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Andreas Freitäger: Johannes Cincinnius von Lippstadt (ca. 1485-1555). Bibliothek und Geisteswelt eines westfälischen Humanisten (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XVIII, Westfälische Bibliographien; Bd. 10), Münster: Aschendorff 2000, 438 S., ISBN 3-402-06766-8, DM 49,00

Rezensiert von:
Werner Frese
Westfälisches Archivamt, Münster

Cincinnius oder Kruyshaer (Kraushaar) ist eine nicht unbedeutende Figur einer christlich-humanistischen Gelehrtenwelt, die sich westlich und östlich des Niederrheins unter Rezeption des italienischen und französischen Humanismus mit hervorragenden Vertretern etabliert hatte. Als deren Zentrum definiert Freitäger die Kölner Universität und das damals auf sie ausgerichtete Bildungswesen im Kölner Metropolitanverband (Lateinschulen, devotio moderna). Sprachlich zeichnet sich dieser Raum durch den Gebrauch der nordwestdeutschen Regionalsprachen aus.

Freitäger rückt die via media und den Erasmianismus, die konfessions- und kirchenpolitisch phasenweise in diesem weit gefaßten niederrheinischen Raum eine Rolle spielten, einschränkend zurecht. In diesem Umfeld beschreibt er Leben und Werk des in Lippstadt geborenen Cincinnius, und zwar anhand einer Analyse seiner der Bibliothek der Abtei Werden einverleibten Bücher, die, wenngleich sie mit der Klosterbibliothek zerstreut wurden, mit 153 von ursprünglich 157 Titeln doch an verschiedenen Standorten noch erhalten sind; - ein Glücksfall, den der Biograph mit großer Findigkeit auszuwerten versteht. So arbeitet er anhand einer Individualbiographie die Entwicklung des Humanismus in den "Niederen Landen" zwischen 1470 und 1555 heraus. Darin kommt den zeitlich gruppierten Bucherwerbungen und den eigenen Publikationen Kruyshaers großes Gewicht zu.

Die ersten sechs sowie das elfte Kapitel der Arbeit befassen sich mit Lebensabschnitten des Humanisten, Kapitel sieben bis zehn versuchen seine Einordnung vor dem größeren geistesgeschichtlichen Hintergrund und befassen sich mit der schriftstellerischen Tätigkeit des geistlichen Gelehrten, gipfelnd in der Analyse seiner Bibliothek. Der Ertrag mündet in einer Neubewertung des Niederrheinischen Humanismus, der in seinem christlich geprägten Gedankengut nicht als erasmianisch vereinnahmt werden kann. Für Cincinnius war Erasmus vorbildlich als Streiter der "Methodenpluralität gegenüber der affirmativen, normativzentrierten Theologie Luthers". Der Kreis um Konrad von Heresbach, Erasmus, Cincinnius und andere Humanisten wurzelt in der devotio moderna, der eine auf Augustinus und Thomas von Aquin gegründete Theologie methodisch um Elemente des Bibelhumanismus erweiterte, deren weitere Konsequenz durchaus seelsorgerische Tätigkeit war. Die persönlichen Beziehungen der Gelehrten untereinander in der Frühphase des Niederrheinischen Humanismus bei dieser Einstellung sprechen daher für ihr Verbleiben in der alten Kirche.

Johannes Kruyshaer wurde zwischen 1484 und 1488 in einer nicht gänzlich unvermögenden, aber nicht dem Bürgertum angehörenden Familie Lippstadts geboren, das von den spätmittelalterlichen Reformbewegungen nicht unberührt blieb. Spätestens mit Beginn des 16. Jahrhunderts besuchte Cincinnius die Schule (Paulinum) in Münster, wo die Vorbereitung auf das Universitätsstudium betrieben und ein gemäßigter Humanismus gelehrt wurde. Kruyshaer war Alumne des geistig regen Fraterhauses in Münster, und damit liegt sein Berufsziel, Mönch zu werden, nahe. 1502 immatrikulierte er sich an der Kölner Universität (erster biographischer Nachweis!) und studierte dort bis 1504. Dabei lernte er den "Bursenhumanismus" kennen, der wesentlich von münsterischen Domschulrektor Timan Kemener beeinflußt war. Die Entscheidung für die thomistische Lehre, die mit dem Beitritt zur bursa montis verbunden war, schlägt sich in den Büchererwerbungen Cincinnius' nieder. Aus den darin enthaltenen Marginalien und Interlinearglossen, die übrigens auch die bis dahin spärlichen biographischen Daten ergänzen, schließt Freitäger auf den Inhalt und Gang seines Studiums. Unter den mathematisch-naturwissenschaftlichen Studien widmete sich Cincinnius schwerpunktmäßig der Astronomie und Geometrie, die ihm noch in der Werdener Zeit nützlich sein sollten. Während des Studiums ging er über einen rein sprachlich ausgerichteten christlichen Humanismus hinaus. Sein Anschluß an den Kreis um den münsterischen Humanisten und Domherrn Rudolf von Langen ist gleichzeitig eine Hinwendung zu einer historischen Betrachtungsweise der Literatur. Hier beobachtete Cincinnius auch den Versuch der Theologen, alle anderen universitären Wissenschaften auf sich hin- und unterzuordnen (Re-Theologisierung). Seine frühere Zugehörigkeit zur bursa montis trug es ihm ein, daß er zu Unrecht in den Epistolae obscurorum virorum (1515) unter den Dunkelmännern eingereiht wurde.

