Georg Wagner-Kyora: Bauer und Schmied. Die Hagener Sensenarbeiter und die Industrieregion Märkisches Sauerland 1760-1820 (= Colloquia Augustana), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2000, 256 S., 6 Abb., ISBN 3-89534-312-9, 19,00
Rezensiert von:
Monika Löcken
Museum Wendener Hütte, Olpe
Die preußische Gewerberegion an der Ennepe bei Hagen, in der Grafschaft Mark, wurde im 18. Jahrhundert neben der Steiermark zu einem der bedeutendsten Zentren der Sensen- und Sichelproduktion in Europa. Georg Wagner-Kyora wandte sich dieser interessanten Region 1987 im Rahmen einer Examensarbeit zu, welche die Grundlage für seine im Jahre 2000 erschienene Dissertation bildete.
Den theoretischen Rahmen seiner Arbeit bildet das von Wolfgang Mager geprägte Konzept der Protoindustrie, das darauf abzielt, "Entstehungsbedingungen und Organisationsformen, Entwicklungspotentiale und Entfaltungsschranken der in Gewerbelandschaften verdichteten frühneuzeitlichen Industrie zu erfassen" (203). Mager nimmt an, dass allen frühneuzeitlichen Industrielandschaften bestimmte Merkmale gemeinsam seien, obwohl eine jede ganz eigene und unverwechselbare Strukturen ausgebildet habe. "Aus diesem Grunde sind alle deutschen und europäischen Regionen miteinander vergleichbar, sobald man sie unter einem dafür geeigneten Blickwinkel untersucht" (203). Diesen geeigneten Blickwinkel sucht Wagner-Kyora in vier Kapiteln, in denen der Untersuchungsgegenstand von ebenso vielen Fragestellungen aus angegangen wird. Das erste Kapitel charakterisiert die Grafschaft Mark als Territorium des preußischen Staates. Im zweiten und dritten Kapitel wird die Sensenindustrie zunächst in einer Mikroschau und dann gewerbeübergreifend vorgestellt. Das vierte Kapitel thematisiert die Entwicklungsphasen der Kleineisenindustrie zwischen 1760 und 1820.
Ausgehend von der regionalen Gliederung werden im ersten Kapitel die charakteristischen Ausprägungen der preußischen Verwaltungs- und Wirtschaftspolitik in der Zeit des Merkantilismus dargelegt, deren Exponenten Anton von Heinitz, Karl von Stein und Friedrich August Alexander Eversmann waren. Exemplarisch werden die historische Entwicklung der "Weißen Sensenfabrik" und die speziellen Produktionsformen der Nähnadelproduktion in Iserlohn unter den Bedingungen des traditionellen preußischen Staatsmerkantilismus behandelt. Besondere Bedeutung für die sozialen Verhältnisse wird der Kantonsgesetzgebung zugeschrieben, deren Folgen direkter als die staatliche Wirtschaftspolitik und preußische Verwaltung auf das Leben der männlichen Staatsbürger einwirkten.
Im zweiten Kapitel fokussiert der Autor den Untersuchungsgegenstand auf das Gericht Hagen von 1760 bis 1820 in der Art einer örtlichen Fallstudie. Hier stützt er sich auf Tabellenwerke und dabei besonders auf die "Classificationstabelle" für das Gericht Hagen von 1791 und das Hypothekenbuch über den Grundbesitz der Bauernschaft Haspe aus den Jahren 1760 bis 1806. Beide Quellen ermöglichen eine Mikroschau auf die Personenzahlen, die gewerblichen und agrarischen Besitzverhältnisse sowie deren zeitgenössische Bewertung und ermöglichen auf diese Art und Weise konkrete Aussagen über den Lebensstandart der einfachen Leute. Indem der Autor die individuelle Entwicklung der einzelnen Gewerbebetriebe und Höfe vor dem Hintergrund der preußischen Wirtschaftspolitik darlegt, können tiefe Einblicke in die Lebens- und Arbeitsform gewonnen werden.
