Wolfgang Cilleßen: Exotismus und Kommerz. Bäder- und Vergnügungswesen im Paris des späten 18. Jahrhunderts (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 856), Frankfurt a.M. / Berlin / Bern: Peter Lang 2000, 360 S., ISBN 3-631-35326-x, 50,10
Rezensiert von:
Béatrice M. Hermanns
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München
Wann haben Sie das letzte Mal die Welt vergessen? Wann haben Sie das letzte Mal die Seele baumeln lassen? - So wirbt eine moderne Therme in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Viele solcher Einrichtungen sorgen heute dafür, dass die Besucher dank verschiedenster Bäder, Saunalandschaften, Massagen oder kulinarischer Genüsse in fernöstlicher Atmosphäre oder nachgebildeten Südseeparadiesen dem Alltag entfliehen und neue Energie 'tanken' können. Wellness-Einrichtungen haben derzeit Konjunktur, doch haben es schon im 18. Jahrhundert geschickte Unternehmer in Paris (und andernorts) verstanden, mit ähnlichen Etablissements zahlreiche Neugierige anzulocken. Diesen Bädern, insbesondere den 1788 gegründeten Bains Chinois, ist Wolfgang Cilleßens Dissertation gewidmet, die das Sujet im Kontext der Genese einer spezifischen Pariser Vergnügungsindustrie zu verorten versucht.
Zunächst behandelt der Autor allgemein die Entwicklungsgeschichte der Bäder bis zum 18. Jahrhundert, um sich anschließend auf Entstehung, Geschichte und Ausstattung der Bains Chinois zu konzentrieren. Am Beispiel der Biografien von Unternehmern und Architekten sowie des Kampfes mit den städtischen Behörden um die Gestaltung der Fassade schildert der Autor die Entstehung und Entwicklung des Bades. Wie wichtig die Rolle der Architektur, insbesondere der exotischen Stilelemente, im Zusammenhang mit Markt- und Werbestrategien der Unternehmer war, handelt der Autor in Verbindung mit der Debatte um die Baupraxis des 18. Jahrhunderts in einem eigenen Kapitel ab. Die Badeanstalten werden schließlich in die Entstehung und Entwicklung der bürgerlichen Vergnügungswelt eingebunden; aus vielen literarischen Zeugnissen gehen die Fantasien hervor, die die Zeitgenossen mit den Badeanstalten verbanden. Das Buch endet mit einem Ausblick auf die Vergnügungsindustrie im 19. Jahrhundert.
Mit zunehmendem Körperbewusstsein rückten die Bäder im 18. Jahrhundert wieder stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Hatten zunächst eher medizinische und hygienische Gesichtspunkte im Vordergrund gestanden, ist im Laufe der Zeit ein elementarer Funktionswandel zu konstatieren, entwickelten sich solche Anstalten doch nun immer stärke zu Orten der Zerstreuung und der Alltagsflucht. Parallel zu dieser Entwicklung spielt die Öffentlichkeit, die sich in Salons, Cafés, Lesekabinetten oder aber in Badehäusern formte, eine entscheidende Rolle. Denn die Badeeinrichtungen besaßen zusätzlich Restaurants, Cafés und Boutiquen, in denen sich viele Besucher einfanden. Die öffentlichen Bäder bezeichnet Cilleßen daher zurecht auch als "Schnittstelle[n] zwischen den Institutionen der Gesundheitsfürsorge und den Vergnügungsstätten"[12].Bis ins 19. Jahrhundert hinein blieb der Besuch der Bäder auf Grund der hohen Preise allerdings jener höheren Gesellschaftsschicht vorbehalten, in deren Wohnvierteln auch die meisten der Bäder angesiedelt waren.
Die Gründung und Etablierung der Bäder war einem heftigen Konkurrenzkampf um die Marktanteile unterworfen, da es dafür zum einen eines königlichen Privilegs bedurfte und zum anderen besonders die Zünfte der Bader um den Erhalt ihrer Stellung im Badewesen eintraten. Zum leichteren Erwerb der begehrten Privilegien schlossen sich Unternehmer und wissenschaftliche Institutionen zu einer Interessengemeinschaft zusammen; letztere befürworteten die Gründung von Bädern mit Nachdruck, während sie gleichzeitig ihre Forderungen nach hygienischen Verbesserungen publik machten.
Den Prozess der Gesellschaftsgründung macht Cilleßen anhand der Bains Chinois anschaulich. Grundlegend für den Unternehmer war es zunächst, den geeigneten Standort zu finden, sich um die Wasserversorgung, die Innen- und Außenausstattung sowie um die ´Bewerbung´ des Etablissements zu kümmern. Viele der Einrichtungen befanden sich an den Grands Boulevards, den Zentren des Pariser Vergnügungslebens. Um möglichst viele Passanten ins Innere zu locken, musste die Fassade Neugierde wecken und Fantasien anregen. Dazu verhalf nicht zuletzt das exotische Extérieur unter anderem mit Nachbildung eines chinesischen Tempels. Die Unternehmer nahmen in dieser Hinsicht sogar Auseinandersetzungen mit den städtischen Behörden auf sich, indem sie die Bäume am Straßenrand entfernen oder stutzen ließen, da sie die Sicht auf die exotischen Gebäude verdeckten.
