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Harald Tersch: Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (1400-1650), Wien: Böhlau 1998, 802 S., ISBN 3-205-98851-5, DM 189,00

Rezensiert von:
Karen Lambrecht
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Durch den anthropologischen Ansatz erfuhr die Auswertung von autobiographischenQuellen seit den siebziger Jahren neue Dimensionen. Sowohl die Literaturgeschichte, die sich nun auch nichtpoetischen und zweckgebundenen Gattungen öffnete, als auch die Geschichtswissenschaft, die lange methodische Vorhalte gegen diese als subjektiv geltende Textgruppe hegte, wandten sich nun stärker diesen Quellen zu. Besonders in der Frühneuzeitforschung setzte sich für diese Gattung der Begriff der "Ego-Dokumente" durch, so wie er 1996 in einem von Winfried Schulze herausgegebenen Sammelband umrissen wurde. Dieser Begriff umfaßte nun über die herkömmlichen Gattungsgrenzen von Autobiographie, Tagebuch und Memoiren hinaus eine Vielfalt von Formen, die von der Chronik, dem Itinerarium, dem Reisebericht, der Vita, der Familiengeschichte, Briefen, Notizbüchern, Wirtschaftsbüchern bis hin zu Gerichtstexten wie Verhörprotokollen reichten, weil auch darin der Mensch Auskunft über sich selbst gibt. Dadurch erleichterte man zwar die Erkenntnis bestimmter mentalitäts- und sozialgeschichtlicher Zusammenhänge, erschwerte jedoch die Erfaßbarkeit von Quellen, so daß die Forschung wieder stärker differenzieren mußte. Innerhalb der "Ego-Dokumente" wurden die Selbstzeugnisse als Autobiographien, persönliche Tagebücher und Briefe als Formen bewußter Selbstwahrnehmung wieder herausgelöst. Inzwischen hat sich sogar eine neue Buchreihe unter dem Titel "Selbstzeugnisse der Neuzeit" mit bereits sieben erschienenen Bänden etabliert.

