Notker Hammerstein / Gerrit Walther (Hg.): Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen: Wallstein 2000, 312 S., ISBN 3-89244-379-3, DM 58,00
Rezensiert von:
Peter Arnold Heuser
Bonn
Die Idee eines "deutschen Späthumanismus um 1600 als Standeskultur", die Erich Trunz 1931 in die germanistische Literaturwissenschaft einführte, bürgerte sich seit den 1960er Jahren nicht allein in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft ein, sondern fand auch unter Historikern zunehmend Anklang. Da der Begriff Späthumanismus bis heute alles andere als scharf konturiert ist, bestand Grund genug, sich fachübergreifend über die kulturgeschichtlichen Phänomene zu verständigen, die unter ihm subsumiert werden können. Der angezeigte Sammelband vereinigt 15 Referate eines Symposions, das im September 1998 an der Universität Tübingen stattfand. Als Referenten waren mehrheitlich Historiker geladen (Notker Hammerstein, Maximilian Lanzinner, Ian Maclean, Dieter Mertens, Nicolette Mout, Ulrich Muhlack, Alois Schmid, Antje Stannek, Gerrit Walther), aber auch Literaturwissenschaftler (Aleida Assmann, Fidel Rädle, Klaus Reichert, Conrad Wiedemann) und Kunsthistoriker (Andreas Beyer, Andreas Tönnesmann).
Notker Hammerstein reflektiert einleitend den Befund, dass die Erfolgsgeschichte der Trunz'schen Späthumanismus-Konzeption auf den deutschen Sprachraum beschränkt blieb (12): "Es ist sicherlich bezeichnend, dass sich dieser Terminus in anderen Sprachen nicht eingebürgert hat, selbst dann nicht, wenn entsprechende Gelehrte im Umfeld von Tagungen oder Aufsatzsammlungen, die sich expressis verbis dem Phänomen widmen, mitwirken." Trotzdem greift die Tagungsleitung größtenteils auf deutschsprachige Referenten zurück, die Beiträge gelten weit überwiegend dem römisch-deutschen Reich um 1600. Das Tagungsdesign bleibt mithin auffallend der Konzeption von Trunz verpflichtet. Charakteristisch ist schon das Einführungsreferat. Maximilian Lanzinner resümiert unter dem Titel "Das römisch-deutsche Reich um 1600" (19-45) die politische Situation im Reich vom Augsburger Religionsfrieden bis zum Vorabend des Dreißigjährigen Krieges. Es folgen drei Referate, die - ebenfalls an Beispielen aus dem Reich - den Anteil des Humanismus an der Hofkultur um 1600 beschreiben. Nicolette Mout (46-64) skizziert den Humanismus am Hof der Kaiser Ferdinand I., Maximilian II. und Rudolf II. in Wien und Prag. Dieter Mertens (65-83) vergleicht die Hofkulturen in der württembergischen Residenz Stuttgart und im kurpfälzischen Heidelberg um 1600. Alois Schmid (84-112) berichtet über die Hofhistoriographie Maximilians I. von Bayern (1651), die er dem Barock zuordnet.
Gerrit Walthers Studie "Humanismus und Konfession" (113-127) sieht die barocke Kultur in einer "Verschmelzung von Späthumanismus und Konfession" begründet (127). Fidel Rädle (128-147) verweist auf die pädagogische Natur des Humanismus und stellt die Schul- und Theaterkultur der Jesuiten als einen "gegenreformatorischen Humanismus" vor. Aleida Assmann (148-159) thematisiert in ihrer Studie über John Milton (1674) und Thomas Browne (1682) einen "verspäteten Späthumanismus" (148).
Ulrich Muhlack (160-182) plädiert dafür, den Tacitismus des späten 16. Jahrhunderts nicht länger als ein späthumanistisches Phänomen zu werten. Conrad Wiedemann (183-207) untersucht das Verhältnis von ästhetischer Form und politischer Aussage in Lipsius' "Politicorum libri sex" von 1589 und sieht in der "große[n] Philologen-, Juristen- und Kunsttheoretikergeneration des späten 16. Jahrhunderts [...] eher eine Gründergeneration, deren Ideen, Konzepte und Design-Versuche das ganze folgende Jahrhundert prägten" (186).
Zu bildungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten referieren Antje Stannek (208-226), die Auslandserfahrungen im Kontext adliger Standeserziehung um 1600 thematisiert, und Ian Maclean, der über "Humanismus und Späthumanismus im Spiegel der juristischen und medizinischen Fächer" (227-244) berichtet. Klaus Reichert (245-262) studiert am Beispiel des englischen Gelehrten John Dee (*1527, 1608) das Verhältnis von Wissenschaft und Magie. Andreas Tönnesmann (263-286) und Andreas Beyer (287-299) steuern aus kunsthistorischer Perspektive Gedanken zum Terminus Späthumanismus bei, der in ihrem Fach nie heimisch geworden ist.
