Daniel Guggisberg: Das Bild der "Alten Eidgenossen" in Flugschriften des 16. bis Anfang 18. Jahrhunderts (1531-1712). Tendenzen und Funktionen eines Geschichtsbildes (= Colloquia Augustana), Frankfurt a.M. / Berlin / Bern: Peter Lang 2000, XVI + 845 S., ISBN 3-906764-51-6, DM 116,00
Rezensiert von:
Holger Luck
Universität Osnabrück
Daniel Guggisberg hat mit seiner Arbeit zum Geschichtsbild der "Alten Eidgenossen" in der schweizerischen Flugschriftenliteratur der Frühen Neuzeit ein quantitativ wie qualitativ imposantes Werk vorgelegt. Die rund 850 Seiten umfassende Untersuchung verliert bereits bei einem ersten Blick auf das Inhaltsverzeichnis einiges von ihrem Schrecken: Rund zwei Drittel des Gesamtumfangs entfallen auf die bibliografische Darbietung beziehungsweise den teilweisen Abdruck der untersuchten Quellen. Die Konzentration auf bibliografische beziehungsweise texteditorische Aspekte, die sich hier quantitativ bereits andeutet, wird vom Autor in der Einleitung auch explizit benannt: Angesichts der unbefriedigenden bibliografischen Situation in der nationalen Flugschriften-Forschung ist die "Schaffung einer Spezialbibliographie, um die Flugschriften sowie deren wichtigste Bestände und Fundorte in der Schweiz [...] zugänglich zu machen", das Hauptanliegen der Arbeit. Wohl erst in zweiter Linie - das macht auch die Anlage der Studie deutlich - geht es darum, auf der Grundlage des aufgespürten Materials, die "Spuren, welche die Geschichte im Gedächtnis der Eidgenossen hinterlassen hatte", herauszuarbeiten (7).
Nach einer sehr gelungenen Einleitung, die in die Quellen-Situation und den Stand der Flugschriften-Forschung in der Schweiz einführt, die Flugschrift als Medium im frühneuzeitlichen Kommunikationsprozess verortet und schließlich den eigenen Ansatz vorstellt, folgt zunächst der bibliografisch-editorische Hauptteil. Die Präsentation der relevanten Quellen erfolgt chronologisch und orientiert sich an den von Christoph Weismann bereits Anfang der 80er-Jahre vorgeschlagenen Richtlinien zur Erfassung frühneuzeitlicher Drucke. [1] Hierbei bietet die Bibliografie über die detaillierte Druckbeschreibung hinaus für jede erfasste Quelle eine aussagekräftige Inhaltsangabe sowie ausführliche Hintergrundinformationen zu beteiligten Personen (Verfasser, Drucker et cetera) und thematisierten Ereignissen.
Der Quellenteil, mit über 300 Seiten abgedruckten Textpassagen sicherlich als Kernstück der Arbeit zu bezeichnen, gibt in der Systematik des definierten Motivkataloges (siehe unten) sämtliche für die jeweilige inhaltliche Kategorie relevanten Textauszüge im Volltext wieder. Die Ergebnisse dieser quantitativen Auswertung werden schließlich in einem Anhang ausführlich in Tabellenform präsentiert. Mit der Bibliografie und dem Abdruck der Textfragmente in der auf die spezifische Fragestellung zugeschnittenen Systematik des Motiv-Kataloges erhalten andere Historiker, die sich dieser oder einer ähnlichen Thematik widmen möchten, ein hervorragendes Instrumentarium an die Hand, das den Gang ins Archiv zwar nicht ersetzen, zeitraubende Vorarbeiten aber deutlich erleichtern kann.
Zur Auswertung seines Materials nutzt Guggisberg das von Hans-Joachim Köhler an prominenter Stelle für die Flugschriften-Interpretation empfohlene Verfahren der quantifizierenden Inhaltsanalyse (content analysis): Ein Motiv-Katalog, bestehend aus neun Haupt-Kategorien, die sich wiederum jeweils in bis zu vier Unter-Kategorien gliedern, wird gebildet; von der Häufigkeit im Auftauchen bestimmter Motive erhält der Verfasser erste Anhaltspunkte für deren Stellenwert im zeitgenössischen politischen Diskurs. In einem weiteren Schritt werden die so gewonnenen Erkenntnisse mittels stichprobenartiger, detaillierter Inhaltsanalysen verifiziert. Mit dieser an Arbeitsweisen der historischen Zeitungsforschung angelehnten Methode werden quantitative und analytische Interpretationsverfahren auf durchaus erkenntnisfördernde Weise miteinander kombiniert. [3] Der Motiv-Katalog umfasst bei Guggisberg sehr unterschiedliche Kategorien, wie konkrete Ereignisse (Bündnisse, Schlachten, Friedensschlüsse et cetera), prozessuales Geschehen (Glaubensgegensätze, Frömmigkeitsentwicklung et cetera) oder historische Persönlichkeiten (vor allem Wilhelm Tell), um hier nur einige der vom Verfasser beobachteten Motive herauszugreifen. Der quantitativen Auswertung auf der Grundlage dieses Motivkataloges wird die gründliche Inhaltsanalyse zwölf ausgewählter Flugschriften an die Seite gestellt.
