Dieter Langewiesche / Georg Schmidt (Hg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München: Oldenbourg 2000, 429 S., ISBN 3-486-56454-4, DM 98,00
Rezensiert von:
Friedrich Beiderbeck
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Der vorliegende Band beinhaltet die Beiträge einer Tagung, die im April 1998 in Weimar stattgefunden hat. Das Leitthema, das die Voraussetzungen, Entwicklungen und Veränderungen der Vorstellungen von einer deutschen Nation vom 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt stellt, setzt seinen zeitlichen Schwerpunkt auf die Frühe Neuzeit, die uns hier auch in erster Linie interessiert, und versucht damit, mögliche Traditionslinien und antizipatorische Begrifflichkeiten vor der Epoche des "klassischen Nationsgedankens" im 19. Jahrhundert zurückzuverfolgen.
Die Diskussion zwischen HistorikerInnen, Literatur- und SprachwissenschaftlerInnen bietet eine vielschichtige und überzeugende Auseinandersetzung mit dem Nationsbegriff. Die Beiträge sind in fünf größeren Themengruppen konzentriert, die sich mit der Wahrnehmung von Kriegen als Medium nationaler Identifikation, der Idee der Nation als Teilhabeverheißung, dem Zusammenhang von Sprache und Nation, den Eigen- und Fremdkonstruktionen nationaler Stereotypen sowie mit Geschlecht und Nation befassen.
Die inhaltlichen Eckpfeiler in der Beurteilung der Frage nach dem Stellenwert des deutschen Nationsdiskurses vor 1800 bieten die Herausgeber Georg Schmidt und Dieter Langewiesche selbst. Schmidt (Teutsche Kriege: Nationale Deutungsmuster und integrative Wertvorstellungen im frühneuzeitlichen Reich, S. 33-61) erneuert seine These von der eindeutigen frühneuzeitlichen Existenz eines "nationalen Wertesystems", das in seiner Betonung der - freilich höchst verschieden interpretierbaren - spezifisch deutschen Rechts- und Freiheitsvorstellungen übergreifend nicht nur die politisch-herrschaftlichen Eliten, sondern ebenso den "gemeinen Mann" umfaßt, und das in Zeiten von Kriegen und fremder Intervention auf deutschem Boden eine besondere mobilisierende und integrierende Kraft entwickelt habe.
Der Spätneuzeitler Langewiesche bleibt da eher skeptisch (Nation', Nationalismus', Nationalstaat' in der europäischen Geschichte seit dem MA - Versuch einer Bilanz, S. 9-30; Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation, S. 215-242). Auch wenn er der frühneuzeitlichen Nationsbegrifflichkeit eine unbestreitbare ideengeschichtliche Relevanz zubilligt, die Idee der modernen Nation und ihre Dynamik sind für Langewiesche nicht zu trennen von der Entwicklung der Staatsbürgergesellschaft, die erst im 18. Jahrhundert eingesetzt und sich im 19. Jahrhundert breitenwirksam durchgesetzt habe.
Dieter Mertens (Nation als Teilhabeverheißung: Reformation und Bauernkrieg, S. 115-134) unterscheidet für das ausgehende 15. und beginnende 16. Jahrhundert zwischen zwei auf die deutschen Verhältnisse bezogenen Nationskonzepten, zwischen einem den Germanenmythos zugrundelegenden historisch-mythographischen Typus einerseits und einem reformerisch-biblizistischen Typus, der eine kirchlich-gesellschaftliche Neuordnung bezweckte, andererseits, wobei die nationale Kategorie nur als politisches und sprachliches Instrument fungiert.
Das brisante und zweifellos wechselseitig fruchtbare Verhältnis zwischen Föderalismus und Nation in Deutschland ist Thema einiger weiterer Beiträge. Maiken Umbach betont zurecht, daß föderalistische Traditionen vom borussisch dominierten Deutschlandbild entwertet und im eigenen Sinn einseitig finalistisch interpretiert wurden (Reich, Region und Föderalismus als Denkfiguren in politischen Diskursen der Frühen und der Späten Neuzeit, S. 191-214). Die altreichisch-partikularistische Verfassung galt aber für den Nationalismus des 19. Jahrhundert auch positiv konnotiert als spezifisch deutsches Nationalerbe, das durchaus der Rechts - und Verfassungsstaatlichkeit eines zukünftigen Reiches zugrunde gelegt werden sollte. Eine wichtige Bestandsaufnahme, die auch von Langewiesche geteilt wird (Föderativer Nationalismus, s.o.), und die den bisherigen Bruch im Verständnis einer deutschen Nation vor und nach 1800 um einiges relativiert.
Den Gegensatz zwischen "Reichsnationalismus" und "Territorialnationalismus" untersucht Wolfgang Burgdorf (Phasen der Intensivierung des nationalen Bewußtseins in Deutschland seit dem Siebenjährigen Krieg, S. 157-189). Die Diskussion um den Fortbestand der Reichsverfassung wird dabei als "Inszenierung der konkurrierenden deutschen Obrigkeiten" charakterisiert, ausgelöst vom preußisch-österreichischen Dualismus. Die besonders von preußischer Seite belebten antireichischen Argumentationsmuster mündeten jedoch schließlich in einen übergreifenden antinapoleonischen Patriotismus, der wiederum einen neuen gesamtdeutschen Einheitsgedanken hervorbrachte.
Der Zusammenhang von Sprache und Nation ist ein weiteres Leitthema des Bandes. Daß sich eine vom deutschen Norden beeinflußte Normierung der Schriftsprache im 18. Jahrhundert auch in Süddeutschland und Österreich durchsetzte und Einfluß auf die Ausbildung eines neuen Nationalbewußtseins ausübte, belegt Ingo Reiffenstein (Deutsch in Österreich vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, S. 293-305).