Knappe Autorenviten (301-304) und ein Personenregister (305-312) schließen den Band ab, dessen Wert durch einzelne Fehlleistungen nicht geschmälert wird. Alois Schmid beispielsweise macht aus der flämischen Kupferstecher- und Kunsthändlerfamilie Sadeler die "bekannte Augsburger Künstlerdynastie Sadeler" (103). Wenn Ian Maclean bereits auf der ersten Seite seines Beitrags (227) formuliert, dass sich "Udalricus Zasius aus Basel" [!] und Guillaume Budé aus Paris "am Ende des 15. Jahrhunderts [!] in [...] prominenter Weise mit den griechischen Texten im Corpus Juris Civilis beschäftigten", so spricht das nicht gerade für die gründliche Kenntnis der Geschichte der humanistischen Jurisprudenz, die seine Themenstellung erfordert hätte. Der weitere Textverlauf bestätigt den Verdacht.
Die Herausgeber des Tagungsbandes beabsichtigten keineswegs, "ein auch nur annähernd komplettes Kompendium zum Thema Späthumanismus'" (7) vorzulegen. Sie wissen auch, dass die von den Referenten "gegebenen Antworten nicht einheitlich, ja noch nicht einmal gleichlautend sind" (18). Gerade deshalb aber hätten sie nicht darauf verzichten dürfen, den Ertrag des Symposions in einer Zusammenfassung zu bündeln oder wenigstens die Diskussionen zu den einzelnen Referaten zu dokumentieren. Hier wurde eine Chance vertan, dem Späthumanismus-Begriff klarere Konturen zu verleihen. Die Beiträge boten hinreichend Material für ein solches Resümee. Ihre Fragen nach der zeitlichen Abgrenzung, nach den Trägern, Ausdrucksformen und Zielen des sogenannten Späthumanismus führen zum Kern des Problems, zur Frage nach dem "innersten Kern des Späthumanismus [...], der es sinnvoll erscheinen läßt, ihn einerseits von der vorausgehenden Epoche des klassischen Humanismus, andererseits von der Folgeepoche des Barock abzugrenzen" (Alois Schmid, 84). Die Referenten geben aber so unterschiedliche Antworten, dass der Begriff keine erhöhte Trennschärfe gewinnt. Während mehrere Referate das Trunz'sche Konzept eines "deutschen Späthumanismus um 1600" fortschreiben und davon überzeugt scheinen, dass der Renaissancehumanismus um 1600 auf einen neuen, letzten Höhepunkt gelangt sei, erkennt Aleida Assmann im Werk von John Milton und Thomas Browne um 1650 zunächst einen "verspäteten Späthumanismus" (148), dann einen "halbierten Humanismus" (159). Ulrich Muhlack beharrt darauf, dass der Humanismus als selbständige Bewegung sein Ende bei Reformation und Gegenreformation finde und der Tacitismus schon "deutlich jenseits der Demarkationslinie" liege (177). Alois Schmid kommt zu dem Ergebnis, dass der Hofhistoriographie Maximilians I. von Bayern eher das Etikett barock als das Etikett späthumanistisch angemessen sei. Ian Maclean bewertet den Späthumanismus geradezu als ein "Synonym des Barock und des Frühmodernen" (243). Andreas Beyer hingegen erwägt, "die geschichtliche Darstellung des Humanismus [...] nicht zu früh abbrechen [...] und sie vielmehr bis an den 'Neuhumanismus' reichen zu lassen" (289).
Die Tagung zeigt durchaus Wege aus der Begriffsverwirrung auf. Besonders Muhlacks Unterscheidung "zwischen der humanistischen Auslegungsweise als einer bestimmten Denkfigur und dem Humanismus als einer selbständigen Bewegung, die diese Auslegungsweise und damit diese Denkfigur programmatisch verkündet" (177), verdient die Aufmerksamkeit der Zunft. Während die Pflege der humanistischen Auslegungsweise tatsächlich beinahe an den "Neuhumanismus" heranreicht, endete die humanistische Bewegung, die diese Denkfigur propagierte und durchsetzte, nach Muhlack mit Reformation und Gegenreformation.
Der "Späthumanismus" wird so lange ein schillernder Begriff bleiben, wie über den Humanismusbegriff selbst nicht unerhebliche Meinungsverschiedenheiten bestehen. Beim aktuellen Forschungsstand konnten die Beiträger bestenfalls eine Zwischenbilanz ziehen und Anregungen geben. Das ist ihnen gelungen. Es gibt aber noch viel zu tun. Der Rezensent schließt sich dem Wunsch der Herausgeber an, "dass die hier versammelten Aufsätze weitere Forschungen auf diesem fruchtbaren Feld anregen mögen" (7).
Empfohlene Zitierweise:
Peter Arnold Heuser: Rezension von: Notker Hammerstein / Gerrit Walther (Hg.): Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen: Wallstein 2000, in: PERFORM 2 (2001), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=88>
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