Christoph Schulte (Hg.): Haskala. Die jüdische Aufklärung in Deutschland 1769-1812 (= Das Achtzehnte Jahrhundert; 23/2), Göttingen: Wallstein 1999, 272 S., ISBN 3-89244-351-3, 29,00
Rezensiert von:
Marcus Pyka
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München
Mit ihrem hier zu besprechenden Heft geht die Zeitschrift "Das achtzehnte Jahrhundert" neue Wege. Erstmals ist ein Gastherausgeber eingeladen worden, zu einem bestimmten Thema den Aufsatzteil der Zeitschrift zu gestalten. Und zweifellos handelt es sich bei dem hierfür gewählten Thema um einen Bereich, dem in den Forschungen zum 18. Jahrhundert bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist: Die jüdische Aufklärung - die Haskala - fristete bislang eher eine Fußnotenexistenz im Bewusstsein der allgemeinen Geschichtswissenschaft. Daher macht es in der Tat Sinn, einen einführenden Überblick über diesen bemerkenswerten Teil der europäischen Aufklärungsgeschichte einem breiteren Fachpublikum zu vermitteln. "Die Entstehung und Entwicklung, die Selbstverständnisse und Ziele der Haskala in dem Prozess der Wechselwirkung und Selbstbehauptung gegenüber der deutschen Aufklärung auf dem neuesten Forschungsstand darzustellen, soll Ziel dieses Themenheftes sein" (143), konstatiert dementsprechend der Herausgeber Christoph Schulte, ein ausgewiesener Kenner der Materie in Deutschland, in seiner Einleitung.
Allerdings scheint die Chance, nicht nur den Forschungsstand zu den verschiedenen Teilbereichen der Haskala zusammenzutragen, sondern eben auch für eine stärkere Einbindung der Haskala in die Perspektive der Allgemeinhistoriker zum 18. Jahrhundert zu werben, vertan zu sein. Denn letztlich überwiegt doch das Ausgefallene, das Spezielle, gar das Kuriose - ohne dass sein wissenschaftlicher oder erkenntnistheoretischer Mehrwert deutlich würde. Der Nicht-Spezialist wird folglich rasch den roten Faden verlieren. Ob andererseits der wissenschaftliche Ertrag wiederum den Aufwand rechtfertigt, erscheint gleichfalls zweifelhaft.
Dies gilt beispielsweise für Andreas Kenneckes Beitrag über die 'erste moderne Zeitschrift der Juden in Deutschland', HaMe'assef ('Der Sammler'). Denn Kennecke ist unversehens selbst zu einem Sammler von Fakten und Geschichtchen geworden, die allzu oft bloßer Deskription dienen. Dies mag zum Teil auch auf die noch immer ungenügende Forschungslage zurückzuführen sein, die durchaus auch schon bei den harten biografischen Fakten der Protagonisten herbe Lücken aufweist (genannt sei hier nur Naftali Herz (Hartwig) Wessely). Doch wäre es dessen ungeachtet wünschenswert gewesen, etwas über die Mitarbeiter zu erfahren, ohne bei einigen Schlaglichtern auf die beiden profiliertesten Herausgeber, Isaak Euchel und Aaron Halle-Wolfssohn, stehen zu bleiben. Auch hätte sich über die Kontinuität der verschiedenen Erscheinungsphasen des Organs mehr sagen lassen, und an einem Drucklegungsort wie diesem hätte die Einbettung des Journals in seine Zeit stärker berücksichtigt werden müssen; der platte, weil ausschließlich programmatische Vergleich mit den 'Berliner Monatsheften' greift da zu kurz. Zumindest wäre eine klarer strukturierte Übersicht, eine stringentere Argumentation wünschenswert gewesen.
Ähnlich unbefriedigend liest sich Richard Lessers Vorstellung von Marcus Eliezer Bloch, dem Begründer der modernen Ichthyologie, sicherlich ein überaus spannender und vielseitiger Geist in dieser an solchen Gestalten nicht armen Zeit. Doch leider vermag dieser Aufsatz nicht aus seinem Thema Kapital zu schlagen. So ist es nicht nur Lessers hölzerner Stil, der einige Wünsche offen lässt, sondern vielmehr die stets mangelnde Kontextualisierung des Lebenslaufes. Was die einzelnen Stationen in der Karriere Blochs zu seiner Zeit bedeuteten, wird bestenfalls schemenhaft erkennbar, es handelt sich vielmehr um Bausteine zu einer Lebensbeschreibung als um einen ernsthaften biografischen Ansatz. Den zurecht von Lesser aufgezeigten Umstand, dass Bloch eben keiner der prominenten Theoretiker war, sondern die Errungenschaften der Haskala schlichtweg praktizierte, hätte man sich stärker ausgeleuchtet und interpretiert gewünscht. Dann wäre vielleicht auch klarer geworden, was die Biografie eines jüdischen Ichthyologen auch über die allgemeine Geschichte zu sagen hat.
