Rüdiger Hillmer: Die napoleonische Theaterpolitik. Geschäftstheater in Paris 1799-1815 (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1999, 536 S., ISBN 3-412-12798-1, DM 118,00
Rezensiert von:
Almut Franke-Postberg
München
Es sei Zeit, die Leute an den guten Geschmack zu erinnern, befand im Jahre 1806 Amaury Duval, der im Innenministerium für die Kultur zuständig war. Damit begann eine Phase intensiver Theaterpolitik. Eines der Hauptziele der napoleonischen Theaterkritik war die Konsolidierung der aus dem Ancien Régime herübergeretteten Grands théâtres, die dem politischen und kulturellen Führungsanspruch des napoleonischen Regimes Glanz verleihen sollten. In seiner 1997 in Berlin abgeschlossenen Dissertation befasst sich der Theaterwissenschaftler Rüdiger Hillmer mit der Konkurrenz: den seit 1791 mit Ausdehnung der Gewerbefreiheit neu entstehenden Geschäftstheatern. In einem ersten Teil skizziert Hillmer das Pariser Theatersystem vor 1807 in bezug auf das Verhältnis von Theater und Staat, die rechtliche Situation nach 1791 und die Folgen der Gewerbefreiheit im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation der Theater und die literarische Gattungsbildung. In einem zweiten Teil analysiert er die Zielsetzung der napoleonischen Theaterpolitik, ein dritter Teil enthält Quellentexte, Tabellen und Karten. Das Enddatum 1815 im Buchtitel verspricht zuviel: tatsächlich lässt der Autor, abgesehen von einem kurzen Ausblick, seine Untersuchung im Jahre 1807 auslaufen, als per Gesetz die Schließung der meisten Pariser Theater verfügt wurde. Infolge der Revolution entstand in Paris ein Markt der Unterhaltungskultur, der sich in drei Sektoren gliedern lässt: die bereits zuvor existierenden Grands théâtres als Orte der elitären Hochkultur, die traditionelle Jahrmarktsunterhaltung der Spectacles de curiosité und die neu entstehenden Geschäftstheater. Die Liberalisierung des Unterhaltungsmarktes führte zu einem wahren Boom an Theatern, die mit ihrem Angebot der herrschenden Nachfrage zunächst kaum gerecht werden konnten. Nur wenige Unternehmen warfen allerdings Gewinn ab - viele Theater waren ständig konkursgefährdet, und dazu gehörten auch die Theater der kulturellen Elite. Über den Gegensatz von etabliertem Bildungstheater und neuen Unterhaltungstheatern entbrannten heftige theaterpolitische Auseinandersetzungen. Überlegungen bewegten sich zwischen gemäßigtem Liberalismus, Rückkehr zum alten Privilegiensystem und einer darüber noch hinausgehenden überantwortung aller Theater in direkte staatliche Verwaltung, blieben aber im gedanklichen Stadium stecken. Die Zustände auf dem deregulierten Theatermarkt änderten sich nicht. Während des Direktoriums wurden die Folgen der Theaterfreiheit von den kulturell interessierten Zeitgenossen in moralischer und ästhetischer Hinsicht als katastrophal eingeschätzt. Die Theater wurden für die herrschenden chaotischen politischen Zustände mitverantwortlich gemacht, und die Kritik machte sich an den neu entstandenen Theatergattungen wie dem Melodrama fest. Die Debatte um die Frage, ob die Gewerbefreiheit ein Absinken der Qualität von Stücken und Aufführungen bewirkt habe, deutet Hillmer als Basis für die spätere Ausformulierung der napoleonischen Theaterpolitik. Jedoch interpretiert er die gesamte Theaterpolitik als Strategie, den Symbolcharakter der Grands théâtres als nationaler Einrichtungen für die Repräsentation der Machtfülle Napoleons zu nutzen. So wie Hillmer die Theaterpolitik unter Napoleon dann schildert, macht sie aber eher einen recht pragmatischen Eindruck: wurde während der Revolution dem Theater höchste bildungspolitische Relevanz zugemessen, indem Modelle einer instruction publique entwickelt wurden, in denen die Schauspieler zu Lehrmeistern der Nation aufstiegen, so hatte die in den Jahren 1806 und 1807 im Innenministerium entworfene Theaterpolitik das vorrangige Ziel, den Theaterbereich auf administrativer Ebene zu reorganisieren. Das geschah 1807 durch die Schließung der Mehrzahl der Geschäftstheater. Durch die Subventionierung der wenigen erlaubten Theater konnte das dortige Repertoire unter Kontrolle