Dietmar Willoweit (Hg.): Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Bestandsaufnahme eines europäischen Forschungsproblems (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen; Bd. 1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1999, 373 S., ISBN 3-412-15496-2, DM 88,00
Rezensiert von:
Ralf-Peter Fuchs
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München
Der Sammelband ist Ergebnis einer Tagung, die vom 2. bis 5. April 1995 in Würzburg stattfand. Diskutiert wurde über ein für Fach- wie Rechtshistoriker gleichermaßen wichtiges Thema, das von 1993 bis 1999 Gegenstand eines DFG-Forschungsschwerpunktes war: Hinter dem Titel "Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts" verbirgt sich die Frage, auf welche Weise sich der Übergang vom mittelalterlichen Kompositionensystem, das sich in Bußleistungen eines Straftäters gegenüber der von ihm geschädigten Personen manifestierte, zu einem Peinlichen Strafensystem gestaltete und welche Bedingungen und Motive diesem Wandel zugrundelagen. Ausgangspunkt des Projektes war die Kritik an älteren Erklärungsansätzen wie z.B. der "Nivellierungs-Theorie", der zufolge sich eine im Frühmittelalter nur auf Unfreie angewandte Blutgerichtsbarkeit zunehmend auf die höheren Stände erstreckt habe, oder z.B. der Vorstellung, eine Neuentdeckung altgermanischer Traditionen habe die Leib- und Lebensstrafen verbreitet. Im Kontrast zu solchen monokausalen Ansätzen wurde das Ziel formuliert, "eine konsequente Historisierung des ganzen Forschungsgegenstandes" und "eine durchgehende Interpretation der Quellen im historischen Längsschnitt, welche dem Prozeßcharakter historischer Abläufe Rechnung trägt" (S. 8), zu leisten.
Grundlage des Unterfangens, Strafrecht aus seinen verschiedenen Wurzeln zu erfassen, bildet neben der Interdisziplinarität auch die Internationalität. Auf dem Würzburger Symposion wurden Entstehungszusammenhänge der Peinlichen Gerichtsbarkeit vor allem in England, Frankreich und Deutschland erörtert. Die meisten der in den Band aufgenommenen Beiträge richten den Blick auf das Mittelalter. Aber auch frühneuzeitliche Entwicklungen werden berücksichtigt. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, daß "für die Geschichte des Strafrechts das Mittelalter erst in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts zu Ende" gegangen sei (S. 8). Der erste Beitrag beschränkt sich auf das englische Mittelalter, zieht allerdings einen weiten Bogen vom 7. bis zum 13. Jahrhundert. Roger D. Groot beschreibt eine Zunahme peinlicher Strafen seit der normannischen Eroberung, die durch die Schaffung der "jury of presentment", eines zur Anklage von Verbrechen verpflichteten Gremiums, noch verstärkt wurde, sowie eine wachsende Inanspruchnahme eines Personals an strafrechtlichen Urteilern im 13. Jahrhundert, die mit der Abschaffung der auf dem 4. Laterankonzil verbotenen Gottesurteile zusammenhing.
In ihrer Untersuchung der französische Rechtszustände im 13. und 14. Jahrhundert verfolgt auch Esther Cohen die Abnahme des privaten Elements bei der Verfolgung von Sraftaten. In einer kritischen Überprüfung der seit dem 19. Jahrhunderts in der Rechtsgeschichte vertretenen These des spätmittelalterlichen Übergangs vom Akkusations- zum Inquisitionsprozeß kommt sie zu dem Ergebnis, daß dieser Prozeß nicht einheitlich verlief, und daß beide Verfahrensarten noch bis ins 15. Jahrhundert koexistierten. Sie konstatiert nicht einen Übergang, sondern eine allmähliche Verschiebung. Neben dem Erstarken des Königtums seien viele Faktoren in die Erklärung einzubeziehen, u.a. die Herausbildung einer Schicht professioneller Juristen, die sich nicht mehr als Vermittler, sondern als unabhängige Wahrheitsfinder, "independent seekers after the truth rather than arbiters" (S. 56), verstanden und den Rahmen einer öffentlich wirksamen Justiz ständig erweiterten.
Dem läßt sich der Beitrag von Claude Gauvard vergleichend gegenüberstellen: Die Diskrepanzen zwischen Rechtstheorie und -praxis des 14. und 15. Jahrhunderts an den königlichen Gerichten sind auffällig. Gegenüber den der Todesstrafe breiten Raum einräumenden Werken der Jurisprudenz läßt sich für die Rechtsprechung am Parlement und am Châtelet eher das Prinzip der ausgleichenden Schiedsgerichtsbarkeit nachvollziehen. Gauvards Herausarbeitung des Friedenswahrungsgedankens läßt dabei unwillkürlich an die in den letzten Jahren erzielten Ergebnisse der deutschen Reichsgerichtsforschung denken. Nichtsdestoweniger stellt sie fest, daß sich Theorie und Praxis im Verlaufe des Untersuchungszeitraums immer mehr anglichen und der Zwangscharakter des Strafrechts verstärkt wurde. Der konkreten Durchsetzung des Strafrechts ist ebenfalls die Studie von James Buchanan Given zur Ketzerverfolgung im Languedoc gewidmet: Analog zur Hexenforschung werden herrschaftliche Bedürfnisse und soziale Spannungen als Faktoren benannt, die im 12./13. Jahrhundert die Durchführung von Inquisitionen erleichterten. Exemplarisch wird dem Funktionieren der Macht, der "technology of power", unter Einbeziehung lokaler Kräfte wie der Gemeindepfarrer nachgegangen.
