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Walter Demel: Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts. Ständische Gesellschaft und europäisches Mächtesystem im beschleunigten Wandel (1689/1700 - 1789/1800), Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 2000, 300 S., ISBN 3-17-014518-5, DM 48,90

Rezensiert von:
Horst Carl
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Giessen

"Europäische Geschichte" als historiographisches Problem hieß ein programmatischer Sammelband, der 1997 erschienen ist, und der die Beiträge eines Kolloquiums des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz enthielt. Die historiographische Bestandsaufnahme fiel dabei recht skeptisch aus: Es gebe Desiderate in der Geschichtswissenschaft - "Europäisierung" sei eines von ihnen.[1] Rein quantitativ galt dies allerdings angesichts der zahlreichen neu aufgelegten Reihen, die unter dem Etikett "europäische Geschichte" antreten, schon zum Datum des Erscheinens des Mainzer Bandes nicht, und eine grobe Recherche der neueren Erscheinungen lässt eher auf eine ungebrochene Konjunktur schließen. Das 18. Jahrhundert nimmt dabei eine prominente Position ein,[2] so als sollte die These von Peter Burke historiographisch eingeholt werden, Europa habe sich erst nach 1700 im Bewusstsein der Zeitgenossen als eine Solidar- und Wertegemeinschaft, die über eine bloße Addition politischer Einheiten hinausgegangen sei, etabliert.[3]

Der vorliegende Band des Münchener Frühneuzeitlers Walter Demel zur Europäischen Geschichte des 18. Jahrhunderts steht deshalb durchaus nicht konkurrenzlos da. Das heikle Problem, wie "europäische Geschichte" zu schreiben ist, geht Demel pragmatisch an: Zwar will er das Maß an europäischer Übereinstimmung im 18. Jahrhundert herausarbeiten, doch steht im Zentrum der Darstellung ein Kerneuropa, das in West- und Mitteleuropa (dazu zählen das Reich inklusive der Schweiz und Böhmens) lokalisiert wird. Der südeuropäische, skandinavische und osteuropäische Rest ist "Peripherie", auf den dieses Kerneuropa ausstrahlt. Natürlich kann man ein solches Bild von einem Europa der zwei oder mehr Geschwindigkeiten im 18. Jahrhundert kritisieren. Aber Probleme, die ein allzu homogenes und weitgespanntes Untersuchungsfeld "Europa" verursacht, kann man in der weitgehend parallelen Darstellung des englischen Kollegen Jeremy Black studieren. Dort wird der Leser immer wieder in den einzelnen Beispielen mehr oder minder unvermittelt durch die diversen europäischen Regionen geschickt - gleichsam von Sizilien nach Lappland -, ohne dass systematische Einordnung und Differenzierungen den Eindruck der Aleatorik und des Additiven korrigieren würden.

Ein solcher Effekt stellt sich bei der Lektüre Demels nicht ein. Sein strukturgeschichtlicher Zugriff bleibt trotz der Fülle an Informationen, die vermittelt werden, kontrolliert und vermeidet jegliche diffuse Aufzählung von Gleichem oder Ähnlichem. Gegliedert ist die Darstellung in fünf große Kapitel: 1) Mensch und Umwelt, 2) Kommunikations- und Wirtschaftsbeziehungen, 3) Europa als Kulturraum, 4) Reformfähigkeit und Reformunfähigkeit der europäischen Staaten sowie 5) Europäisches Staatensystem. Die beiden am Anfang stehenden sozialgeschichtlichen Kapitel weisen Demel als Kenner aktueller Forschungen zu neueren Themenfeldern wie Umwelt- oder Kommunikationsgeschichte aus, wenngleich das Schwergewicht weiterhin auf den klassischen Themenfeldern der Sozialgeschichte wie der Gliederung der ständischen Gesellschaft und der Wirtschaftsgeschichte liegt. Auch bei Demel spielt der revolutionäre Einschnitt der Französischen Revolution nur eine untergeordnete Rolle, da die alten Eliten sich der Modernisierung in Kommunikations- und Wirtschaftsbeziehungen früh geöffnet hätten. Gegenüber aktuellen Forschungstendenzen, die die Wurzeln der Industrialisierung regional verorten und für die das ökonomische Zusammenwachsen Europas im 18. Jahrhundert vor allem das Zusammenwachsen eines Europas der Regionen gewesen ist, insistiert er auf der Bedeutung der jeweiligen staatlichen Rahmenbedingungen.

Als ausgesprochener Experte für Reformabsolutismus zeigt sich Demel natürlich im Kapitel über die politisch-gesellschaftlichen Strukturen in seinem Element. Dabei ist es nur konsequent, wenn er als eine Signatur der Epoche den Niedergang der Republiken als gemeineuropäische Entwicklung besonders akzentuiert. Selbst das Ende der französischen Monarchie 1792 negiert diese Entwicklung nicht, blieb die revolutionäre Republik doch auch in Frankreich ein ephemeres Phänomen. Reformfähiger, vor allem wenn es um die Durchsetzung der Reformen ging, blieb im reformfreudigen 18. Jahrhundert allemal der monarchische Fürstenstaat. Dass Reformfreudigkeit nur die Kehrseite der Medaille militärischer Aggressionsbereitschaft gewesen ist, macht jedoch der abschließende Abriss der kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb des europäischen Staatensystems deutlich. Die europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts ist wie die der anderen Jahrhunderte auch eine Geschichte kriegerischer Verwicklungen gewesen.