Einen Einblick in die Bedeutung des im Umkreis der Sprachgesellschaften angesiedelten kulturpatriotischen Schrifttums bietet dagegen Wilhelm Kühlmann (Sprachgesellschaften und nationale Utopien, S. 245-264). Der Hauptverdienst der Sprachgesellschaften habe darin bestanden, das sprachlich-literarische Moment der Kategorie Nation' zu Bewußtsein gebracht zu haben.
Anhand von Reiseberichten lassen sich Aspekte der Fremdwahrnehmung verdeutlichen. Die Konfessionsspaltung und die von ihr bewirkten Erschütterungen wie der Dreißigjährige Krieg stellten für den fremden Beobachter ein Hauptmerkmal des Deutschlandbildes dar. Die reichische Verfassungswirklichkeit führte aber dazu, daß ein vollständiges Bild der politischen Realitäten kaum entstehen konnte. Eine Nationsdefinierung wurde auch dadurch erschwert, daß Reichsgrenzen und Sprachgrenzen nicht als identisch wahrgenommen wurden (vgl. Michael Maurer, Außenwahrnehmung: Deutschland und die Deutschen im Spiegel ausländischer Reiseberichte, S. 309-325).
Daß der Begriff Grenze' ein ergiebiger Gegenstand für politische, kulturelle und soziale Fremdwahrnehmung ist, beweist die konzise Untersuchung von Reinhard Stauber ("Italia" und "Germania" - Konstruktionen im Alpenraum, S. 327-344). Obwohl sich sprachlich-kulturelle, politisch-administrative (teilweise auf die römischen Verwaltungsgrenzen zurückgehend) und naturräumlich-geographische Grundtypen der Abgrenzung ermitteln lassen, erhielt im neuzeitlichen Prozeß des ethnischen Sich-Abgrenzens die kulturelle Wahrnehmung eine immer gewichtigere Funktion. Eine klare sprachliche Grenzziehung (Lauf des Avisio) ist bereits im 15. Jahrhundert deutlich zu beobachten, obgleich sie mitnichten der politischen Grenze zwischen dem habsburgischen und venezianischen Besitz entsprach.
Im Hinblick auf die Fragestellung Geschlecht und Nation' äußert sich Siegrid Westphal zu Möglichkeit und Bedeutung weiblicher Partizipation am Nationsdiskurs (Frauen der Frühen Neuzeit und die deutsche Nation, S. 363-385). Der internationale Bildungswettstreit habe dazu geführt, daß seit dem 15. Jahrhundert Frauen die Teilhabe an der Idee einer vorwiegend kulturell definierten Nation bedingt ermöglicht werden sollte, ohne daß damit freilich etwas an der gesellschaftlichen Verteilung der Geschlechterrollen geändert worden sei. Durch eine Beförderung der Interessen der deutschen Sprachnation und das Eintreten für eine christlich-ethische Gesellschaftsordnung schien es einer begrenzten Frauenelite offenbar möglich, den männlich bestimmten nationalen Tugend- und Pflichtenkatalog aufzubrechen. Dies bestätigt Ute Planert (Zwischen Partizipation und Restriktion: Frauenemanzipation und nationales Paradigma von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, S. 387-428) mit der Beobachtung, Frauen hätten sich durch die emanzipatorische Strategieformel, "Politik als angewandte Vaterlandsliebe" einen politisch-öffentlichen Betätigungsraum geschaffen.
Weitere Beiträge von Horst Carl (Der Mythos des Befreiungskrieges: Die "martialische Nation" im Zeitalter der Revolutions- und Befreiungskriege 1792-1815, S. 63-82), Nikolaus Buschmann (Volksgemeinschaft und Waffenbruderschaft: Nationalismus und Kriegserfahrung in Deutschland zwischen "Novemberkrise" und "Bruderkrieg", S. 83-111), Joachim Bauer (Student und Nation im Spiegel des "Landesvater"-Liedes, S. 135-155), Klaus Manger ("Klassik" als nationale Normierung?, S. 265-291) und Alon Confino (Konzepte von Heimat, Region, Nation und Staat in Württemberg von der Reichsgründungszeit bis zum Ersten Weltkrieg, S. 345-359) behandeln das 19. und frühe 20. Jahrhundert.
Aus Sicht der Frühneuzeitforschung kann einmal mehr festgehalten werden, daß Wahrnehmungsmuster eines nationalen Wertegefüges und auch entsprechende rudimentäre politische Handlungskonzepte spätestens seit dem 16. Jahrhundert vorhanden sind. Dabei fällt "die Kluft zwischen der angeblich vormodernen, vorpolitischen Zugehörigkeits-, Stände- oder Kulturnation und der modernen, politischen Mitwirkungs- bzw. Staatsnation" (Schmidt, S. 59) nicht mehr unüberwindlich aus, ohne daß indes - trotz der zumindest theoretisch vorhandenen frühneuzeitlichen Einigkeitsideen - in Frage gestellt werden kann, daß eine breitenwirksame, partizipatorisch und demokratisch verankerte Zusammengehörigkeitsgemeinschaft "Nation" doch erst Sache der postrevolutionären Epoche wurde. Als Fazit bleibt: Es handelt sich hier um einen in seiner Vielfalt sehr schönen, allerdings auch recht teuren Band.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Beiderbeck: Rezension von: Dieter Langewiesche / Georg Schmidt (Hg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München: Oldenbourg 2000, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=67>
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