 3-412-13198-9, DM 88,00
Rezensiert von:
Oliver Auge
Historisches Institut, Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Greifswald
Frauenkommunitäten, ob Kloster oder Stift, stellten lange Zeit ein "Stiefkind" der historischen Forschung dar. Wenn nun Kanonissen und ihre Stifte mehr und mehr aus dem Abseits des wissenschaftlichen Interesses hervorgeholt und in den Mittelpunkt von Kolloquien, Aufsätzen und Monographien gerückt werden, so ist dies zum einen auf eine veränderte Sichtweise des Kanoniker- und Kanonissenwesens zurückzuführen: Die moderne Stiftskirchenforschung weist mit Recht darauf hin, dass das kanonische Leben nicht nur "ein Zugeständnis an die menschliche Schwäche" war, wie noch der "Nestor der Kirchengeschichte" (Irene Crusius) Albert Hauck urteilte, und betont demgegenüber seinen Eigenwert und seine große kirchliche wie allgemeine Bedeutung. Zum anderen gab die moderne Frauen- bzw. Geschlechterforschung wertvolle Impulse, sich auch mit den Kanonissen zu befassen. Merklicher Ausdruck des gestiegenen Interesses sind eine schnell wachsende Zahl von Publikationen zum Thema, von denen hier stellvertretend nur auf den 1998 von Kurt Andermann herausgegebenen Tagungsband "Geistliches Leben und standesgemäßes Auskommen. Adlige Damenstifte in Vergangenheit und Gegenwart" sowie auf den gerade unter der Regie von Irene Crusius erschienenen Band 24 der Studien zur Germania sacra "Studien zum Kanonissenstift" verwiesen sei. Im Kontext dieser verstärkten Bemühungen um die Erforschung der Kanonissen und ihrer Vergangenheit ist auch die hier zu besprechende Arbeit von Marietta Meier zu sehen, die im Wintersemester 1997/98 von der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich als Dissertation angenommen wurde.
Stand, Familie, Geschlecht - mit diesen sozialhistorischen Kategorien versucht Meier, angeregt von entsprechenden kultursoziologischen Theorien Pierre Bourdieus, die dreißigjährige Geschichte der Olsberger "standesbewussten Stiftsdamen" zu erklären, in der sich ihrer Meinung nach der politische und gesellschaftliche Strukturwandel des 18. Jahrhunderts widerspiegelt. Zu diesem Zweck teilt Meier ihre Untersuchung in drei Teile, in denen sie sich jeweils einer dieser Kategorien zuwendet. Teil I (25-105) behandelt unter der Überschrift "Überall den Nutzen sehen" Adel und aufgeklärten Absolutismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wobei Meier verdeutlichen kann, wie sich die Bemühungen der aufgeklärt-absolutistischen Landesherrschaft um das "commune bonum", einhergehend mit Maßnahmen zur Zentralisierung, Bürokratisierung und Rationalisierung, auf die Geschichte des Frauenklosters Olsberg auswirkten: Es wurde in ein weltliches Stift umgewandelt, das der staatlichen Kontrolle unterstand. Der mit dem Titel "Für die Erhaltung der famille" versehene Teil II (107-201) wendet sich den Familien der Stiftsdamen und der sich um eine Stiftspfründe bewerbenden Kandidatinnen zu: Meier geht darin auf die soziale Stellung sowie auf Form und Struktur der Adelsfamilien dieser Zeit und auf den Wandel ein, der diese damals ergriff und zur Anpassung zwang. Als Fazit arbeitet sie heraus, dass adelige Töchter bei der standesgemäßen Versorgung in der Regel "mehr Verzichtsleistungen übernehmen" mussten als ihre Brüder und dass letztere aufgrund veränderter Anforderungen eine verbesserte Ausbildung erhielten als ihre Schwestern, die sich nach wie vor nur einen "eingeschränkten Bildungskanon" und einen "spezifisch weiblichen Tugendkatalog" aneignen konnten. Die im Unterschied zum männlichen Adel bestehende Konstanz weiblicher (Aus-)Bildung habe es den Stiftsdamen erschwert, "sich den geänderten Zeiten anzupassen (alle Zitate 299). "Unser einmahl angewohnten Ordnung wegen" lautet folgerichtig Teil III (203-293), der das - nach Meier maßgeblich vom Standesbewusstsein geprägte - Leben der Stiftsdamen thematisiert. Die Stiftsdamen, so Meier, lebten zurückgezogen und ohne nennenswerte Kontakte mit der Außenwelt. Sie hatten keinen Anteil am Gesellschaftsleben. Gleichwohl