Heide Wunder / Christina Vanja / Karl-Hermann Wegner (Hg.): Kassel im 18. Jahrhundert. Residenz und Stadt, Kassel: Euregio 2000, 384 S., ISBN 3-933617-05-7, DM 59,80
Rezensiert von:
Annett Volmer
Forschungszentrum Europäische Aufklärung, Potsdam
Kassel hat im Zweiten Weltkrieg von seiner architektonischen Schönheit viel eingebüßt. Der Wiederaufbau verschlang weitere prächtige Paläste und Wohnhäuser des 18. Jahrhunderts. Wie schwer sich die Stadt mit ihrer (Bau-)Geschichte bis heute müht, zeigt auch die erst vor wenigen Wochen erfolgte Wiedereröffnung des "Marmorbades", das zwischen 1720 und 1728 unter dem Landgrafen Karl errichtet worden war. Im Krieg nur beschädigt, aber aufgrund seines desolaten Zustandes Anfang der achtziger Jahre geschlossen, schleppte sich die Restauration nahezu fünfzehn Jahre hin. Auch die Restauration der geistigen Geschichte Kassels im 18. Jahrhundert, zweifelsohne eine der Blütezeiten der Stadt, ist seit langem eine Forschungslücke.
In diesem Kontext kann sich der zu besprechende Sammelband eines interessierten Wohlwollens grundsätzlich gewiss sein. Verschiedene Aspekte der Stadtgeschichte und damit verbunden des landgräflichen Hofes und der Region Hessen bedürfen näherer Betrachtung und Erforschung. Eine disziplinäre Vielfalt zu diesem Zweck zu versammeln ist daher sinnvoll und wünschenswert. Ohnehin waren die Kunsthistoriker bislang führend. Ihr Betätigungsfeld war und ist groß: Ob nun die Parkanlagen von Wilhelmshöhe, die unter Karl entstanden, die Gemäldesammlung Wilhelms VIII. oder das Antikenkabinett Friedrichs II. - ganz zu schweigen vom Museum Fridericianum -, Kassel ist ein Ort, in dem sich absolutistisches Selbstverständnis und Kunstförderung in zahlreichen zu erforschenden kunsthistorischen Kleinoden verbanden. Auch im vorliegenden Band lassen sich die Kunsthistoriker daher den führenden Rang nicht streitig machen.
Die siebzehn Beiträge sind in vier thematische Blöcke gegliedert: "Kassels 'sehenswürdige Sachen'" - behandelt die Reisekultur, die Privatbibliotheken, die Gemäldegalerie, die Antikensammlung und die Institutionen aufgeklärter Wohlfahrt. Die Beiträge zur "Stadtgestalt und Stadtgestaltung" setzen sich mit dem Stadtbild Kassels auseinander, dem landgräflichen Schloss und der Garnison. Die "Begegnungen: Bürger, Beamte, Hofleute" umfassen Beiträge zum Lehrangebot am Collegium Carolinum, zur Kunstakademie und zu den Freimaurerlogen. Der letzte Block unter dem Titel "Arbeits- und Lebenswelten" befasst sich mit Fremden in Kassel, mit dem Manufakturwesen, dem Gesinde und der Hofgesellschaft sowie den Staatsdienern.
Der Artikel von Ortrud Wörner-Heil umreißt eindrucksvoll die Kasseler Aufklärungsgesellschaft und die integrative wie auch sozial gemeinschaftsbildende Funktion der Logen. Am Kasseler Beispiel arbeitet sie die Notwendigkeit des Zusammenlebens von Garnison und Bürgerschaft, insbesondere von Militär und Gelehrten in einer aufgeklärt-absolutistischen Residenz heraus.
Aufschlussreich und instruktiv sind vor allem die Beiträge zu sozialen Schichten, die oft nicht im Brennpunkt historischen Interesses stehen: Gesinde, Domestiken, Bedürftige, Hofangestellte. Mit letztgenannten beschäftigt sich Annette von Stieglitz. Sie untersucht in einem luziden Artikel die Struktur des landgräflichen Hofes und entwirft eine Typologie des Kasseler Hofadels. Herkunft, familiäre Verflechtungen und Karrieren werden anhand biographischer Einzelfälle verfolgt. Damit bilden einflussreiche, aber bisher kaum erforschte Persönlichkeiten, wie Friedrich Wilhelm von Veltheim oder Julius Jürgen von Wittorf einen Interessenschwerpunkt. Die Verfasserin beschränkt sich jedoch nicht ausschließlich auf die Reproduktion von Lebenswegen, ihr Verdienst besteht darin, die Biographien in den größeren Funktionszusammenhang des Hofes einzuordnen und Schlussfolgerungen abzuleiten. Geduld war daher die oberste Tugend, die der ambitionierte Staatsdiener mitzubringen hatte. Quereinsteiger von außen oder von fremden Höfen in höhere Positionen gab es nicht. Stufe für Stufe vom Kammerherrn über den Ober-Schenk bis zum Hof-Marschall und Ober-Hof-Marschall galt es auf der Karriereleiter zu erklimmen. Intelligenz, Bildung, Geschick und Durchsetzungsvermögen im Umgang mit Menschen waren unabdingbare Voraussetzungen, aber auch die familiäre Situation des Bewerbers spielte eine Rolle. Nur vier der achtzehn Personen, die zwischen 1760 und 1806 die höchsten Stellen bei Hofe besetzten, gehörten der althessischen Ritterschaft an. Für die Amtsinhaber war es von Nachteil, wenn sie ihre hohen Positionen dazu nutzten, Familienmitglieder mit Ämtern zu versorgen.