In einem weiteren Schritt nähert Wagner-Kyora sich dem Selbstverständnis der Sensenschmiede und der Frage, wie sie als historische Gruppe zu charakterisieren sind, zu. Sahen sich die Schmiede selbst als "Handwerker-Häusler", als eine besondere Kategorie "Arbeiter" oder gar als "Proletarier" (98)? Was unterschied die Sensenschmiede als "selbständige Fachkräfte" in ihrem hochspezialisierten Arbeitsprozess von Zunfthandwerkern (100)? Für jeden dieser Interpretationsrahmen bieten die Sensenschmiede nach Wagner-Kyora Ansätze. Die Ambivalenz des Status der Sensenschmiede wird deutlich, wenn im 18. Jahrhundert sowohl ein agrarisch-heimgewerblicher Lebenszusammenhang als auch ein "patriarchalischer Fürsorgenexus" der hammer- und landbesitzenden Schmiede gegenüber den landlosen Heuerlingen wahrgenommen werden. Damit stellt sich dem Autor die Sensenindustrie an der Ennepe im 18. Jahrhundert als ein "historischer Sonderfall in der Entwicklung Deutschlands zum modernen Industrieland" dar (97). Schließlich kommt Wagner-Kyora zu dem Ergebnis, dass die Sensenschmiede im Verlauf von zweihundert Jahren im Zusammenspiel mit den Mechanismen des Verlagshandels, dem Aufkommen überregionaler Märkte und den wachsenden Investitionsleistungen, die flüssiges Kapital erforderten, ihre Selbstständigkeit verloren und zu Arbeitern wurden.
In der Darstellung dieser prozesshaften Veränderungen, die auch für den Stand der Reidemeister belegt werden können (114), liegt eine der Stärken der Veröffentlichung.
Im dritten Kapitel strebt Wagner-Kyora einen Vergleich der Sensenindustrie mit anderen Eisen verarbeitenden Industriezweigen des "Süderlandes" an (127). Ziel ist die Weiterentwicklung einer Gewerbetypologie der Sensenindustrie und darüber hinaus aller süderländischen Eisenindustrien. Grundlage dieses Versuches sind die Vorarbeiten Stephanie Reekers, die eine Trennung der Eisen verarbeitenden Gewerbe in Drahtverarbeitung und Schmiederei sowie in Schwerindustrie und Kleinindustrie vornahm.
Die typologischen Kriterien sollen anhand verschiedener Fragestellungen weiterentwickelt werden. Gefragt wird zum Beispiel nach haupt- oder nebenberuflicher Tätigkeit und nach der Art und Weise der Verlagseinbindung der Betriebe. Wagner-Kyora muss jedoch feststellen, dass gerade die Sensenproduktion ein Beispiel für die definitorische Unzulänglichkeit dieses Rasters darstellt, da die Fertigung der Sense auf die der Schwerindustrie zugerechnete Fertigung der Hämmer erfolgte, die Sense selber aber als Fertigprodukt der Kleineisenindustrie zugerechnet werden muss. Ein Beleg dafür, wie sehr sich der Untersuchungsgegenstand den Ende der 1980er-Jahre verwendeten Begrifflichkeiten entzieht. An dieser Stelle wäre zu fragen, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, das wirtschafts- und sozialgeschichtliche Instrumentarium gezielt um ein technikgeschichtliches zu ergänzen. So hätten möglicherweise eine detaillierte Erläuterung des häufig erwähnten differenzierten Produktionsprozesses der Sensen und vor allem die Beschreibung des Arbeitsplatzes und des Arbeitsgerätes, nämlich eines Sensenhammers (es handelte sich um wasserbetriebene Schwanzhämmer) sowie die damit verbundenen Implikationen (zum Beispiel die Abhängigkeit von Wasserrechten und von auseichendem Aufschlagswasser) für mehr Klarheit gesorgt.
Wagner-Kyora wendet sich im Zusammenhang mit den 68 Osemundhämmern, die es im Jahre 1800 in der Mark gab, auch der Grundausstattung eines Hammerwerkes zu. Sein Ziel ist die Beschreibung einer typologische Grundform, die für Frischhämmer, Reck-, Osemund- und Raffinierhämmer sowie für Weiterverarbeitungshämmer wie die Sensenhämmer gelten soll. Er schreibt: "Die Grundausstattung eines Hammers bestand aus einer an Wasserläufen gelegenen massiv gebauten Werkstätte, die Platz bot für ein Schmiedefeuer samt Blasebalg und für einen großen Amboss, auf den ein überdimensionaler, mit einer Eisenspitze versehener Holzhammer in Intervallen niederging. Dieser war über ein massives Holzgestänge an die Mechanik des umlaufenden Wasserrades angeschlossen. Das Wasserrad trieb, vermittelt durch Übertragungsräder, den Hammer an, der mit bis zu 200 Schlägen pro Minute (bei kleineren Hämmern) das auf einem Holzblock von der Hand des Schmiedes bewegte Eisen zurecht formte" (143-144). Die Formulierung lässt vermuten, dass Wagner-Kyora die technischen Funktionsweisen derartiger Betriebsanlagen nicht durchschaute. Abgesehen von der richtigen Beobachtung, dass es sich um wasserradbetriebene Hämmer handelte, wird aus der Beschreibung - vielleicht auch wegen der eigenwilligen Terminologie - allerdings nicht deutlich, welchen Hammerwerktyp er hier meint.