hätten sie bestimmte Vorstellungen von einem standesgemäßen Lebensstil besessen, über den sie ihre Stellung und ihr Selbstbewusstsein definierten. Sie wollten daher unbedingt an diesem festhalten. Die Auseinandersetzungen darüber zeigten, "wie sich der Strukturwandel auswirkte, wie er sich mit dem Selbstbild des Adels, der Wahrnehmung sozialer Unterschiede, mit Handlungen und Einstellungen verknüpfte und auf diese Weise auch Handlungen und Einstellungen beeinflusste, die ihrerseits wieder Strukturen prägten" (302). Den drei Teilen sind ein persönliches Vorwort (VII f.) und eine ausführliche Einleitung vorangestellt, in welcher Meier ihr Erkenntnisinteresse und die Relevanz des Themas (4-9), den auf Bourdieu beruhenden theoretischen Unterbau der Studie (9-22) und zuletzt die explizite Fragestellung, die Quellen und den Aufbau der Arbeit vorstellt. Ein übersichtliches Quellen- und Literaturverzeichnis (305-337), ein hilfreiches Glossar (339-341), eine nützlicherweise dreigestaffelte Zeittafel (343 f.; Habsburg, Schweiz, Olsberg) und erläuternde Tabellen (346-355; wo ist Tabelle 1?) beschließen die Untersuchung.
Die Arbeit besticht durch ihre inhaltliche (ein Fazit an jedem Abschnittende!) wie äußerliche (Kompliment an den Verlag und das gründliche, auf Schweizer Rechtschreibung beruhende Lektorat!) Übersichtlichkeit und durch den Versuch, Stiftsgeschichte einmal auf einem anderen Weg als dem sonst gemeinhin gewohnten zu beschreiten und über die Erforschung der "Geschichte eines kleinen unbedeutenden Stifts" (6) auch zur Familien-, Frauen-, Geschlechter- und Adelsgeschichte beizutragen, die Geschichte des adligen Damenstifts Olsberg also in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Ist der Versuch gelungen? Es ist zumindest zu fragen, ob man die Geschichte der "standesbewussten Stiftsdamen" wirklich "nur" (294) über Meiers drei Kategorien erklären kann. Wie steht es mit dem kaum berührten sakral-religiösen Selbstverständnis der Stiftsdamen, auf das die moderne Stiftskirchenforschung gerne und zu Recht achtet? Setzt sich Meier, wie sie sagt (294) und wie es angebracht erschiene, wirklich mit Bourdieu auseinander, oder setzt sie seine Thesen nicht von vornherein als anerkannt und gültig voraus (9f f.)? Sieht man denn heutzutage Stiftsdamen "von vornherein als Opfer, Verliererinnen oder als Frauen, die in ein Stift eintreten wollten, um frei und unabhängig zu sein" (302)? Kann man ohne weiteres von der überzeugend dargestellten Konfliktbereitschaft der Stiftsdamen auf ein hohes Standesbewusstsein "lediger, adliger Frauen" allgemein schließen (301). Warum überhaupt hätten die Stiftsdamen die "Zeichen der Zeit" erkennen und Eingriffe des Staates hinnehmen, ihren Habitus den "neuen Gegebenheiten" anpassen sollen? Angesichts der von Meier ausführlich dargelegten staatlichen Eingriffe in ihre Autonomie, Grundherrschaft und Privilegierung ist vor einem Modernisierungsgedanken zu warnen, der allen Kräften, die sich diesem "Fortschritt" entgegenstellten, die Fähigkeit, sich den "Zeichen der Zeit" anzupassen, abspricht.
Trotz oder vielleicht sogar wegen der aufgeführten Fragen, deren Beantwortung sicher erst die weitere intensive Beschäftigung mit den "Kanonissen" allgemein erbringen wird, wie man fairerweise zugeben muss, gelingt es Meier in eindrücklicher Weise, die Geschichte Olsbergs als Spiegelbild der politischen und gesellschaftlichen Wandlungsvorgänge darzustellen und auf diesem Weg auch eine Geschichte der "petite noblesse de province" zu zeichnen. Und durch ihre innovative Annäherung an das historische Phänomen "Kanonissen" verleiht sie der Forschung wichtige und vor allem anregende Impulse.
Redaktionelle Betreuung: Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Oliver Auge: Rezension von: Marietta Meier: Standesbewusste Stiftsdamen. Stand, Familie und Geschlecht im adligen Damenstift Olsberg 1780-1810, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1999, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=145>
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