Das anzuzeigende Buch bleibt in der Argumentation immer auf seine methodischen Vorentscheidungen hin durchsichtig. Der Rezensent empfindet es als seine Aufgabe, die Abhängigkeit von Kriterium und Ergebnis in dem Buch von Alexander Avenarius herauszustellen.
Avenarius will die Vielzahl verstreuter Abhandlungen zur Frühzeit der kulturellen Kontakte zwischen Byzanz und den Slaven in einer "komplexen, systemgerechten Konzeption" aus dem "Blickwinkel" seiner spezifischen Forschungsinteressen zusammenfassen (14). Kultur wird betrachtet als "Gesamtheit vorwiegend künstlerischer und ästhetischer Werte (...)", die "von der Gesamtheit (...) zu einem System hinstreben", und zwar zum hegelianischen (13). Im Hinblick auf die slavische Seite besteht "keine Periode einer einheitlichen und organischen Kultur, sondern eine, in der eine solche erst angestrebt wird" (14). Insofern ist nicht die Interaktion zwischen zwei Kulturen, sondern der Akkulturationsprozess (15) zwischen einer bereits etablierten und einer sich erst formierenden Kultur "typologisch" (18) an den drei großen slavischen Siedlungsräumen mit ihren je unterschiedlichen Rahmenbedingungen darzustellen. Der Akkulturationsprozess soll besonders anhand "transformierender", byzantinische Textvorlagen in die slavische Kultur umgestaltender Übersetzungen (19) aufgezeigt werden, wobei besonders im Abschnitt über die westslavischen Verhältnisse auch archäologische und architektonische Zeugnisse Berücksichtigung finden.
Avenarius steht vor dem Problem, dass die Dominanz der byzantinischen Kultur im fraglichen Zeitraum bei vielen Untersuchenden die slavische Kultur nur als eine Kopie des byzantinischen Vorbildes erscheinen lässt, was hinsichtlich der Frage nach den Ursprüngen der slavischen Kultur zu unbefriedigenden Erklärungen führt (11f.). Avenarius bricht die starre und dadurch negative Alternation von einem aktiven Kulturgeber hier, einem passiven Kulturempfänger dort auf, indem er zwar ein Kulturgefälle von der "höher entwickelten" (14) byzantinischen Kultur zu den sich erst formierenden slavischen Staatsgebilden annimmt, andererseits aber der slavischen Seite eine aktive Rolle in dem Interaktionsprozess zuweist, indem deren Auswahl und Umgestaltung der fremden Impulse zu eigenen Zwecken herausgestellt wird. Diese Perspektive nennt Avenarius zu Recht hegelianisch, indem ein starrer Gegensatz zwischen Aktiv und Passiv auf eine höhere Ebene gehoben, in einen Prozess aufgelöst und dadurch einseitige Bewertung vermieden wird.
Die dialektische Sicht auf die kulturellen Beziehungen zwischen Byzanz und den Slaven entspringt der sachlichen Interessenlage der interagierenden Partner. Dabei stellt das Christentum den entscheidenden machtpolitischen Faktor dar, an dessen Durchsetzung in den slavischen Gebieten jedoch Missionar und Missionierte unterschiedlich interessiert waren. Während Byzanz der Aufbau einer kirchlichen Hierarchie als geeignetes Mittel zur politischen Beeinflussung und späteren politischen Eingliederung der missionierten Gebiete erschien, waren die slavischen Fürsten an der Annahme des Christentums zur Überwindung "partikularer Tendenzen" (49) innerhalb ihres Machtbereiches interessiert. Dieser Tenor der byzantinisch-slavischen Akkulturation werde durch regionale Rahmenbedingungen modifiziert, je nachdem, ob die slavischen Herrschaftsgebiete relativ selbständig (Ostslaven), eher im Einflussbereich Westroms (Westslaven) oder vielmehr eher von Byzanz (Südslaven) liegen. Die regional unterschiedlichen Rahmenbedingungen stellt Avenarius in drei getrennten Kapiteln vor. Da erst ab dem 9. Jahrhundert von erkennbar konsolidierten slavischen Machtgebilden die Rede sein könne, ist den Kapiteln 3-5, welche den West-, Süd- und Ostslaven ab dem 9. Jahrhundert gewidmet sind, ein die Frühzeit vor der Mitte des 9. Jahrhunderts zusammenfassendes Kapitel der byzantinoslavischen Akkulturation vorangestellt. Die genannten Kapitel 2-5 werden von der Einleitung mit methodischen Erwägungen und einer Zusammenfassung als letztem Kapitel umschlossen. Eine ausführliche Bibliographie, Register und Abbildungsverzeichnis runden den Band ab.
