Malte-Ludolf Babin / Reinhard Finster / Gerd van den Heuvel (Bearb.): Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Erste Reihe: Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, Bd. 16: Oktober 1698 - April 1699, Berlin: Akademie 2000, LI + 892 S., ISBN 3-05-003255-3, DM 490,00
Rezensiert von:
Matthias Schnettger
Institut für Europäische Geschichte, Mainz
Die Edition der Leibniz-Schriften und -Briefe hat, nicht zuletzt in ihrer ersten Reihe, dem allgemeinen politischen und historischen Briefwechsel, in den letzten Jahren wieder an Fahrt gewonnen. Nach 1998 ist auch 2000 ein Band erschienen, und für etwa 2001 ist das Erscheinen von Band 17 avisiert. Damit braucht die Leibniz-Edition den Vergleich mit anderen entsprechenden Großprojekten nicht zu scheuen. Ein Rezensent mag zwar gemischte Gefühle hegen, wenn er, in einer Zeit knapper werdender Ressourcen, sieht, dass in dem zu besprechenden Band auf beinahe 950 Seiten ein Zeitraum von nur sieben Monaten behandelt wird, angesichts der hohen wissenschaftlichen Dignität der Edition verstummen solche Bedenken jedoch rasch. Handelt es sich doch bei Leibniz' Briefwechsel um ein Quellencorpus von kaum zu übertreffender Bedeutung nicht nur für die Biographie dieses in vieler Hinsicht exzeptionellen Gelehrten, sondern auch für die allgemeine deutsche und europäische Geschichte. Diese Einsicht erschließt sich dem Benutzer rasch, wenn er sich einen Überblick über die Themenvielfalt verschafft, die von den insgesamt 475, im wesentlichen in deutscher, französischer oder lateinischer Sprache verfassten Stücken, von denen immerhin 317 bislang nur handschriftlich und weitere 49 lediglich als Teildruck bzw. Regest vorlagen (XXIX), abgedeckt wird.
Naturgemäß nehmen die Angelegenheiten des Hauses Braunschweig-Lüneburg, in dessen Diensten Leibniz stand, breiten Raum in der Edition ein: 93 der abgedruckten Stücke, die in einer ersten Abteilung zusammengefasst sind, entstammen der Korrespondenz mit Angehörigen des Welfenhauses bzw. dessen Ministern und Bediensteten (unter die etwa der Konsistorialrat und Abt von Loccum Gerhard Wolter Molanus ebenso wenig gezählt wird wie der Hofpoet, Opernlibrettist und zeitweilige Sekretär der Kurfürstin Sophie Bartolomeo Ortensio Mauro). 379 zwischen Leibniz und seinen übrigen Korrespondenzpartnern gewechselte Schriften bilden die zweite Abteilung ("Allgemeiner und gelehrter Briefwechsel"). In einem Anhang sind ferner zwei Stücke Dritter, ein Schreiben Friedrich Fellers an Herzog Rudolf August von Braunschweig-Wolfenbüttel und eines von Paul Pezron an Claude Nicaise, abgedruckt.
