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Gisela Wilbertz / Jürgen Scheffler (Hg.): Biographieforschung und Stadtgeschichte. Lemgo in der Spätphase der Hexenverfolgung, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2000, 488 S., ISBN 3-89534-290-4, DM 68,00

Rezensiert von:
Ursula-Maria Krah
Wuppertal

Die seit etwa Mitte der 80er Jahre etablierte zeitgenössische historische Hexenforschung hat Anstoß zu etlichen, in der letzten Zeit erschienenen Regionalstudien gegeben. Zeigen sich mittlerweile immer weniger weiße Flecken auf der Landkarte der Verfolgungen, so bleibt ein Defizit im methodischen Zugriff, da immer noch der weitaus überwiegende Teil der Arbeiten sich in quantifizierender Form mit der Analyse bisher unberücksichtigten Materials beschäftigt. Ungeachtet einiger durchaus Beachtung verdienender mikrohistorischer Studien ist es erfreulich, dass der Biographieforschung durch den hier vorliegenden Band im Hinblick auf die Hexenforschung ein innovationsverdächtiges Moment zuzufallen scheint.

Schon vor knapp zehn Jahren zeichnete sich auf der Lemgoer Tagung "Hexenverfolgung und Regionalgeschichte - die Grafschaft Lippe im Vergleich" die besondere Eignung biographischer Untersuchungsmethoden für das Verständnis eines so komplexen Gegenstandes wie der Hexenverfolgung in personal und räumlich eng umgrenzten Gebieten ab. Mikrohistorische Studien junger Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vor allem aus Bielefeld und Paderborn folgten, und nach der Vorstellung erster Ergebnisse 1997 und 1998 konnte von den Herausgebern die vorliegende Sammlung von zehn Aufsätzen, die sich im Wesentlichen auf die Stadt Lemgo konzentriert, zusammengestellt werden.

Zur Standortbestimmung ihres Forschungsansatzes wird diese kaleidoskopartige Sicht durch die frühmoderne Gesellschaft Lemgos von wissenschaftlichen Ausführungen grundsätzlicherer Art eingeleitet: Einem "Forschungsüberblick über die deutschen Städte des 17. Jahrhunderts" (Nicolas Rügge) folgen Überlegungen zur "Biographik der ‚kleinen Leute'" (Casimir Bumiller), denen sich exemplarische Untersuchungen zur Kollektivbiographie (Stefan Brakensiek) und zu Handlungsspielräumen und Sozialbeziehungen eines Bürgermeisters in kleinstädtischem Umfeld (Michaela Schmölz-Häberlein) anschließen. Nun werden verschiedene Lemgoer Biographien vorgestellt, darunter ein Soldat, der während des Dreissigjährigen Krieges seinen gesellschaftlichen Aufstieg erlebte und 1666 einem Hexenprozess zum Opfer fiel (Sabine Mirbach), eine Kauffrau, ebenfalls ein direktes Opfer der Hexenprozesse (Uschi Bender-Wittmann), ein Leutnant (Roland Linde), ein jüdischer Hoffaktor (Klaus Pohlmann), eine Schuhmacherfamilie (Uta Halle), um nur einige der zehn Kerntexte zu nennen. Selbstverständlich findet auch der berühmte Hexenbürgermeister von Lemgo, Hermann Cothmann, Berücksichtigung (Nicolas Rügge). Den Ausblick bietet schließlich Jürgen Scheffler mit seinen Forschungen zur lokalen Geschichtskultur im Lemgo des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen er sich mit dem Wandel regionaler Geschichtsvorstellungen auseinandersetzt.

Es stellt sich nun die Frage, ob die von den Herausgebern im Geleitwort zum Ausdruck gebrachte, allen Beiträgen gemeinsame Option nach der Verbindung von Biographie und allgemeiner Stadtgeschichte wirklich eingelöst wurde? Wenn ja, wie? Was bringt uns diese Sammlung über den regionalgeschichtlichen Erkenntnisfortschritt hinaus an methodisch Neuem?