Guggisberg gelingt es auf diese Weise herauszuarbeiten, welche Bedeutung dem Geschichts-Topos "alte Eidgenossen" im zeitgenössischen politischen Diskurs zukam: Mit häufig stereotypen Formulierungen instrumentalisierten zeitgenössische Pamphletisten in ihren Texten Aspekte aus der eidgenössischen Vergangenheit, wobei stets auf diejenigen Motive verstärkt zurückgegriffen wurde, welche am besten geeignet schienen, Antworten auf die aktuellen Fragen der jeweiligen politischen Gegenwart zu geben. Besonders häufig tauchen über den gesamten Zeitraum die Motive "Bündnisse", "Freiheit", "Frömmigkeit" und "Kriegstüchtigkeit/Ritterlichkeit" auf. Die ganze Frühe Neuzeit hindurch blieb das Bild der "alten Eidgenossen" in den Flugschriften konstant positiv - dem Rückgriff auf die eigene Geschichte kam somit identitätsstiftende Bedeutung für die Gegenwart zu.
Die eingehende Lektüre der Arbeit fördert allerdings auch kleinere methodische Schwächen zu Tage. Hier wäre zunächst auf die für einen quantitativen Zugriff doch recht schmale Quellenbasis (123 Flugschriften) hinzuweisen. Dies liegt zum einen sicherlich in der nun einmal gegebenen, nicht besonders guten Überlieferungslage begründet, zum anderen aber wohl auch in dem vom Verfasser angewandten "selektiven Verfahren" der Quellensuche (62ff.). Bei der Einordnung der Ergebnisse wird weiterhin zu berücksichtigen sein, dass das Quellenkorpus Anspruch auf Einheitlichkeit nur formal in Bezug auf die Publikationsform (Flugschrift) und inhaltlich in Bezug auf die Thematisierung von Motiven aus der eidgenössischen Geschichte erheben kann. Die "alten Eidgenossen" sind jedoch keineswegs immer zentrales Thema des jeweiligen Textes, vielmehr stehen hier als Flugschriften publizierte historische Berichte neben Neuen Zeitungen, polemischen Traktaten, Gedichten und Liedern. Beide Kritikpunkte schränken den seriellen Charakter des Quellenkorpus und somit seine Eignung für eine quantitative Auswertung ein; allerdings werden diese Schwächen durch die bereits erwähnte, quasi als Korrektiv fungierende detaillierte analytische Auswertung im Wesentlichen wieder ausgeglichen. Erscheint die Vorgehensweise des Autors bisweilen auch etwas 'über-dokumentiert', so führt dies auf der anderen Seite doch zu einer erfreulichen methodischen Transparenz, an der es gerade quantitativ ausgerichtete Studien nicht selten vermissen lassen.
Insgesamt ist es Guggisberg - trotz der schmalen Quellenbasis und der Heterogenität des Textkorpus - gelungen, einen eindrucksvollen Beitrag zur Argumentation mit Geschichte in der Flugschriften-Literatur zu leisten, der vor allem auf Grund der hervorragenden bibliografischen Aufbereitung des Materials andere Forscher ermuntern dürfte, auf dieser Basis aufzubauen und weitere Lücken im Geschichtsbild der "alten Eidgenossen" zu schließen.
Anmerkungen:
[1] Christoph Weismann: Die Beschreibung und Verzeichnung alter Drucke. Ein Beitrag zur Bibliographie von Druckschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Hans-Joachim Köhler (Hg.): Flugschriften als Massenmedien der Reformationszeit, Stuttgart 1981, S. 447-614.
[2] Hans-Joachim Köhler: Fragestellungen und Methoden zur Interpretation frühneuzeitlicher Flugschriften, in: Ders. (Hg.): Flugschriften als Massenmedien der Reformationszeit, Stuttgart 1981, S. 1-27.
[3] Z.B. Jürgen Wilke: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin / New York 1984.
Redaktionelle Betreuung: Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Holger Luck: Rezension von: Daniel Guggisberg: Das Bild der "Alten Eidgenossen" in Flugschriften des 16. bis Anfang 18. Jahrhunderts (1531-1712). Tendenzen und Funktionen eines Geschichtsbildes, Frankfurt a.M. / Berlin / Bern: Peter Lang 2000, in: PERFORM 3 (2002), Nr. 12, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=258>
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