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Mathias Schmoeckel: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter (= Norm und Struktur; Bd. 14), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2000, XI + 668 S., ISBN 3-412-09799-3, DM 128,00

Rezensiert von:
Peter Oestmann
Institut für Rechtsgeschichte, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/M.

Mathias Schmoeckel setzt sich in seiner Münchener rechtshistorischen Habilitationsschrift ein doppeltes Ziel, das er im Untertitel seiner großangelegten Untersuchung klar benennt: Zum einen geht es um die europäische Bewegung zur Abschaffung der Folter im 18. Jahrhundert, zum anderen um die Formierung und Umwandlung des Beweisrechts des Ius Commune. Die Klammer, mit der der Verfasser diese beiden auf den ersten Blick verschiedenen Fragen verknüpft, ist zum einen die Erkenntnis, dass ein Strafprozess ohne Folter ein geändertes Beweisverfahren voraussetzt, zum anderen die Annahme, die Einführung des modernen Strafprozessrechts um 1800 sei einer der radikalsten historischen Brüche überhaupt gewesen (2, 293). Die notwendige Einengung dieses weiten Themenfeldes erreicht Schmoeckel dadurch, dass er die Prozesspraxis aus seinen Überlegungen bewusst ausblendet und sich statt dessen einer strafrechtshistorischen Dogmengeschichte verschreibt. Der Autor meint sogar, Unterschiede zwischen Theorie und Praxis könnten ohnehin nur dann gesehen werden, wenn zunächst die Theorie bekannt sei. Nach Schmoeckels Konzept muss die Dogmengeschichte den Forschungen zur Rechtspraxis zeitlich vorausgehen, eine Annahme, die viele Vertreter der historischen Kriminalitätsforschung sicherlich nicht teilen werden.

Um aber keine reine Wissenschaftsgeschichte schreiben zu müssen, rahmt Schmoeckel seine Arbeit mit dem berühmtesten zeitgenössischen Beispielsfall ein, nämlich der Abschaffung der Folter in Preußen unter Friedrich dem Großen. Er diskutiert die bekannte Kabinettsorder vom 3. Juni 1740 sowie weitere preußische Quellen ausführlich und lenkt dann den Blick auf andere europäische Staaten. Diese Zusammenschau ermöglicht es, die Fragestellung noch weiter zu präzisieren und "Diskussionsstränge zur Abschaffung der Folter" von der Antike bis ins 18. Jahrhundert herauszuschälen. Die bekannten Aufklärungsphilosophen Montesquieu, Beccaria und Voltaire geraten auf diese Weise in die bisher eher ungewohnte Rolle als Epigonen (178-186), während der Erasmus-Schüler Juan Luis Vives (1493-1540) als frühester grundsätzlicher Foltergegner entdeckt wird. Eine zentrale Funktion schreibt Schmoeckel auch dem französischen Frühaufklärer Pierre Bayle (1647-1706) zu, dessen Werk Friedrich den Großen nachhaltig prägte und der damit einer der geistigen Väter des vom preußischen König verfügten Folterverbots zu sein scheint (177).

Im nächsten Hauptteil der Arbeit, der fast die Hälfte des gesamten Buches umfasst, untersucht Schmoeckel die Grundlagen des gemeinen Beweisrechts. Hier wird die Ausgangsfrage nach der Abschaffung der Folter weitgehend verlassen und auf der Basis des mittelalterlichen gesetzlichen Beweisrechts zunächst dargelegt, weshalb die Folter im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess ohne freie Beweiswürdigung überhaupt als notwendig empfunden wurde. Hierbei zeigt sich, dass die richterliche Entscheidungsfreiheit durch das arbitrium iudicis, die absolutio ab instantia und die Möglichkeit, Verdachtsstrafen auszusprechen, wohl doch größer war, als häufig unterstellt wird. Der gemeinrechtliche Strafprozess war damit zwar in gewissen Bereichen beweglich, nahm die von der Naturrechtslehre formulierten Prozessmaximen aber dennoch nur zögerlich auf. Die Krise des Beweisrechts im 18. Jahrhundert führt Schmoeckel daher auch nicht auf innerjuristische Kritik zurück, sondern hält sie für ein Anzeichen eines allgemeinen Mentalitätswandels. Die Folter galt zunehmend als grausam und ekelerregend, insbesondere die Zeugenfolter wurde weithin als überzogen betrachtet (495-506). Schmoeckel führt die Abscheu vor der Folter bis auf Michel de Montaigne (1553-1592) zurück und sieht in dem späten Sieg seiner Ideen sogar einen "der erfolgreichsten und umfassendsten Rezeptionsvorgänge der Rechtsgeschichte" (572-573). Unter den außerjuristischen Gegnern der Folter stellt Schmoeckel eine auffällige Dominanz von Kalvinisten fest. Er kann diesen Befund zwar nicht eindeutig interpretieren, sieht sich aber in seiner Forderung bestärkt, dass die Rechtsgeschichte sich theologischen und kirchengeschichtlichen Fragestellungen öffnen müsse, um die Ideen- und Dogmengeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit besser zu verstehen.

