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Werner Rösener (Hg.): Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (= Formen der Erinnerung; Bd. 8), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, 228 S., 27 Abb., ISBN 3-525-35427-4, DM 64,00

Rezensiert von:
Susanne Rau
Institut für Geschichte, Technische Universität, Dresden

Die Vorträge eines Kolloquiums, das am 19. und 20. November 1998 an der Universität Gießen im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 434 veranstaltet wurde, liegen nun in einem Sammelband mit dem Titel "Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit" vor. Der Band vereinigt 11 Beiträge, die zum Teil Ergebnisse der Teilprojekte des SFBs darstellen, aber auch von externen Referenten stammen; er wird eingeleitet von dem Herausgeber Werner Rösener und schließt mit den Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren des Bandes. Die derzeitige geschichts- und kulturwissenschaftliche Produktion zur Erinnerungskultur hat Tzvetan Todorov schon vor ein paar Jahren dazu veranlasst, von einem regelrechten Kult der Erinnerungskultur und einem Mißbrauch des Gedächtnisses ("Les abus de la mémoire") zu reden. Modeströmungen gibt es auch in der Geschichtswissenschaft immer wieder, doch wird ein Zuviel an Erinnerung innerhalb der sogenannten Erinnerungskultur dann prekär, wenn nicht der komplementäre Aspekt des Vergessens mitreflektiert wird oder die Beschäftigung mit der Vergangenheit gar zu einer Abkehr von Gegenwart und Zukunft führt. Auf Friedrich Nietzsches Kritik am Historismus in den zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtungen" mag in diesem Kontext kurz verwiesen sein. Wie viele andere historische Beiträge zur Erinnerungskultur zeigt auch der vorliegende Sammelband, dass "Memoria" im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit keineswegs auf den vergangenen Aspekt der Zeit beschränkt war. Der gewählte Zeitrahmen der Beiträge, der vom 12. bis ins 18. Jahrhundert reicht, ist sowohl angesichts der Forschungslage des Themas als auch in Bezug auf den Bedeutungsgehalt des Begriffs der kulturellen Erinnerung durchaus sinnvoll.

Der einleitende Aufsatz des Herausgebers (9-20) skizziert kurz die Forschungslage zur Erinnerungskultur von Adel und Stadt. Während die früh- und hochmittelalterliche Memorialkultur sich seit rund 20 Jahren einer regen Forschung erfreue, sei der spätmittelalterliche Adel und seine Kultur, insbesondere die kleineren Dynastien, weniger gut erforscht. Auch die Erinnerungskultur der Stadt sei bislang kein zentrales Thema der Stadtgeschichtsforschung gewesen. Dabei klingt es allzu reduktionistisch, wenn als Beweis für das angebliche Desiderat nur auf die Arbeiten von H. Schmidt, J. Schneider und K. Graf (14) verwiesen wird. Es gibt nicht nur weitere ältere Arbeiten zur Stadtchronistik, sondern auch neuere Dissertationen (zum Beispiel von Peter Wolf oder Heiko Droste) oder Aufsätze, auf die hingewiesen hätte werden können. Rolf Sprandels Aufsatz über die Stadt-Land-Beziehungen (21-33) hat ebenfalls einleitenden Charakter, insofern er die Forschungslage zu den Beziehungen von Städten zu ihrem Umland als auch die der Beziehungen zwischen Bürgertum und Adel vorstellt. Dies sind zwei durchaus verschiedene Gegenüberstellungen. Es wird unterschieden zwischen kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Stadt und Land. Beziehungen zwischen Bürgertum und Adel können sich in gemeinsamen Turnieren äußern, im Heiratsverhalten oder in der Literatur. Die Ambivalenz zeigt sich aber in fortschreitenden Fehden sowie in den Spannungen zwischen den städtischen Ober- und Mittelschichten, die sich nicht selten aus der Orientierung der Patrizier am Adel ergeben konnten. Dem hier formulierten Anspruch, die Wechselwirkungen zwischen Adel und Bürgertum auf der Ebene der Erinnerungskultur zu untersuchen, wird der Band leider nicht ganz gerecht, da die Mehrzahl der Beiträge den reinen Zugang über die adlige Erinnerungskultur gewählt hat.

Die Beiträge zur Erinnerungskultur des Adels und der Stadt sind weitestgehend chronologisch angeordnet. Werner Rösener analysiert die Entstehung und Funktion des Codex Falkensteinensis (35-55, 9 Abbildungen). Die Besonderheit des Codex liegt darin, dass es das früheste erhaltene Traditionsbuch eines hochmittelalterlichen weltlichen Adelsgeschlechts ist. Der Autor interpretiert es als Zeugnis adeliger Erinnerungskultur, mit dem sowohl - gemessen an den Einträgen zu Geschlecht, Herrschaftsgütern und Burgen - Familienerbe und Herrschaft abgesichert als auch das Gedächtnis der Eltern durch die Söhne (!) fortgesetzt werden sollte.