Seit 1992 widmet sich unter Leitung des Wiener Frühneuzeithistorikers Alfred Kohler ein Projekt der Erfassung und Erforschung des autobiographischen Schrifttums in Österreich vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Mit Schwerpunkt auf die "Erfassung" legt nun Harald Tersch in seinem umfangreichen Werk ein Teilergebnis dieser Forschungsarbeit vor. Hierbei handelt es sich sowohl vom Volumen als auch vom Aufbau her im Grunde um ein solides Handbuch und Nachschlagewerk. Tersch beschränkt sich im oben erläuterten Sinne auf Selbstzeugnisse, in denen der Verfasser oder die Verfasserin sich selbst als Gegenstand des Interesses thematisiert. Die Texte müssen gleichzeitig zumindest stellenweise "narrative" Passagen haben. Ausgeschlossen hat der Verfasser die beiden großen eigenständigen Quellengruppen von Brief und Reisebericht. Gleichwohl sind die Grenzen fließend und der Kritik an der Zuordnung kommt wohl doch nur der umfassendere Begriff der "Ego-Dokumente" entgegen. Der Autor zeigt sich sensibel für die begriffliche Problematik und widmet in jedem seiner Einzelbeiträge der originalen Titelgebung und der oft willkürlicheren der Forschung besondere Aufmerksamkeit. Seiner entsprechenden Entscheidung trägt der Autor Rechnung, indem er jeweils abschließende Hinweise zur Form der "Selbstdarstellung" liefert.
Tersch beschränkt sich weiterhin auf Texte von Personen, die längere Zeit auf dem Gebiet des heutigen Österreich seßhaft waren und setzt den Zeitrahmen von 1400 bis 1650. Neben dem Problem der Gattung stellt sich somit jenes von Raum und Zeit, wo sich weitere Schwierigkeiten der Zuordnung entwickeln. Insgesamt erscheinen die Eingliederungen des Autors aber begründet.
64 Personen, unter ihnen zwei Frauen, finden Berücksichtigung. Die Einzelbeiträge sind systematisch aufgebaut, zusätzlich erschlossen durch ein Personen- und Ortsregister (mit kleinen Fehlern im sonst sorgfältig lektorierten Buch). Ergänzt werden die Beiträge durch 17 Abbildungen aus den besprochenen Werken, deren Anzahl, wie Tersch selbst bedauernd erläutert, sich sehr auf "optische Ergänzung" beschränken mußte. Gerade für das Thema der Selbstdarstellung wäre ein weiterer interdisziplinärer Zugang durch die Kunstgeschichte sicher sinnvoll und wünschenswert, so wie ihn der Autor auch an manchen Stellen andeutet, etwa in der Interpretation des Cuspinian-Porträts (S. 165).
Unter den Verfassern von Selbstzeugnissen finden sich so bekannte Namen wie die Kaiser Friedrich III., Maximilian I. und Maximilian II., Johannes Cuspinian und Johannes Kepler, aber auch unbekanntere, wenngleich kaum neue Entdeckungen zu machen sind. Tersch legt Wert auf die Textzeugen; Handschriften, Editionen und Teilabdrucke wurden nachgewiesen, überprüft und teilweise mit kleinen Beschreibungen versehen. Ohne daß eine eigentliche Textkritik stattfindet, erhält hat man doch in aller Kürze eine gute Orientierung über den Editionsstand, der in den meisten Fällen tatsächlich mangelhaft ist, weshalb der Band zur Bearbeitung von Neu- und Erstausgaben anregen sollte. Wertvoll sind auch die enzyklopädischen, chronologisch geordneten, Literaturangaben, die bis auf die Ebene von ungedruckten Magisterarbeiten reichen.
Jeder der 5- bis 40seitigen Einzelbeiträge wird durch eine Kurzbiographie des jeweiligen Verfassers eingeleitet, die der Hintergrundinformation für das Verständnis der Texte dienen. Damit stellt der Band gleichzeitig ein wichtiges biographisches Nachschlagewerk dar. Nach der Werkbesprechung und der Inhaltsskizze werden einzelne Aspekte der Darstellung wie etwa soziale Identität, Geschlechterbeziehungen, religiöses und berufliches Selbstverständnis herausgegriffen.
Innerhalb der rund 20seitigen Einleitung gibt der Verfasser auf etwa drei Seiten nur sehr knapp eine Auswertung seiner zusammengetragenen Texte, die lediglich "Anmerkungen und Anregungen für einen übergreifenden Interpretationsansatz" darstellen sollen. Dies ist bedauerlich, denn man spürt die Textkenntnis des Verfassers in den Einzelbeiträgen und hätte sich eine stärkere Analyse gewünscht, etwa wenn Vergleiche zu zeitgenössischen Chroniken gezogen werden (S. 63 oder S. 109). So bleibt die Beschreibung eines "Eindrucks", dessen Verifizierung der weiteren Forschung vorbehalten bleiben soll (S. 21).
Ein "Eindruck" ist etwa die besondere Anziehungskraft der Höfe und der Wiener Universität. Die Mehrheit der Verfasser des 15. Jahrhunderts war hierhin zugewandert, und auch im 16. und 17. Jahrhundert ist der Anteil der Fremden groß. Dadurch sind wichtige Impulse aus den umliegenden Gebieten Ungarn, Süddeutschland oder Kroatien in die Texte eingegangen, die somit gleichzeitig Quellen für das Zusammenleben im multiethnischen Habsburgerreich darstellen (z.B. S. 61). Damit korrespondiert - auch wenn Tersch dies eher ungewöhnlich zu finden scheint - die Dominanz von Autoren aus dem Umkreis des Hofes und aus dem Adel, während der bürgerliche Bereich etwa im Vergleich zu England unterrepräsentiert ist. Bauern und "populare Selbstzeugnisse" fehlen ganz in der Sammlung.
In den Texten selbst läßt sich der von der Universität Wien ausgehende Kommunikationszusammenhang festmachen, so etwa in dem vom Frühhumanismus geprägten Melker und Tegernseer Gelehrtenkreis (S. 78f.), aber auch in der ersten Hochphase der Tagebuchliteratur um 1500. Geprägt war diese durch Maximilian I., der mit 40 Seiten ausführlich gewürdigt wird. Er verarbeitete seinerseits Anregungen aus dem burgundisch-französischen Kulturkreis (S. 113). Maximilian ging es in seiner Selbstdarstellung primär um die Sicherung der historischen Tradition durch die schriftliche Fixierung. Andere Autoren in öffentlichen Funktionen, wie etwa die Wiener Bürgermeister Martin Siebenbürger (um 1470-1522) und Wolfgang Kirchhofer (1478/89-1525), legten in ihren Autobiographien eine Art Rechenschaftsbericht ab und repräsentieren damit eine neue Gewichtung des Aspekts von öffentlicher Meinung (S. 154f.). Bei Siegmund von Herberstein (1488-1566) schließlich wird die öffentliche Selbstdarstellung zur Spielwiese: in verschiedenen Fassungen experimentiert er an der Konstruktion eines schriftlichen Selbstbildnisses (S. 210). Der Ruhm des Menschen oder sein Andenken in der Nachwelt lag nicht mehr nur in seinem Handeln begründet, sondern auch dessen schriftlicher Fixierung. Mit dem "Journalbuch" des Adeligen Engelhard Dietrich von Wolkenstein (1566-1647) beginnt wiederum eine wesentliche Neuerung in der Tagebuchliteratur, indem ein lückenloser Tagesablauf des Verfassers festgehalten wird.
So werden auch in der Chronologie sich wandelnde Mentalitäten deutlich. Der thematische Zugriff auf die einzelnen Apekte wie Geschlechterverhältnisse, Ständekonflikte, die Gelehrsamkeit, Diplomatie etc. erschließt sich jedoch nur durch eifriges Blättern in allen Biogrammen, denn die breit aufgefächerten Themenkomplexe sind weder im Inhaltsverzeichnis noch im Register angegeben. Das vorhandene, handbuchartige Potential des Bandes wird so leider nicht ausgeschöpft, obwohl dies ohne großen Aufwand möglich gewesen wäre. Das Buch bietet jedoch so reichhaltiges Interpretationsmaterial, daß der Leser auch für mühseliges Querlesen in jedem Fall belohnt wird.

Empfohlene Zitierweise:

Karen Lambrecht: Rezension von: Harald Tersch: Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (1400-1650), Wien: Böhlau 1998, in: PERFORM 1 (2000), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/perform/reviews.php?id=9>

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