Beeindruckend ist, wie gesagt, die Vielfalt der behandelten Themen, deren Schwergewicht je nach Korrespondenzpartner unterschiedlich ist. So spielen etwa in dem Briefwechsel mit den Angehörigen des Welfenhauses (vor allem Kurfürst Georg Ludwig, Kurfürstin Sophie, Herzog Anton Ulrich und Herzog Rudolf August) und dessen Bediensteten die von Leibniz zu verfassende Geschichte des Welfenhauses, aber auch aktuelle Themen der braunschweig-lüneburgischen Hauspolitik, wie etwa die Verehelichung der Prinzessin Wilhelmine Amalie mit dem Römischen König Joseph eine wichtige Rolle. In diesen Kontext gehört im weiteren Sinne auch die die Universität Helmstedt und die Wolfenbütteler Biblioteca Augusta betreffende Korrespondenz. Einen besonderen Stellenwert innerhalb der Edition nimmt die Frage einer Annäherung der christlichen Konfessionen ein, und zwar sowohl was die katholisch-protestantische als auch die lutherisch-calvinistische Komponente dieser Thematik betrifft. Wichtige Korrespondenzpartner in diesem Zusammenhang waren, neben Molanus und den Helmstedter Theologen Johann Fabricius und Johann Andreas Schmidt, auf katholischer Seite der Bischof von Wiener Neustadt Franz Anton von Buchheim (allerdings mehr als Amtsnachfolger Royas y Spinolas denn aufgrund eigener Qualifikationen) und der Bischof von Meaux Jacques-Bénigne Bossuet, auf reformierter Seite vor allem der Berliner Hofprediger Daniel Ernst Jablonski. Leibniz nahm aber auch regen Anteil an den großen tagespolitischen Themen wie der spanischen Erbfolgefrage, dem Frieden von Karlowitz (es wird die ungebräuchliche Namensform Karlowatz verwendet) und den Spannungen im Ostseeraum im Vorfeld des Großen Nordischen Krieges. Die Tatsache, dass auch sprachwissenschaftliche, philosophische und mathematische sowie naturwissenschaftliche Gegenstände berührt werden, führt nicht nur ein weiteres Mal vor Augen, wie weit der geistige Horizont Leibniz' als eines der letzten großen Universalgelehrten war, sondern zeigt auch die Schwierigkeiten, bei einer Quellenedition wie dieser genaue Abgrenzungen vorzunehmen; sind doch dem philosophischen und dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Briefwechsel eigentlich die Reihen 2 und 3 der Leibniz-Edition vorbehalten. Nicht zuletzt ist die dargebotene Korrespondenz auch deshalb interessant, weil man in ihr zahlreiche erhellende Details aus der Biographie Leibniz', aber auch allgemein aus der République des lettres, über Literatur- und Informationsbeschaffung, Rezeption eigener und fremder Werke etc., erfährt.
Die hohen Standards der Edition spiegeln die Präsentation und Aufbereitung der abgedruckten Texte: Zu jedem Stück gibt es genaue Hinweise zur Überlieferung und, gegebenenfalls, früheren Drucken. Von großer Bedeutung für das Verständnis der Texte ist die äußerst nützliche Kommentierung, die nicht nur unklare Begriffe und Personennennungen erläutert, sondern auch Zusammenhänge zu anderen Stücken der Leibnizkorrespondenz, aber beispielsweise auch zu allgemeinen politischen Entwicklungen, aktuellen gelehrten Diskursen etc. herstellt. Außerdem wird dem Benutzer der abgedruckte Briefwechsel durch die relativ knapp gehaltene Einleitung (XXVII-LI), durch das Korrespondentenverzeichnis (mit nützlichen biographischen Angaben), ein Verzeichnis der Absendeorte der Briefe, ein Personenregister, ein - besonders hervorzuhebendes - Verzeichnis der in der Korrespondenz erwähnten oder zitierten Schriften sowie ein Sachregister erschlossen. Einschränkend muss jedoch gesagt werden, dass sich die Register bei einer stichpunktartigen Überprüfung nicht immer als zuverlässig erwiesen haben. Beispielsweise wird man unter "Leopold I." unter anderem auf die Seiten 133 f. verwiesen, muss aber feststellen, dass es dort nicht um den römisch-deutschen Kaiser, sondern den Herausgeber der "Nova literaria Septentrionis et maris Balthici" Achilles Daniel Leopold geht. Und auf das Geschlecht der Pallavicini wird (im Sachregister!) unter der Seitenangabe 520-526 verwiesen, tatsächlich behandelt wird es aber nur auf den Seiten 524 bis 526. Derartige kleine Defizite ändern jedoch nichts an dem Befund, dass Forschung und Lehre den Fortschritt bei der Edition der Leibniz-Schriften begrüßen und mit Spannung auf das Erscheinen des nächsten Bandes warten werden.
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Schnettger: Rezension von: Malte-Ludolf Babin / Reinhard Finster / Gerd van den Heuvel (Bearb.): Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Erste Reihe: Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, Bd. 16: Oktober 1698 - April 1699, Berlin: Akademie 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=157>
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