Sönke Jaeks Beitrag beschäftigt sich mit einem speziellen Aspekt der höfisch-ritterlichen Erinnerung in der Dichtkunst, nämlich mit der Rolle des Schwerts im Rolandslied und in dessen mittelhochdeutscher Übertragung durch den Pfaffen Konrad am Regensburger Hof (57-78). Schwerter tragen in der Epik individuelle Namen und haben nicht selten einen göttlichen Auftrag zu erfüllen. So identifizieren andererseits die Schwerter ihre Helden (Durendal/ Roland), deren Ruf an den des Schwerts gekoppelt ist. Das Schwert bzw. die Geschichte oder der Ruhm des Schwerts ist für Jaek daher auch ein Medium der Traditionsbildung und mitunter - besonders auf bildlichen Darstellungen - ein Medium der Herrschaftsrepräsentation. Dass die Traditionsbildung durch das Schwert der "Selbstverortung des Individuums" (75) dient, ist in diesem Kontext vielleicht etwas neuzeitlich gedacht.

Der Frage nach der schriftlichen Hinterlassenschaft der niederadeligen Herren von Eyb als Konstruktion einer ritterschaftlichen Identität im 15. Jahrhundert geht Steffen Krieb nach (79-96). Näher betrachtet werden das "Gedenkbuch" und die "Denkwürdigkeiten" des Ritters Ludwig von Eyb sowie das "Turnierbuch" von dessen gleichnamigem Sohn. Alle drei Bücher sind Anfänge einer ritterschaftlichen "Selbstvergewisserung", die im weiteren Rahmen der Einungsbewegung des fränkischen Niederadels virulent werde. Die Einträge in die Bücher werden als Wertschätzung der Schriftlichkeit sowohl im herrschaftlich-ökonomischen Bereich als auch generell als Erinnerungsmedium gedeutet. Bei der Verwendung von Begriffen wie kollektives Gedächtnis oder kollektive Identität (80, 96) könnte es allerdings nicht schaden, auch einmal die Frage nach (der Möglichkeit) der Rezeption zu stellen.

Karl-Heinz Spieß untersucht die liturgische Memoria und ihre Verbindung zur Herrschaftsrepräsentation am Beispiel südwestdeutscher Grafengeschlechter und schließt somit eine Lücke innerhalb der Memorialforschung, die den nichtfürstlichen spätmittelalterlichen Hochadel bislang außer acht gelassen hat (97-123). Festzuhalten ist auch für die untersuchten Grafen und Herren eine breite Streuung der Legate an geistliche Institutionen. Ein Befund der Untersuchung ist, dass die liturgische Memoria auch bei spätmittelalterlichen Grafengeschlechtern eng mit Herrschaftsrepräsentation verbunden war, wenngleich einige Spezifika festzuhalten sind. So scheint es dem Hausbewusstsein an "historischer Tiefe" zu fehlen, wenn etwa die Anniversarstiftungen höchstens auf die Eltern des Stifters verweisen; zugleich verlagert sich die Hausgrablege auf die Stiftskirchen. Dadurch aber wird die Bedeutung der familieninternen, generationenübergreifenden Grablege relativiert.

Dieser breit angelegten Untersuchung folgt eine Studie über eine Ausdrucksform spätmittelalterlicher Sepukralkultur aus primär kunsthistorischer Sicht von Carola Fey (125-143, 18 Abbildungen). Im Mittelpunkt stehen die Grabdenkmäler der Grafen von Solms, von Hanau und von Wertheim. Das Hochgrab war lange Zeit das Grabdenkmal des Hochadels; im 14. Jahrhundert trat erstmals das Wanddenkmal auf, dessen Form sich dann im Laufe des 15. Jahrhunderts ausdifferenzierte, und das persönlichere Gestaltungsinteressen aufwies. Zu klären bleibt allerdings noch, welche Bedingungen und Umstände zum Auftreten dieser neuen Form führten.

Mit dem Beitrag von Thomas Zotz (145-161) wendet sich der Sammelband am Beispiel des Stadtadels im spätmittelalterlichen Nürnberg erstmals einem Aspekt städtischer Erinnerungskultur zu. Ausgewählter Untersuchungsgegenstand ist das Familienbuch des Nürnberger Patriziers Ulman Stromer. Die Inhaltsanalyse zeigt ein Nebeneinander von Familien- und Stadtgeschichte. Durch den Aufweis ritterlich-adeliger Herkunft und eine lange Liste verstorbener ehrbarer Nürnberger ist es ein Medium adeliger Standeslegitimation und ein Zeugnis stadtadeliger Erinnerungskultur.

Benedikt Mauer widmet sich einer anderen bedeutenden Reichsstadt. Ihm geht es um das erinnerte Selbstverständnis des Augsburger Patriziats, innerhalb dessen er den Fuggern - gewissermaßen als "Neureiche" - eine Sonderrolle zuweist (163-176). Diese Familie führte sich im 16. Jahrhundert nicht auf eine hochmittelalterliche Vergangenheit zurück, nahm nicht an Turnieren teil, entwickelte dafür aber eine Festkultur, mit der vielleicht der Komplex ihres nicht-uralten Herkommens kompensiert werden sollte. Das Patriziat (zum Beispiel die Rehlinger, Ilsung oder Welser) leitete sich dagegen nicht selten von antiken Wurzeln ab oder rekurrierte auf die Frühgeschichte der Familie auf dem Land (und stellte sich damit neben die landsässigen Adelsgeschlechter). Ausdruck von Standesbewusstsein waren neben der Konstruktion von Genealogien auch in Augsburg die Turniere und Ritterspiele.