Schmoeckels Buch imponiert aufgrund seiner unglaublichen Materialfülle. Die französische und italienische Literatur konnte der Autor dank zweier Forschungsaufenthalte in Paris und Catania umfassend auswerten. Durch diese Ausweitung des geographischen Rahmens bekennt sich Schmoeckel eindeutig zu einer Europäisierung der Rechtsgeschichte. Angesichts des Diskussionszusammenhangs der europäischen Gemeinrechtswissenschaft ist dieser Ansatz für wissenschafts- und dogmengeschichtliche Arbeiten nicht nur erfolgversprechend, sondern vermutlich sogar notwendig, um keine nationalen Unterschiede in Epochen zu projizieren, in denen Staatsgrenzen keine Wissenschaftsgrenzen waren. Aufgrund dieses umfassenden Anspruchs wirkt Schmoeckels Untersuchung streckenweise weniger wie eine Monographie denn wie ein Handbuch des gemeinen Strafprozessrechts. Aufgrund des sorgfältigen Registers lässt es sich durchaus als Nachschlagewerk benutzen. Die Ausdehnung der Fragestellung auf ein großes Untersuchungsgebiet und einen mehrhundertjährigen Zeitraum fordert aber ihren Preis. Mehrfach beschränkt sich die Arbeit auf eine umfassende Wiedergabe des Forschungsstands wie etwa im Falle Friedrich Spees. Die Rezeptionsgeschichte seiner Cautio Criminalis hätte man im Hinblick auf die zeitgenössischen Übersetzungen sowie angesichts der neueren Arbeiten von Gunther Franz und Rainer Decker erheblich genauer darstellen können. Sehr überzeugend ist dagegen die ausführliche Behandlung des kanonischen Rechts. Dessen Bedeutung für die Herausbildung des gemeinen Strafprozesses kann gar nicht klar genug hervorgehoben werden, so dass Schmoeckels Untersuchung zugleich einen wichtigen Appell für eine Annäherung von Strafrechtsgeschichte und Kanonistik darstellt.

Lästig sind zahlreiche Satzwiederholungen und grammatische Unsicherheiten, die auf eine zu flüchtige Schlussredaktion schließen lassen, sowie die Liebe des Autors für eigenwillige Sprachantiquitäten (Chicane, Manoeuver, odiös). In sachlicher Hinsicht könnte man streiten, ob die Carolina 1836/44 wirklich noch als geltendes Recht angesehen wurde (367) und ob man die Folter in ihren Funktionen als Strafart und Beweiserzwingungsmittel nicht schärfer trennen sollte. Problematisch erscheint auch die oft blanketthafte Verwendung des Ius Commune-Schlagworts. Angesichts der von Wiegand, Luig und anderen betonten Biegsamkeit dieses Begriffs sollte man mit seiner Verwendung nicht zu großzügig sein. Wenn das von Friedrich dem Großen "praktizierte Strafprozeßrecht (...) auf den Konzeptionen des Ius Commune" beruhte", besagt das nicht viel (90). Auch bleibt unklar, in welchem Verhältnis die gemeinrechtliche Literatur zur Gerichtspraxis stand (13-17, 352). Methodisch fragwürdig sind zum einen die Vorliebe des Autors für Entwicklungslogik (438) und historische Kausalketten, oftmals verknüpft mit irrationaler Sprache (138: Die Saat ging auf). Zum anderen beschränkt sich Schmoeckel keineswegs auf die reine Dogmengeschichte, sondern lenkt mehrfach den Blick auf die Prozesspraxis, die er aber nicht selbst erforscht hat. Es ist damit teilweise schwierig zu entscheiden, ob sich die vom Autor erzielten Ergebnisse auf die gelehrte Diskussion, auf die Rechtslage oder auf die Gerichtspraxis beziehen sollen. Die Abschaffung der Folter, die im Titel der Arbeit auftaucht, ist ein dreidimensionaler Begriff, und die Diskussion in den drei Bereichen Wissenschaft, Gesetzgebung und Gerichtswesen muss keineswegs gleichzeitig verlaufen sein.

Trotz dieser Fragen kommt Schmoeckels Arbeit das große Verdienst zu, im Gegensatz zu der weitverbreiteten Kriminalitäts- und Devianzforschung nachdrücklich auf die Kompetenz der Rechtshistoriker zur Rekonstruktion der juristischen Dogmengeschichte hingewiesen zu haben. Als verkapptes Lehrbuch des gemeinen Strafprozesses ist das Werk im deutschen Sprachraum ohnehin konkurrenzlos und wird für lange Zeit unverzichtbar bleiben.

Redaktionelle Betreuung: Gudrun Gersmann

Empfohlene Zitierweise:

Peter Oestmann: Rezension von: Mathias Schmoeckel: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=154>

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