Jörg Berns / Wolfgang Neuber (Hg.): Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne (= Frühneuzeit-Studien N.F.; Bd. 2), Wien: Böhlau 2000, 800 S., mit zahlreichen Abb., ISBN 3-205-99148-6, DM 158,00
Rezensiert von:
Helmut Zedelmaier
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität, München
Die Gedächtnisgeschichte ist zweifellos das spannendste und innovativste Konzept unter den neueren Tendenzen der Geschichtswissenschaft. Ihr Mentor Jan Assmann hat den Unterschied zur 'eigentlichen' Geschichte einmal wie folgt bestimmt: Der Gedächtnisgeschichte geht es "nicht um die Vergangenheit als solche, sondern nur um die Vergangenheit, wie sie erinnert wird". Doch Assmann betont, daß die Gedächtnisgeschichte "nicht im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft" steht, sondern wie die Ideengeschichte, Sozialgeschichte, Mentalitätsgeschichte oder Alltagsgeschichte "einen ihrer Zweige" bildet. [1] Das Interesse, das die Gedächtnisgeschichte in den letzten Jahren auf sich ziehen konnte, läßt sich als Ausdruck einer 'fragwürdig' gewordenen Vergangenheit verstehen. Assmann hat drei Faktoren für diese Fragwürdigkeit ausgemacht: die durch die neuen elektronischen Medien ausgelöste "kulturelle Revolution", die verbreitete Auffassung, einer Zeit anzugehören, in der die Vergangenheit als etwas erlebt wird, das "allenfalls als Gegenstand der Erinnerung und kommentierenden Aufarbeitung weiterlebt", und schließlich drittens (als "der existentielle Kern des Diskurses") die Erfahrung, daß mit dem Aussterben einer "Generation von Zeitzeugen der schwersten Verbrechen und Katastrophen in den Annalen der Menschheitsgeschichte" eine Epoche lebendiger Erinnerung zu Ende geht.
Mit der Aufmerksamkeit für die Gedächtnisgeschichte wuchs in den letzten Jahren auch die für die Techniken der Erinnerung, für die ars memorativa, über die in Mittelalter und Früher Neuzeit, in Anknüpfung an antike Textstellen, eine reiche Tradition an Texten instruierte. Eigentlich haben Gedächtnisgeschichte und Mnemotechnik nur insofern etwas miteinander zu tun, als es beiden um das Thema Erinnerung geht. Denn die Gedächtnisgeschichte, wie sie Jan Assmann versteht und bearbeitet, interessiert sich für die kollektive Erinnerungskultur, die Mnemotechniken dagegen gehen von der Sorge für das individuelle Gedächtnis aus; sie vermitteln Techniken, mit deren Hilfe das 'natürliche' Gedächtnis 'künstlich' verbessert werden soll. Es gehört zu den Vorzügen des vorliegenden Bandes über Mnemotechniken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Verbindungslinien sichtbar gemacht zu haben, die in der Vormoderne zwischen der allgemeinen Gedächtnisgeschichte und der auf das Individuum bezogenen Mnemotechnik bestanden. Sie werden etwa, um ein plastisches Beispiel herauszugreifen, im Beitrag Geschichtsgedächtnis am Körper von Thomas Rhan deutlich, der vorführt, wie die für die Vergewisserung der Vergangenheit von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit so wirkmächtige Figur der WeltreicheProphetie des Buchs Daniel sogar in Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs (wie Spiegel oder Schreibtisch) kunstvoll eingearbeitet wurde, um sächsischen Fürsten des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts das universale Geschichtsgedächtnis ihrer Zeit einprägsam zu vergegenwärtigen.
Die insgesamt 28 Beiträge, welche die Herausgeber Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber auf 800 Seiten versammeln, können hier nicht im einzelnen vorgestellt werden. Die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Mnemotechnik wird in den fünf Abschnitten des Buchs ("Rhetorik und ars memorativa"; "Philosophie/Wissenschaftsgeschichte und ars memorativa"; "Ikonographie und ars memorativa"; "Schriftlichkeit und ars memorativa"; "Musik und ars memorativa") auf sehr unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Aspekten zum Gegenstand der Erörterung. Neben Untersuchungen zu einzelnen ars memorativa-Traktaten finden sich vor allem Beiträge, in denen die Mnemotechnik im Kontext zeitgenössischer Wissenschaft und ihres Datenträgers Schrift gelesen und ausgelegt wird. Es handelt sich überwiegend um hoch differenzierte Studien, die (besonders im Abschnitt "Philosophie/Wissenschaftsgeschichte und ars memorativa") an Komplexität ihren heute oft schwer durchschaubaren Untersuchungsgegenständen in nichts nachstehen. Manchmal hätte man sich ein stärkeres Bemühen um (fach-)übergreifende Perspektiven und Zusammenhänge gewünscht.
Im Vorwort bestimmen die Herausgeber als Ziel des Bandes die bislang in der Mnemotechnickforschung Desiderat gebliebene "Erprobung von fächerübergreifenden theoriegeleiteten Perspektiven". Im Nachwort entwerfen Jörg Berns und Wolfgang Neuber eine solche Perspektive unter dem theoretischen Leitbegriff "Seelenmaschinen". Es liegt an dem doch sehr unterschiedlichen Charakter der Einzelbeiträge, wenn diese Skizze als Zusammenschau und theoretischer Rahmen nur bedingt zu überzeugen vermag. Anstöße allerdings für die Arbeit an einer disziplinenübergreifenden Neuorientierung der Kulturwissenschaften gibt es in dem Band zahlreiche, der deshalb insgesamt als ein starkes Argument für eine schon vor acht Jahren gemachte Beobachtung Jan Assmanns gelesen werden kann: "Alles spricht dafür, daß sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaft aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder - Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht - in neuen Zusammenhängen sehen läßt." [2]
Anmerkungen:
[1] Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München/Wien 1998, 26 f.
[2] ebd.
Empfohlene Zitierweise:
Helmut Zedelmaier: Rezension von: Jörg Berns / Wolfgang Neuber (Hg.): Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, Wien: Böhlau 2000, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=55>
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