Ein weiterer Fall patrizischer Erinnerungskultur wird von Stephanie Dzeja mit der den Rat dominierenden und sich immer mehr nach unten abgrenzenden Frankfurter Geschlechtergesellschaft Alt-Limpurg vorgestellt (177-190). Im Anschluss an den etwas knapp skizzierten Fettmilch-Aufstand von 1612-1616 verfasste der mittlerweile in Wetzlar lebende Johann Friedrich Faust von Aschaffenburg eine "Geschlechter-Chronica", in der er das Selbstverständnis der Frankfurter Patrizier (Orientierung am Landadel, Träger der Reichsstandschaft) sowie deren Herrschaftsanspruch innerhalb der Stadt formulierte. Dieses wird in der "Chronica" durch Wappen und Schilde, einige Reimverse über den Ursprung der Gesellschaft sowie eine Beschreibung der einzelnen Mitgliederfamilien geleistet. Angeboten hätte sich gerade in diesem Kontext eine Gegenüberstellung mit der Chronik des Peter Müller, um auch Aspekte der stadtbürgerlichen Erinnerungskultur in den Blick zu bekommen.

Feindbilder und Konflikte zwischen städtischem Bürgertum und landsässigem Adel werden in dem Beitrag von Klaus Graf thematisiert, der dafür teilweise auf frühere Aufsätze zurückgreifen konnte (191-204). Als Kalten Krieg (mit Blockdenken, festem Feindbild, Aufrüstung und Eskalation) beschreibt er die Begegnung von Reichsstädten und Adel, die vor allem in Chroniken und städtischen Korrespondenzen nach dem sogenannten Städtekrieg von 1449/50, aber auch noch in der literarischen Verarbeitung des fränkischen Ritters Ulrich von Hutten greifbar ist. Zeitgenössisches Erinnerungsmedium von Fürstenangst und Adelshass waren auch die Schlachtengedenktage, von denen bisher ca. 60 nachgewiesen werden konnten. Die städtische Seite dominiert eindeutig in der Erinnerung an die Fehde, doch liegt es nahe anzunehmen, dass der städtefeindliche Diskurs der Adligen auch und zunächst in mündlicher Weise stattfand. Die gleichsam der politischen Mentalitätsgeschichte zuzuordnende Untersuchung zeigt, dass auch die "diskursive" Beziehung zwischen Stadt und Adel stark aufeinander bezogen war.

Bis ins 18. Jahrhundert reicht die Beschäftigung von Thomas Fuchs mit den Traditionsbildungsversuchen der hessischen Landgrafen (205-226). Durch Genealogien (würdiges Alter, Herleitung von Karl dem Großen) und Geschichtswerke versuchten die Herrschaftseliten die Vorrangstellung innerhalb der Adelsgesellschaft und Herrschaftsansprüche abzusichern, wobei sich das Konkurrenzverhältnis zwischen Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt auch auf der Ebene dieser fürstlichen Erinnerungen niederschlug. Etwas problematisch ist die Operationalisierung des Gedächtnis- oder vielmehr Wissensbegriffs der Aufklärung für die adlige Erinnerungspolitik der Frühen Neuzeit. Denn in der erstmals von Bacon vorgenommenen Teilung des menschlichen Wissens in Gedächtnis, Vernunft und Einbildungskraft hat Jean d'Alembert den Akzent eindeutig auf die Vernunft gesetzt und das Gedächtnis von der Einbildungskraft scharf abgegrenzt. Der Beitrag schließt mit dem Übergang in das neue "Paradigma" (so Fuchs nach Thomas Kuhn) der Frühaufklärung, durch die die "genealogischen Imaginationen" (220) immer unglaubwürdiger wurden; im Zuge der Herausbildung von Staatlichkeit erlitten die dynastischen Genealogien zudem einen Bedeutungsverlust, der durch die "Verbürgerlichung" der historiographischen Memoria verstärkt wurde.

Insgesamt handelt sich um einen Sammelband, der in seinen Einzelbefunden viel Neues bringt, der aber die Beziehungen zwischen städtischer und adeliger Erinnerungskultur im Ganzen wie auch in manchem Einzelbeitrag stärker hätte betonen müssen. Zudem bleibt die profane Erinnerungskultur, die es neben der liturgischen Memoria durchaus auch gegeben hat, vor allem für das hohe und späte Mittelalter weiterhin ein dringendes Desiderat.

Redaktionelle Betreuung: Gudrun Gersmann

Empfohlene Zitierweise:

Susanne Rau: Rezension von: Werner Rösener (Hg.): Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=150>

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