Wagner-Kyora gelingt es mit Hilfe der historischen Gewerbetabellen jedoch sehr gut, den wirtschaftlichen Aufschwung dieses Industriezweiges zu belegen. Die Ursache für den Erfolg der Kleineisenindustrie führt er maßgeblich auf eine neuerungsfreundliche und technisch versierte Bevölkerung zurück, die in der Lage war, die gebotenen Innovationschancen sofort zu ergreifen (151). Die Nachvollziehbarkeit dieser Sicht wäre ebenfalls durch die Beschreibung der technischen Ausstattungen derartiger Schmieden sehr erleichtert worden.
Das vierte Kapitel ist der zeitlichen Entwicklung der Sensenindustrie und des Eisengewerbes zwischen 1760 und 1820 gewidmet. Wagner-Kyora folgt in der Periodisierung "großen Ereigniseinbrüchen, wie zum Beispiel Kriegen, die als Zäsuren in der konjunkturellen Entwicklung wirkten". So konstatiert er bis 1756 eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung der Eisenindustrie, verstärkt in den ländlichen Regionen, die durch den Beginn des Siebenjährigen Krieges Einbrüche erlitt. Ab den 1780er-Jahren wird die Eisenindustrie mit Ausnahme der Osemundhämmer in einen Strudel der Vorwärtsentwicklung gezogen, der erst mit der napoleonischen Besatzungszeit endete. Diese "Boomphase" (181) sieht der Autor darin begründet, dass sich den kleinen Hammerwerken Chancen zur Ausdifferenzierung der Produktionspalette boten, was einer "fundamentalen Änderung der Produktionsstruktur" gleichkam. Weiter führt er die Blüte der Kleineisenindustrie auf lockere Kapitalstrukturen, freie Produktionsverhältnisse und auf die Nähe zum bergischen Innovationszentrum zurück. Es entstand eine Situation, in der der Schmied durch Leistung vom lohnabhängigen Schmied zum Hammerbesitzer werden konnte und so Anreize hatte, das Gewerbe zu betreiben. Nach der Beendigung der Kontinentalsperre hatte die Draht- und Sensenindustrie ihre Spitzenstellung zwar verloren, beide konnten sich aber in der Zeit der Fabrikindustrialisierung im 19. Jahrhundert, die in der Mark ebenfalls ein heterogener Prozess war, durch den Aufbau zahlreicher Sektoralindustrien bis ins 20. Jahrhundert behaupten. Wagner-Kyora konstatiert in der Zusammenfassung, dass viele Fragen, die sich aus dem gewählten Ansatz der Protoindustrie entwickelten noch offen seien. Dies rühre daher, dass der Forschung vielfältige Besonderheiten und regionalen Spezialentwicklungen gegenüberstehen, die nicht vernachlässigt werden dürfen (208). Eine Beurteilung der heterogenen Situation der frühindustriellen Gewerbe sei aber ohne ein verallgemeinerbares Konzept einer regionalen Geschichtsschreibung nicht möglich. Mit der Beschreibung der Sensenindustrie als Spezialgewerbe gelingt es dem Autor, zum Konzept einer regionalen Geschichtsschreibung beizutragen, indem er prozeßhafte Entwicklungsschübe und historische Entwicklungsbedingungen in den Eisen verarbeitenden Gewerbezweigen der erfolgreichen märkischen Eisenindustrie aufzeigt. Dies ist besonders vor dem Hintergrund der oft von sehr statischen Ansätzen geprägten regionalen Literatur dankenswert, die gewohnheitsmäßig die Ursachen dieses Erfolges vor allem standortbestimmenden Faktoren zuschreibt.
Der Dissertation ist ein umfangreicher Apparat beigefügt. Orts- und Sachregister sowie ein Verzeichnis der Initialen ermöglichen ein schnelles Auffinden von Einzelfragen. Die mit Erläuterungen versehenen historischen Karten tragen dazu bei, die räumliche Konzentration der Sensenindustrie zu verdeutlichen. Schließlich war es dem Autor wichtig, seinen Untersuchungen begriffsgeschichtliche Nachbemerkungen anzuhängen, die Begriffe wie Struktur, Klasse, Gewerbe und Industrie sowie das Konzept der Protoindustrie darlegen und als Reminiszenzen auf die Entstehung der Arbeit in den 1980er-Jahren betrachtet werden können.
Redaktionelle Betreuung: Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Monika Löcken: Rezension von: Georg Wagner-Kyora: Bauer und Schmied. Die Hagener Sensenarbeiter und die Industrieregion Märkisches Sauerland 1760-1820, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2000, in: PERFORM 3 (2002), Nr. 9, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=252>
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