Anette Völker-Rasor (Hg.): Frühe Neuzeit. Mit einem Geleitwort von Winfried Schulze (= Oldenbourg Geschichte Lehrbuch), München: Oldenbourg, 507 S., ISBN 3-486-56426-9, DM 69,00
Rezensiert von:
Hilke Günther-Arndt
Historisches Seminar, Universität Oldenburg
Um es vorweg zu sagen: Die Arbeit mit und an diesem Buch kann allen Studierenden empfohlen werden, ebenso Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern, aber auch Lehrenden an Universitäten, die von hochschuldidaktisch reflektierten Erfahrungen Anderer profitieren möchten.
Der Band "Frühe Neuzeit" eröffnet eine neue Reihe des Oldenbourg Verlages, die sich programmatisch "Geschichte Lehrbuch" nennt. Schon seine äußere Gestaltung hebt es von den üblichen Einführungen ab: Ein großes Format mit einem robusten Einband, für häufiges Nachschlagen also geeignet, der Druck ist zweispaltig, in die Texte sind Spalten oder Seiten integriert, die der Information dienen (z. B. Zeittafeln, Schemata, Karten) oder den Autorentext erweitern (z. B. Bildinterpretationen, Kurzbiografien, Forschungsstimmen oder als "Detailskizzen" bezeichnete Erläuterungen zu Strukturen oder Begriffen). Es gibt keine Fußnoten, dafür aber zu jedem Abschnitt gut ausgewählte Hinweise auf Literatur, in der Regel auf solche aus den neunziger Jahren. Konzeption und Layout gleichen bis auf den Schwarz-Weiß-Druck und die Papiersorte in vieler Hinsicht amerikanischen textbooks oder neueren Lehrbüchern für die Sekundarstufe II. Dazu passt, dass unter einer Herausgeberin eine Reihe von Autorinnen und Autoren die Texte geschrieben hat. Dieses Autorenteam von überwiegend jüngeren Historikerinnen und Historikern eint offensichtlich dreierlei: fachliche Kompetenz für die Frühe Neuzeit, Interesse an einer guten Hochschullehre sowie die Überzeugung, dass auch das Geschichtsstudium internationalisiert werden muss.
Der Band gliedert sich in vier große Kapitel. In einem ersten Durchgang (13-124) wird die Geschichte der Zeit zwischen etwa 1500 und 1800 unter einem chronologischen Zugriff dargestellt, und zwar in zwei Schritten: Zunächst im "Europa-", dann im "Welt-Maßstab". Im Mittelpunkt steht allerdings nicht die Vermittlung ereignisgeschichtlicher Grundkenntnisse. Die jeweils drei Unterabschnitte orientieren sich vielmehr an der Herausbildung neuer Strukturen, z. Bsp. der "Begegnung der Kulturen" seit 1492 oder der "Verdichtung von Herrschaft" nach 1648. Alle Unterabschnitte sind durch Spitzmarken nur noch sparsam gegliedert. Einleitend wird das Thema in einen begrifflichen und strukturellen Zusammenhang gestellt, der die Formung der prinzipiell unbegrenzten Stoffmasse erlaubt. Der Abschnitt "Um 1776/91: Atlantische Revolution" schärft so zunächst den Blick für die Begriffe "atlantische Geschichte" und "transatlantische Geschichte" mit den dahinter liegenden Denkkonzepten und arbeitet das Besondere der Amerikanischen Revolution heraus, bevor ein Überblick zu den Anfängen der USA einsetzt. Dieses Vorgehen ist sinnvoll, setzt aber ereignisgeschichtlich gut informierte Leserinnen und Leser voraus.
Das zweite Kapitel "Zugänge zur frühen Neuzeit" (143-254) erschließt die Epoche unter ausgewählten systematischen Gesichtspunkten und zwar wieder in einem Doppelschritt. Der erste Teil behandelt Fragen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Mentalitätengeschichte und der Geschlechtergeschichte in der Frühen Neuzeit, im zweiten Teil geht es um die Kooperation mit anderen Fächern: mit der Volkskunde, mit der Literaturwissenschaft und mit der Kunstgeschichte. Hier tritt stärker als im ersten Kapitel hervor, dass sich das Autorenteam, wenn auch moderat, der neuen Kulturgeschichte verpflichtet fühlt. Die theorieförmigen Textelemente wirken aber an keiner Stelle aufgesetzt, sie werden plausibel und in der Regel anschaulich aus dem historischen Material abgeleitet.