Im Vergleich zu den Kapiteln zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte und zur Entwicklung des politischen Systems fällt das zentrale Kapitel zu Europa als "Kulturraum" allerdings ab. Die Informationen zur Gebildeten, der Presse und Sozietätsbewegung, der unterschiedlichen Spielarten von "Aufklärung" sowie der religiösen Reformbewegungen fallen vergleichsweise knapp aus, die Anmerkungen zur Kunst haben - eingestandenermaßen - nur den Status von Lückenbüßern. Allen salvatorischen Klauseln des Autors in seiner Einleitung zum Trotz, dem diese Ungleichgewichtung natürlich nicht entgangen ist, schlägt dies doch als ein Defizit des Bandes zu Buche, denn dahinter steht auch ein methodisches Problem. Dem disziplinierten historischen Vergleich von Prozessen und Strukturen stellt Demel keine kultur- und erfahrungsgeschichtlichen Ansätze, die nach Perzeption und Deutung Europas durch die Zeitgenossen fragen, an die Seite.[4] Die in der Einleitung geäußerte These, dass wenigstens in den Führungsschichten des Kontinents im 18. Jahrhundert ein ausgeprägtes europäisches Identitätsgefühl vorhanden gewesen sei, wird nicht Gegenstand systematischer Erörterungen. Wenn beispielsweise die Chinesen wiederholt vorkommen, sei es im Kontext der Chinamode der Aufklärung, des Ritenstreites der Jesuiten oder der Chinoiserien im Kunsthandwerk, so ist dies naheliegend bei einem Experten, aus dessen Feder eine luzide Analyse, wie "die Chinesen gelb geworden sind" - also des ethnologischen Diskurses -, stammt. Aber es überrascht dann doch, dass die gerade im 18. Jahrhundert intensiv reflektierten Begegnungen mit außereuropäischen Kulturen für die Diskussion des Zusammenhangs von Fremdwahrnehmung und europäischen Selbstdefinitionen ungenutzt bleiben. Dies mag nicht zuletzt in einer wohlbegründeten Skepsis gegen eine emphatische (Vor-)Geschichte eines "immer schon existierenden Kultureuropa" begründet liegen, die allzu sehr auf die kulturellen Gemeinsamkeiten fixiert bleibt. Gegen die Neigung, unter "Kulturtransfer" vor allem den gelungenen Kulturtransfer zu verstehen, ließen sich aber auch bei Demel gute Beispiele permanenter Frustrationen finden, die einen skeptischeren Aktualitätsbezug rechtfertigen. So erwähnt er durchaus die Kehrseite französischer Kulturdominanz im 18. Jahrhundert, die auf französischer Seite zu einer Stagnation des Wissensstandes über die Nachbarn geführt habe. Die Dialektik von Kosmopolitismus und wachsendem Nationalismus, die im abschließenden Kapitel als Signatur des 18. Jahrhunderts herauspräpariert wird, hätte so an Tiefenschärfe gewonnen.

Wer also an einer sozialgeschichtlich orientierten Strukturgeschichte Europas im 18. Jahrhundert interessiert ist, wird in Demels Buch eine kompetente und gelungene Synthese vorfinden, die er mit Gewinn zur Hand nehmen kann. Wer von einer europäischen Geschichte eher Antworten auf Fragestellungen der älteren und neueren Kulturgeschichtsschreibung erwartet, wird mit diesem Buch weniger glücklich sein. Aber eine europäische Geschichte muss es auch nicht jedem recht machen.

Anmerkungen:

[1] Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hg.): "Europäische Geschichte" als historiographisches Problem, Mainz 1997 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beiheft 42), 10.

[2] Jeremy Black: Eighteenth Century Europe 1700-1789, London 1990 (MacMillan History of Europe); Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie, 1700-1785, Paderborn 1997 (Handbuch der internationalen Beziehungen, Bd. 4); Barbara Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000 (Reclam Universal-Bibliothek 17025).

[3] Peter Burke: Did Europe exist before 1700?, in: History of European Ideas 1 (1980), 2129.

[4] Heinz-Gerhard Haupt: Erfahrungen mit Europa. Ansätze zu einer Geschichte Europas im langen 19. Jahrhundert, in: Duchhardt/Kunz: Europäische Geschichte, 87-103.

Redaktionelle Betreuung: Matthias Schnettger

Empfohlene Zitierweise:

Horst Carl: Rezension von: Walter Demel: Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts. Ständische Gesellschaft und europäisches Mächtesystem im beschleunigten Wandel (1689/1700 - 1789/1800), Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=161>

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