Damals stand Cincinnius bereits in Diensten der Abtei Werden, seit 1505 als Sekretär, dann als Leiter der Bibliothek und des Archivs. 1509 empfing er die Priesterweihe, in dieser Funktion war er als Weltgeistlicher Kaplan dreier Werdener Äbte. Diese Präbenden, die er bis zum Lebensende (1555) behielt, erlaubten es ihm, seine Studien (u. a. des Griechischen) fortzusetzen und als Schriftsteller tätig zu werden. 1540 endete krankheitsbedingt sein aktives geistiges Schaffen, und seine Erwerbungen von Büchern gingen spürbar zurück. Sie, die in ihnen enthaltenen Notizen und die Werke des Schriftstellers Cincinnius dienen dazu, den Horizont seiner geistigen Welt zu ermitteln.

In Werden betätigte sich Cincinnius als Hagiograph, wobei er durchaus quellenkritisch vorging, ohne z. B. die praktische Verehrung der Heiligen oder der Heiltümer infrage zu stellen (Liber sermocinalis de vita [...] beatae Idae von 1512, Vita divi Ludgeri von 1512 niederdeutsch, 1515 lateinisch; das Frageboich von 1527, Makkabäerlegende von 1528/24, Van der niderlage drijer legionen von 1539). In den zwei Redaktionen der Ludgerusvita offenbaren sich verschiedene Intentionen. Mit der niederdeutschen Vita sollte das Volk angesprochen werden, die zweite ist im erasmianischen Geist des Bibelhumanismus überarbeitet und bezweckt u. a. eine monastische Reformierung. Cincinnius setzte sich nach 1515 überhaupt intensiver mit der Theologie und Philosophie des Rotterdamers auseinander, studierte sein Novum instrumentum und seine philosophia Christi, las das Enchiridion militis, vertiefte seine Griechischkenntnisse und erweiterte seinen Bibelhumanismus. Die Makkabäerlegende steht im Zusammenhang mit der Ausstattung des Makkabäerklosters, an der sich der Werdener Abt Johannes von Groningen beteiligte. Mit diesem Werk bezeugt Cincinnius seine Nähe zur philosophia christiana und zu Rudolf von Langen. Seine - möglichst alle Quellen verarbeitende - Arbeitsweise hatte integrative Intentionen.

In der Zeit zwischen 1520 und 1525 nahm Cincinnius das lutherische Gedankengut zur Kenntnis, offenbar erfolgte jedoch keine direkte Auseinandersetzung mit ihm, sondern nur auf dem Umweg über Schriften des Erasmus von Rotterdam. Auch dies schlägt sich in seinen Bücherbeschaffungen nieder. Wenngleich Cincinnius mehr Gemeinsamkeiten als ernsthafte Differenzen mit Erasmus hatte ("denn schließlich gibt es Dinge, die man auf sich beruhen lassen kann, ohne dem Glauben Abbruch zu tun", Erasmus, Adagia), so gehen letztere wohl darauf zurück, daß Cincinnius als Präbendar des Klosters Werden den von Erasmus ob ihrer Unbildung verachteten Mönchen bzw. monastischen Reformen nahestand. Als Lehrer in Werden hat C. das Niveau dieser Schule auf das der Emmericher Lateinschule angehoben und so dem christlichen Humanismus eine weitere Plattform für eine bibelorientierte Frömmigkeit geschaffen.

Einem ganz anderen, naturwissenschaftlichen Thema widmete sich C. mit seinem Frageboich, das nach Freitäger im Sinne des Bibelhumanismus aufklärerisch sein wollte. Eine kritische Stellung nahm der Gelehrte auch zur Magie ein, die er von der Magia naturalis unterschied. Auch hier behandelt Cincinnius die Frage der Prädestination und der menschlichen Freiheit, die ihn sein ganzes Leben beschäftigte.

In seiner letzten Schrift Van der niderlage drijer legionen behandelt C. den Untergang des römischen Heeres in der Varusschlacht. Dieses Werk war dazu gedacht, Herzog Wilhelm V. von Kleve, Erbvogt des Klosters Werden, von einem Übertritt zum Protestantismus abzuhalten, mit dem auch dem niederrheinischen Reformkatholizismus eine Stütze entzogen gewesen wäre. Beide Möglichkeiten waren Grund genug für Cincinnius, zur Feder zu greifen.

Seine Forschungen läßt Freitäger in einer Analyse der Bibliothek seines Gelehrten einmünden, die als Katalog mit ihren heutigen Standorten noch einmal auf dem Papier aufgestellt wird. Unter den Anhängen ist ein Verzeichnis ihrer Druckorte hervorzuheben.

Die Lektüre dieses Buches ist durchaus spannend, zumal Freitäger mit viel Scharfsinn biographische Daten des Gelehrten und seine geistige Entwicklung aus dem fast geschlossenen Corpus seiner Bibliothek herauszuziehen versteht. Die Einbettung in den Humanismus der "Niederen Lande" und alle ihn bewegenden Themen kommt nicht zu kurz. Den erasminianischen Bücherliebhaber ärgert allenfalls der Druck der vorliegenden Studie, die im äußeren Druckbild (Spatien) und textlich Nachlässigkeiten aufzeigt, wie sie bei Texten gehäuft vorkommen können, die am Computer hergestellt wurden, und trotz Korrekturlesens durch Kollegen des Autors an der Archivschule Marburg nicht ausgemerzt werden konnten.

Empfohlene Zitierweise:

Werner Frese: Rezension von: Andreas Freitäger: Johannes Cincinnius von Lippstadt (ca. 1485-1555). Bibliothek und Geisteswelt eines westfälischen Humanisten, Münster: Aschendorff 2000, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=59>

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