Bei den beiden folgenden Aufsätzen handelt es sich um komparativ angelegte Studien. Die Langzeituntersuchung zur Funktion des englischen Strafrechts von James A. Sharpe umreißt einen Prozeß der "legal acculturation" (S. 122), der Verrechtlichung, stellt dabei allerdings eine Unterentwicklung der zentralen Verwaltungsstrukturen um 1600 im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten heraus. Um so bedeutender sei vor diesem Hintergrund die Einbindung lokaler und regionaler Führungsschichten in die Rechtspflege gewesen. Xavier Rousseaux geht auf der Basis verschiedenster Detailstudien der Regulierung von Tötungsdelikten im mittelalterlichen und modernen Europa nach, insbesondere in England, Frankreich, den Niederlanden und im Alten Reich. Die Wichtigkeit solcher gröberen Vergleiche ist unbestritten. Verschiedene vom Autor gezogene Schlüsse sind jedoch nicht überzeugend: Die aufgestellte Behauptung von einem Rückgang der Tötungsdelikte in europäischen Gesellschaften während der letzten Jahrhunderte entspricht keineswegs einer einhelligen Forschungsmeinung und berücksichtigt nicht in ausreichender Weise, daß in Spätmittelalter und Früher Neuzeit auch zahlreiche Fälle fahrlässiger Tötung Gegenstand der Kriminaljustiz waren. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die These von einer Stigmatisierung der Tötung durch die vermehrte Anwendung der Todesstrafe im 16. und 17. Jahrhundert zumindest hinterfragbar, insbesondere die Vorstellung, diese Form der "moralisation of homicide" (S. 156) habe eine abschreckende Wirkung entfaltet und zur Senkung der Tötungsrate beigetragen.
Mit der deutschen Strafrechtspflege beschäftigen sich drei weitere Aufsätze: Rolf Sprandel stellt "neuralgische Punkte in der Strafrechtswirklichkeit des Spätmittelalters" heraus. Konkret geht es um den Funktionswandel alter Strafrechtsinstitutionen wie Acht und Urfehde, um die Säkularisierung des Strafrechts, die Ausformung von Herrschaftsräumen zu Rechtsräumen und - unabhängig von der Kritik an diesem älteren Forschungsparadigma - die Nivellierung des Strafrechts aus einem Unterschichtenstrafrecht heraus. Dietmar Willoweit betont anhand von Fällen aus dem Hochstift Würzburg das Nebeneinander von brutalen Strafen und Geldbußpraxis bei Tötungsdelikten im Spätmittelalter, während Hans Schlosser auf der Basis von Quellen zur Kriminalrechtspraxis in Augsburg den Wandel vom Akkusations- zum Offizialverfahren im 15. und 16. Jahrhundert nachvollzieht.
Die letzten beiden Beiträge behandeln jeweils noch einmal Praxis und Theorie. Klaus Schreiner problematisiert den Stellenwert der Ehre im Strafrechtsverständnis des Mittelalters und der Frühen Neuzeit und geht dem Aufstieg und Niedergang der Ehrenstrafen nach. Ehre wird als notwendiges soziales Kapital der Menschen betrachtet, wobei in Bedeutung und Wirkungsgrad stark differierende Entehrungsformen vorgestellt werden. Schließlich rekonstruiert André Gouron den Beitrag französischer Juristen zur Entwicklung des gelehrten Strafrechts im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert anhand der Ausdifferenzierung und Klassifizierung rechtlicher Schlüsselbegriffe.
Die besondere Stärke des Sammelbandes besteht in der Darlegung sehr unterschiedlicher Blickwinkel, aus denen heraus sich die elementaren rechtlichen Wandlungsvorgänge beobachten und interpretieren lassen. Beim Lesen der Beiträge zeigt sich zudem, wie wichtig eine weitergehende internationale Verständigung über diese Materie ist. Dies gilt auch, wie der Herausgeber selbst betont, hinsichtlich einer begrifflichen Verständigung, denn es zeigt sich immer wieder, daß von unterschiedlichen Klassifizierungen und Einordnungen ausgegangen wird. So ist z.B. Roger D. Groots Kontrastierung von gerichtlichem Zweikampf und Gottesurteil, "combat" und "ordeal" (S.25), für den deutschen Rechtshistoriker, der dazu neigen dürfte, den Zweikampf zu den Gottesurteilen zu zählen, eher ungewöhnlich.
Lobend zu erwähnen sind daher auch die Anstrengungen, die von Herausgeber und Redaktion unternommen wurden, um die internationale Diskussion zu intensivieren. Den Beiträgen folgen mehrsprachige Zusammenfassungen, so daß sowohl der Deutsch- als auch der Englisch- und Französischkenntnisse besitzende Leser Hilfen beim Textzugang erhält. Eine Auswahlbibliographie neuerer ausländischer Literatur zur Historischen Kriminalitätsforschung dürfte sich ebenfalls vielfach als hilfreich erweisen.
Weitere Publikationen "in rascher Folge" zum Forschungsschwerpunkt sind angekündigt. Man darf darauf gespannt sein.
Empfohlene Zitierweise:
Ralf-Peter Fuchs: Rezension von: Dietmar Willoweit (Hg.): Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Bestandsaufnahme eines europäischen Forschungsproblems, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1999, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 3, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=40>
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