Auch wenn von außen die exotische Fassade reizte, sah es im Inneren völlig anders aus. Dort orientierte man sich weitgehend am aktuellen Geschmack des Publikums und wechselte häufig die Dekoration. Im rein chinesischen oder orientalischen Stil war offenbar keine der Badeanstalten eingerichtet. Welche Ausgestaltung in Frage kam, zeigt Cilleßen anhand der zeitgenössischen architekturtheoretischen Debatte um die Motive, die am besten zur Zerstreuung und Entspannung der Gäste beitrugen. Dass gerade exotische Stoffe und Chinoiserien das Publikum anlockten, ist in erster Linie auf die zeitgenössische Mode zurückzuführen. Die Elemente fremder Welten besaßen zum einen große Anziehungskraft, wurden aber auch gerne für die Kritik an der eigenen Kultur benutzt. Auf der anderen Seite flößte das Fremde jedoch auch Angst und Misstrauen ein, das es zu überwinden galt. Mithilfe exotischer Motive oder eines Raumes, der der Natur glich, wurde den Besuchern der Badeanstalten die Möglichkeit gegeben, dem schmutzigen und lärmenden Alltag in der Stadt zu entfliehen und sich in einer kulturellen Gegenwelt wieder zu finden. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Fremden fand dabei allerdings nicht statt, vielmehr wurde das Fremde in gebändigte Formen gegossen und mit einem Zauber in Verbindung gebracht, der wenig mit der Realität zu tun hatte.
Wie die Bäder in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, zeigt Cilleßen anhand literarischer Zeugnisse auf, in denen sich die ambivalenten Fantasien und Utopien, die um die Bäder kreisten, widerspiegelten. Galten die Bäder einerseits als Fluchtorte aus den gesellschaftlichen Zwängen, Konkurrenzkämpfen und der Langeweile, stellten sie in den Augen mancher Bürger andererseits eine negative Einrichtung dar, da sie mit Müßiggang und Einsamkeit, sogar mit Selbstmord in Verbindung gebracht wurden. Die Badeanstalten regten schließlich auch zu erotischen Fantasien an und legten die Vermutung nahe, es handele sich um getarnte Bordelle.
Mit seiner Studie hat Wolfgang Cilleßen eine spannende Geschichte der Pariser Bäder vorgelegt, die auf einem breiten Spektrum an Quellen basiert; genannt seien Reisebeschreibungen, Briefe, Gutachten zur Eröffnung einer neuen Badeanstalt, Akten städtischer Behörden, Verträge, Polizeiprotokolle und Architekturtraktate. Dank seiner klaren Sprache, dank der zahlreichen zeitgenössischen Illustrationen und Baupläne, treten die Etablissements dem heutigen Leser plastisch vor Augen.
Der Aufbau der Arbeit überzeugt insofern, als das Beispiel der Bains Chinois als Ausgangspunkt für die allgemeine Behandlung des Themas dient und die verschiedenen Aspekte der Bade- und Vergnügungskultur systematisch erläutert werden. Es wäre in Bezug auf die Anlage der Studie allerdings vielleicht überzeugender gewesen, Fragen zum Beispiel des Standorts und der Wasserversorgung sowie der Organisation und Finanzierung vor der Diskussion um die Architektur abzuhandeln. Leider ist auch die Thematisierung der unternehmerischen Werbestrategien etwas zu kurz gekommen.
Wie sehr die öffentlichen Bäder nicht mehr nur medizinischen und hygienischen Zwecken dienten, sondern einen elementaren Bestandteil der entstehenden bürgerlichen Vergnügungskultur bildeten, hat Cilleßen sehr einleuchtend geschildert. Anhand der chinesischen Bäder im Paris des 18. Jahrhundert vermag er aufzuzeigen, wie die Unternehmer Traumwelten mit exotischen Motiven inszenierten und Dienstleistungen verkauften, um ihren Gästen ein Refugium anzubieten. Obwohl der kommerzielle Aspekt deutlich zu Tage tritt, hätte sich die Rezensentin eine Definition der beiden zentralen Begriffe "Exotismus" und "Kommerz" zu Beginn der Arbeit gewünscht. Nichtsdestotrotz hat der Autor jeodch entscheidende Grundlagenforschung betrieben und einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des 18. Jahrhunderts geleistet.
Redaktionelle Betreuung: Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Béatrice M. Hermanns: Rezension von: Wolfgang Cilleßen: Exotismus und Kommerz. Bäder- und Vergnügungswesen im Paris des späten 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. / Berlin / Bern: Peter Lang 2000, in: PERFORM 3 (2002), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=319>
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