Da zeigt Friedrich Niewöhner in seinem Essay über Mendelssohns Schrift HaNefesh ('die Seele') schon stärker die vielseitigen Wechselbeziehungen zwischen allgemeiner Aufklärung und Haskala auf. Diese seien geradezu "bunt", konstatiert er angesichts der verwickelten Übersetzungs- und Wirkungsgeschichte (232). Allein so einleuchtend sein Nachweis ist, dass jene Schrift ein "deutscher Aufklärungstext im hebräischen Gewande" (236) sei, die letztliche Intention Mendelssohns bleibt ungeklärt. Vor allem aber beschränkt Niewöhner sich in bewährt-gelehrter Manier auf die philologische Interpretation und lässt eine weiterführende Fragestellung vermissen.
Dass diese methodische Selbstgenügsamkeit freilich nicht zwangsläufig mit dem Gegenstand Haskala zusammenhängt, zeigt sich etwa bei Gunnar Ochs Beitrag zur Belletristik dieser Zeit. Zwar belässt auch er es weitestgehend bei Einzelportraits. Doch innerhalb dieser Beschränkung auf drei der großen Namen - Wessely, Kuh und Halle-Wolfssohn - gelingt ihm die Verortung nicht nur im jüdischen, sondern darüber hinaus auch im europäisch-christlichen Kontext. Hier glückt dann auch der Spagat, in ein weniger bekanntes Thema einzuführen, zugleich aber einige Anregungen und neue Einsichten zu gewähren.
Diese weiterführende Ebene fehlt leider auch in den Ausführungen von Gerda Heinrich. In einem stark personenorientierten Überblick rollt sie die verschiedenen Paradigmen der Debatten um 'bürgerliche Verbesserung der Juden' und Anpassung beziehungsweise Aufgabe der Tradition an die christliche Umgebungskultur auf. Dabei gelingt ihr eine gute Übersicht über die Wechselwirkungen und Einflüsse zwischen Moses Mendelssohn und Christian Wilhelm von Dohm sowie zwischen den christlichen Opponenten jüdischer Emanzipation und deren jüdischen Verteidigern. Hier wird freilich auch die Schwäche ihres Ansatzes deutlich - ungeachtet neuerer Deutungstendenzen in der Forschung bleibt Mendelssohn der Übervater der neuen Richtung jüdischen Geisteslebens, die Epochenscheide gleichsam zwischen Mittelalter und Moderne in der jüdischen Geschichte. Dennoch sei ihr Beitrag zur orientierenden Erstlektüre wärmstens empfohlen.
Was möglich gewesen wäre, deutet schließlich der Beitrag von Leah Hochman an. Die Bostoner Forscherin untersucht hier "Mendelssohn's Modernity: Questions of Social and Aesthetic Taste", indem sie die im 18. Jahrhundert gängigen Debatten um 'das Schöne' und die 'Verbesserung des Juden' miteinander verknüpft. Denn für die Auseinandersetzung um die Emanzipation der Juden musste das Bild vom hässlichen und degenerierten Juden in der Tat eine doppelt verheerende Bedeutung haben angesichts eines ungebrochen vorherrschenden Diskurses des Ästhetischen (Shaftesbury, Spalding). Vor diesem Hintergrund vermag Hochman, Mendelssohns Ausführungen über die 'vermischten Empfindungen' und 'das Schöne' sowie die 'schöne' Wirkung von Bildung in neuem Lichte zu zeigen.
Dennoch: So erfreulich insgesamt ein solches Themenheft ist, das ohne allzu viel 'Fachchinesisch' (oder vielmehr: -hebräisch), und doch fundiert die facettenreiche und wirkungsvolle Geschichte der jüdischen Aufklärung einem breiteren Fachpublikum bekannt machen will, so wäre es insgesamt doch wünschenswert gewesen, auch den Blick über Deutschland hinaus zu wagen, um den gesamteuropäischen Charakter der Bewegung zu verdeutlichen. Zwar deutet etwa bereits die Abonnentenliste des Me'assef derlei an, doch hätte dies noch einiger Vertiefung bedurft. Zugleich wird deutlich, wie schwierig es anscheinend immer noch ist, vom 'Übervater' Mendelssohn zu lassen, die Haskala eben als eine Bewegung mit einer gewissen (wenn auch beschränkten) Breitenwirkung anzusehen, die sich nicht auf eine Handvoll zweifellos bedeutsamer Einzelkämpfer beschränkt. Schließlich sei auch noch der Wunsch angebracht, nach Möglichkeit auch innerhalb des jüdischen Diskurses eine stärkere Kontextualisierung zu betreiben. Allzu oft bleiben die Gegner der Neuerungen, die aus der jüdischen Tradition heraus argumentieren, ungeachtet ihrer Bedeutung bloß schemenhaft - von einer einordnenden Analyse seitens der Forschung kann diesbezüglich oft keine Rede sein. Doch scheinen solche "New Perspectives" auf die Haskala des Anstoßes durch die israelische und US-amerikanische Forschung zu bedürfen. Die Chance, derlei Fragen wenigstens aufzuwerfen, wurde hier vertan.
Redaktionelle Betreuung: Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Marcus Pyka: Rezension von: Christoph Schulte (Hg.): Haskala. Die jüdische Aufklärung in Deutschland 1769-1812, Göttingen: Wallstein 1999, in: PERFORM 3 (2002), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=332>
Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.