Das dritte (Doppel)Kapitel widmet sich dem "Vorgehen der Forschung" (273-380). Noch mehr als in den anderen Kapiteln bewährt sich hier die hochschuldidaktische Erfahrung der Autorinnen und Autoren, gelingt es ihnen doch, das, was traditionell "Historik" genannt wird, im ersten Teil ("Erkenntnis gewinnen und wiedergeben") in drei Schritten zu vermitteln, die den Prozess historischer Forschung nachzeichnen: Erkenntnis, Deutung und Darstellung. Der Text über "Das Schreiben der Geschichte" erläutert das Problem der Darstellung so konkret und gleichzeitig so theoretisch reflektiert, dass die Leserinnen und Leser der Argumentation des Autors fast mühelos folgen können. Der zweite Teil wendet sich der Praxis der Forschung zu und behandelt nacheinander frühneuzeitspezifische Quellengattungen sowie zentrale Untersuchungsgebiete mit ihrem Kategoriengerüst. Beides wird an konkreten historischen Ereignissen und Entwicklungen erläutert. Als letzter Schritt folgen die "Instrumente" der Forschung: "Historische Arbeit im Zeitalter des Computers". Die Erläuterungen zu den Anwendungsgebieten Textverarbeitung, Literaturverwaltung mit Datenbanken, Informationsverarbeitung durch Datenbanken und Internet sind - wie alle Teile dieses Kapitels - auf andere Epochen der Geschichte übertragbar.
Spätestens beim vierten Kapitel wird deutlich, dass dieses "Lehrbuch" keine übliche Einführung für Studienanfänger ist. Es behandelt die "Einrichtungen der Forschung" in drei konzentrischen Kreisen: Deutschland, Europa, Welt. Besonders spannend sind die Ausführungen zu Asien und Afrika, weil sie den Blick auf ganz andere Wahrnehmungen und Deutungen von Zeit und Geschichte lenken, auch wenn die Autoren bewusst den Zusammenhang der geschichtswissenschaftlichen Forschung in aller Welt betonen. Dieses Kapitel werden "Fortgeschrittene" mit ebenso großem Gewinn lesen wie "Anfänger", nicht nur wegen der nützlichen Informationen. Überhaupt ist zu fragen, ob nicht die übliche Arbeitsteilung zwischen Grund- und Hauptstudium, die teilweise auch noch dieses Lehrbuch prägt, revidiert werden sollte. Didaktisch setzt sich immer mehr die Einsicht durch, dass Lernen auf "Vorrat" im Vergleich mit dem Lernen an "Stationen" relativ unproduktiv ist. Manches, was heute in Proseminaren gelernt und mangels Anwendungsmöglichkeiten vergessen wird, könnte sinnvoll auch im Hauptstudium erarbeitet werden. Das Lehrbuch "Frühe Neuzeit" bietet dafür die Möglichkeiten - zumindest Studierende dürften damit in allen Phasen ihres Studiums arbeiten.
Zwischen den vier Hauptkapiteln finden sich drei Exkurse zur Technik des wissenschaftlichen Arbeitens im Fach Geschichte: wissenschaftliches Lesen, Arbeit mit Quellen und Präsentation eines Themas. Die Sonderstellung dieser Abschnitte äußert sich auch in der Sprache: Hier werden die Leser direkt angesprochen, und damit werden auch die Autoren als Personen sichtbar. Etwas enttäuschend ist der geringe Bezug zwischen den Abschnitten zur "Arbeit mit den Quellen" und "Quellen als Texte gelesen". Am besten gelungen ist der Beitrag der Herausgeberin Anette Völker-Rasor zum hochschuldidaktischen Stiefkind "Wie präsentiere ich die Ergebnisse meiner Arbeit?". Ihrer Feststellung, die Geschichtswissenschaft sei hinsichtlich der Präsentation ihrer Ergebnisse ziemlich traditionell und könne von anderen Fachgebieten (Wirtschaftswissenschaften, Pädagogik, Psychologie, Philologien) manches lernen, kann kaum widersprochen werden. Die Autorin geht das Thema weder rezeptologisch nach dem Muster "Mit einem Witz beginnen und dann alle drei Minuten eine Folie" noch theoretisch an. Sie beschreibt vielmehr präzise im Zusammenhang der Lesekenntnisse aus anderen Kapiteln, welche Aufgaben bei der Präsentation eines Themas bewältigt werden müssen und wie man sich mental und praktisch darauf einstellt, etwa bei der Organisation des Materials und der sprachlichen Präsentation. Besonderen Nachdruck legt sie dabei auf die "Beteiligung von Geist und Körper" und nimmt damit neuere Erkenntnisse der Lernpsychologie auf. Wenn sie zusammenfassend hervorhebt, dass oft erst die Präsentation Mängel in der theoretischen Durchdringung des Themas offenbart, stellt sie diese gewöhnlich als "Präsentationstechnik" vernachlässigte Dimension des Geschichtsstudiums in den richtigen Zusammenhang von Erkenntnis, Deutung und Darstellung.
Um es abschließend zu wiederholen: Dies ist ein gelungenes Werk für das Studium der Geschichte, das neue Herausforderungen wie veränderte Studierende oder Internationalisierung ernst nimmt. Die Konzeption und deren Ausführung kann gewiss in manchen Punkten noch verbessert werden. Gerade deshalb ist dem Werk eine breite Rezeption zu wünschen: Es könnte die bisher nur am Rand, nicht im Zentrum des Faches geführte Diskussion über eine Reform des Geschichtsstudiums voranbringen.
Empfohlene Zitierweise:
Hilke Günther-Arndt: Rezension von: Anette Völker-Rasor (Hg.): Frühe Neuzeit. Mit einem Geleitwort von Winfried Schulze, München: Oldenbourg, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 6, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=81>
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