Mit dem Gesindemarkt in Kassel beschäftigt sich Susanne Schmidt. Sie wertet die Casselische Policey- und Commercien-Zeitung aus und kann auf eine gut dokumentierte Quelle aus dem Haushalt des Kammerpräsidenten Johann Caspar von Dörnberg zurückgreifen. Die Einzelfälle stehen nicht für sich, sondern werden im größeren Zusammenhang gelesen. Das Verhältnis von Gesinde und Dienstherrschaft war letztlich ein Indikator für die Qualität der öffentlichen Ordnung. In Hessen-Kassel lässt sich im 18. Jahrhundert eine wachsende Zahl gesinderechtlicher Bestimmungen feststellen, die die Rechte und Pflichten von Dienstherren und Gesinde normierte. Zwar bezweckten diese Erlasse in erster Linie eine Stärkung der Stellung des Dienstherren, doch auch das Gesinde gewann eine größere Rechtssicherheit wie einklagbaren Anspruch auf Lohn und Kost.
Die Herausgeber legten - so liest man im Vorwort - den Akzent auf die Sozialgeschichte Kassels. Residenz und Bürgerschaft sollten gleichermaßen als Gegenstand erforscht werden. Kassel als Residenzstadt findet Berücksichtigung, die Bürgerschaft jedoch nicht. Heide Wunder bedauert in der Einleitung, dass einige Forschungsdesiderata, wie Beiträge zur Bürgerschaft, zu Kirchen und Friedhöfen, zur Musik- und Festkultur oder zur Kriminalität, nicht beseitigt werden konnten. Somit wird bereits auf den ersten Seiten der Anspruch des Buches erheblich modifiziert. Das kunsthistorische Einmaleins Kassels, die ohnehin traditionsreichen Themen kommen wieder zum Zuge: Schloss, Gemäldegalerie, Antike, Kunstakademie. Doch auch hier wäre noch tiefer zu schürfen. Kassel ist bislang ein - und der Band wehrt sich zu wenig dagegen - Hort des Anekdotenhaften. Altbekannte Äußerungen bekannter und weniger bekannter, zumeist durchreisender Gelehrter sind nicht dazu angelegt, die Kasseler Stadtgeschichte im 18. Jahrhundert aufzuarbeiten.
Liest man den Band mit qualitativ sehr unterschiedlichen Beiträgen, so stellt sich die Frage, warum hier wieder einmal mit der heißen Nadel gestrickt wurde. Vergebens sucht man nach dem zeitlichen Anlass, der zur Eile trieb, auch das zwanzigjährige Jubiläum jener großen Ausstellung von 1979 über "Aufklärung und Klassizismus" kann nur die Einbettung in eine leider wenig kontinuierliche Tradition garantieren. So fällt das Fazit auch in diesem Sinne aus: Der Band bietet eine aufschlußreiche Zusammenschau der Forschung zur Stadtgeschichte Kassels, übrigens begleitet von einer gelungenen Illustration. Die präsentierten Forschungsergebnisse sind jedoch keineswegs - wie anfänglich gepriesen - als "neueste" zu bezeichnen Die Bereicherung um wirklich neue Erkenntnisse bleibt für die "insider" der hessischen Landesgeschichte enttäuschend gering. Zahlreiche Themen bedürfen immer noch einer intensiven Erforschung, ob das nun die Sozietätenlandschaft Hessen-Kassels ist, die Professorenschicht des Carolinums oder die Einbindung Kassels in die europäische Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts.
Redaktionelle Betreuung: Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Annett Volmer: Rezension von: Heide Wunder / Christina Vanja / Karl-Hermann Wegner (Hg.): Kassel im 18. Jahrhundert. Residenz und Stadt, Kassel: Euregio 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=156>
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