Dazu seien einige Arbeiten besonders herausgegriffen. Klaus Pohlmanns brillante Untersuchung "Samuel Goldschmidt - Hoffaktor des lippischen Grafenhauses 1669 - 1722" bewegt sich kreisförmig zwischen den Gegebenheiten von Lebens- und Geburtsort, von Judenheit und christlichem Umfeld, engem lokalen, regionalen und überregionalen Bezug und kommt so zu Schlussfolgerungen, die über den individuellen Rahmen hinaus verwertbar werden. Beispielsweise ermittelt er anlässlich einer Anzeige aus dem Jahr 1701 wegen angeblicher "Verhöhnung des christlichen Glaubens", dass sich "in der Behandlung und Bewertung von Gerüchten, die den Rang von Beweismitteln erhielten, deutlich Parallelen zu den Hexenprozessen der zurückliegenden Jahre zeigen" (334). Nachweislich existiert auch hier ein ähnlich dem Hexenmuster abfragbares Beschuldigungspotential, das je nach Lage der Dinge jederzeit einsetzbar ist.

Gisela Wilbertz zieht in "Familie, Nachbarschaft, Obrigkeit"dem Scharfrichter David Claus d. Ä. (1628/29 - 1696) unter Berufung auf das einzigartige, in Lemgo erhaltene Familienarchiv der Scharfrichter Clauss/Clausen systematisch die historische Patina des unehrlichen Berufes ab, wobei sie, lebensgeschichtlich orientiert, ausgesprochen schlüssig mit dem Konzept der Verflechtungs- oder Netzwerkanalyse arbeitet. Sie weist nach, dass der Scharfrichter mit seiner Familie weitgehend in das Stadtleben integriert war, fast alle normalen Rechte und Pflichten eines Stadtbürgers erfüllte und dass "seine Rolle bei Hexereiverfahren sehr viel differenzierter als bisher und vor allem individuell gesehen werden muß" (306).

Mit den Mitteln der Diskursanalyse widmet sich Uschi Bender-Wittmann in "Comunis salutis hostis" dem Lebensweg der Kauffrau Anna Veltmans, die, als Kaufmannswitwe zwar erfahren und sehr geschäftstüchtig, aufgrund der eingeschränkten gesellschaftlichen Akzeptanz ihrer unternehmerischen Selbstständigkeit und Rechtsfähigkeit als Frau in den 1660er Jahren einer Intrige im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf im Leinenhandel zum Opfer fällt. Sie wird von ihren Gegnern als "Feindin des Gemeinwohls" (179) diskreditiert, ein Hexereiverdacht kommt gerade recht, der dann folgende Prozess erhält so einen eindeutig sozialdisziplinierenden Charakter.

Soweit die inhaltlichen "amuse-geules",mit denen ich den Lesern dieser Rezension Appetit auf mehr machen möchte, denn es lohnt sich jeder einzelne Beitrag, auch die theoretischen Analysen des ersten Teils, allen voran Casimir Bumillers psychohistorische Verortung zeitgenössischer Biographik. Die gesamte Konzeption besticht durch ein durchdachtes Konzept, eine überzeugende Gliederung, solide handwerkliche Arbeit, die dennoch den Bezug zum Gesamtrahmen immer spüren lässt, und, last but not least, in den meisten Fällen durch gute Lesbarkeit. Dankenswert für den regionalhistorisch Interessierten das Orts-, Namens- und Personenregister, mit dem der Band einen simplen, leider immer noch zu selten erfüllten Wunsch nach leichter wissenschaftlicher Handhabbarkeit nachkommt.

Alles in allem, um damit auf die eingangs gestellte Frage nach der gemeinsamen Option zurückzukommen, ist den Beteiligten eine äußerst fruchtbare Synthese aus Biographie- und Stadtgeschichte gelungen, die Hoffnung auf ähnliche Versuche in anderen Bereichen macht.

Redaktionelle Betreuung: Gudrun Gersmann

Empfohlene Zitierweise:

Ursula-Maria Krah: Rezension von: Gisela Wilbertz / Jürgen Scheffler (Hg.): Biographieforschung und Stadtgeschichte. Lemgo in der Spätphase der Hexenverfolgung, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=171>

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