gehalten und für die imperiale Macht- und Selbstdarstellung genutzt werden. Den Endpunkt dieser Strategie markiert ein Dekret von 1811, das die Regelungen des Ancien Régime kopierte und durch Privilegien die vier Grands Théâtres (Théâtre-français, Opéra, Opéra-Comique, Théâtre de l'Impératrice (Odéon)) immer enger an den Staat band. Die rechtliche Gleichstellung aller Theater hatte im Bewusstsein der Zeitgenossen keine Enthierarchisierung zur Folge, kleinere Theater wurden théâtre secondaire oder théâtre subalterne genannt. Auch die Dramatiker sahen ihre Stücke aus Prestigegründen lieber auf der Bühne eines Grand Théâtre als auf der eines neuen Geschäftstheaters. So knüpfte die napoleonische Theaterpolitik an die aus dem Ancien Regime fortbestehenden Kategorien nahtlos an. Spannend erscheint die Zeit der großen Liberalisierung in den zwei, drei Jahren nach der Gewerbefreiheit 1791, als sich das Pariser Theatersystem als Unterhaltungsmaschinerie des Industriezeitalters herausbildete. Ganz den wirtschaftlichen Größen von Angebot und Nachfrage folgend, schossen Theater wie Pilze aus dem Boden, mussten ungeschützt mit der Konkurrenz mithalten und gingen oft genug wieder schnell zugrunde. Es bildeten sich Unternehmensstrukturen, die von der aus dem Ancien Régime bekannten Struktur der Familientheater auf den Jahrmärkten abwichen. Auch kamen viele der Theaterdirektoren anders als im 18. Jahrhundert nicht unmittelbar aus dem Theaterbereich. Waren sie erfolglos, so gingen sie wieder anderen bürgerlichen Berufen nach. Schauspieler und Dramatiker in Führungspositionen und mit Beteiligung am Kapital eines Theaters waren selten - eine Situation, an der sich nicht viel geändert hat. Durch uneinheitliche Preisgestaltung und unterschiedliche Programmangebote war das Publikum nicht mehr sozial einheitlich. Nicht nur an den Boulevards standen populäre Bühnen, sondern auch die Grands théâtres maßen sich am wirtschaftlichen Erfolg und versuchten, durch populäre Stücke ein breiteres Publikum zu erreichen. Und so konstatiert Hillmer schließlich, dass Napoleon die Geschäftstheater vornehmlich als Wirtschaftsunternehmen ohne künstlerischen Wert begriff. Die hohe Kunst fand für ihn nur an den Grands théâtres statt. Mit der Schließung der meisten Theater 1807 sollte eine bessere Kontrolle des Repertoires ermöglicht werden, war doch der Plan einer Agence générale für ganz Frankreich, die alle Theater nicht nur überwachen, sondern direkt leiten sollte, nicht realisiert worden. Vor allem aber sollten dadurch die Grands théâtres geschützt werden, indem die Konkurrenz dezimiert wurde und die Subventionen unter weniger Nutznießern verteilt wurden. Nach 1807 konzentrierte sich das Theaterleben auf zwei Vergnügungszentren, die sich bereits im Ancien Régime herausgebildet hatten: zum einen die Achse Louvre - Palais-Royal - nördliche Boulevards für das mondäne und gutbürgerliche Publikum, zum anderen der Boulevard du Temple für das kleinbürgerliche Publikum. Damit einher ging die bewusst forcierte soziale Segregation der Publikumsströme, die sich auch in der Zuordnung der jeweils genehmigten Theatergattungen widerspiegelte. Bereits zwei Jahre später mehrten sich die Zweifel an der Effizienz der napoleonischen Theaterpolitik, die künstlerischen Stagnation im Bereich der dramatischen Literatur und die mangelnde Qualität der Grands théâtres wurden kritisiert. Was ist das Fazit des Bandes? Hillmer zieht aus seinem Material den Schluß, dass die Schließung einer Vielzahl von Geschäftstheatern die Entwicklung der kommerziellen "Unterhaltungsindustrie" nicht verhinderte, sondern lediglich verzögerte, den überlebenden théâtres secondaires wurde zu einer stabilen ökonomischen Ausgangslage verholfen, und zugleich sicherten die Theatergesetze den subventionierten Grands théâtres das überleben.
Empfohlene Zitierweise:
Almut Franke-Postberg: Rezension von: Rüdiger Hillmer: Die napoleonische Theaterpolitik. Geschäftstheater in Paris 1799-1815, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1999, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=19>
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