Das vorgeschaltete Kapitel (Seiten 20-49) über die Frühzeit der kulturellen Kontakte zwischen Byzanz und den Slaven tendiert aufgrund der Konzentration auf westslavische Zustände zu allgemeinen Aussagen: "Die materielle Kultur in den einzelnen [ergänze: slavischen, Daiber] Regionen war zu jener Zeit keineswegs Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ethnos. (...) Andererseits wurde diese Kultur von jenen byzantinischen Vorbildern geprägt, die durch den Handel in Form von Spenden und Steuern in ihr Gebiet gelangten" (22). "Spenden" an lokale Stammesführer und Fürsten stellten die byzantinische Strategie der Einflussnahme in Gebieten, auf die man nicht direkt zugreifen konnte, dar (32). Und zur sozialen Differenzierung der aufgefundenen Artefakte bemerkt Avenarius: "Je geringer das Niveau der jeweiligen Gesellschaftsgruppe ist, desto höher ist der Anteil der 'einheimischen', nichtbyzantinischen Elemente" (28). Dieser allgemeinste Schluss wird für west- und ostslavische Siedlungsgebiete gleichermaßen gezogen, während im Unterschied dazu für den Balkan herausgestellt wird, dass sich hier Rom und Byzanz die Einflussgebiete teilten (42) und Byzanz nicht nur durch Handel und Tribut, sondern auch militärisch seinen Einfluss geltend machen konnte (46f.). Das für die Frühzeit der Akkulturationsprozesse herausgestellte System der materiellen Einflussnahme von Byzanz auf entstehende fremde Machtgebilde und deren aktive Empfängerschaft, welche sich in der Verschmelzung der byzantinischen Formsprache mit der einheimischen zeigt, folgt aus der dialektischen Konzeption der Darstellung. Die Wertung ebenfalls: Das niedrigere Gesellschaftsniveau muss jenes sein, das nicht zu einer aktiven Aneignung byzantinischer Elemente gelangt, sondern bei der einheimischen Formsprache verharrt.
Für west- und ostslavische Verhältnisse mögen die ersten Kontakte mit der byzantinischen Kultur im Rahmen der von Avenarius herausgestellten Handels- und Spendenpolitik betrachtbar sein, mag der Einfluss byzantinischer Formsprache auf bronzene Riemenzungen der Südwestslowakei aus dem 8. Jh. (40) dadurch erklärbar werden. Die südslavischen Verhältnisse aber müssen anders gesehen werden, und in diesem Punkt bleibt uns Avenarius die Antwort schuldig. Wir kommen unten darauf genauer zu sprechen.
Die von schriftlichen Zeugnissen begleiteten Epochen der byzantinoslavischen Akkulturation behandelt Avenarius - wie schon bemerkt - regional differenziert. Der bei weitem umfangreichste Teil behandelt die westslavischen Verhältnisse (49-143). Die byzantinische Strategie der 'politischen Missionierung', welche den Zeitraum bis zum 12. Jahrhundert umfasst, ruht ideologisch auf Ähnlichkeitstheorien. Wie der byzantinische Kaiser Christus ähnlich zu sein hat, so sollen die slavischen Machthaber dem byzantinischen Kaiser sich angleichen, wobei dieses neoplatonisch-areopagitische System der Ähnlichkeiten für Byzanz die Dominanz des byzantinischen Kaisers über alle anderen Machthaber impliziert. Diese bereits früher im einzelnen dargelegte Ideologie zeigt auch Avenarius an entsprechenden Formulierungen aus der Vita Constantini und aus dem "Slovo o zakone i blagodati" des Ilarion (50f.). Bei der Erörterung der Quellen ist für die jüngst wieder vom Zaun gebrochene Diskussion über Lage und Status des "großmährischen Reiches" der Hinweis beachtenswert, dass das Attribut "groß" in der formelhaften byzantinischen Urkundensprache synonym mit den Attributen "weiß" und "ungetauft" verwendet wird und diese Termini nicht direkt der byzantinischen Macht unterstellte Gebiete bezeichnen (52-54).
Der byzantinische Anspruch der Machthoheit hätte nun in Großmähren eigentlich schnell zur offenen Konfrontation mit den vom Westen eindringenden politischen und missionarischen Einflüssen führen müssen. Avenarius zeigt, dass die Slavenmissionare die ideologischen Vorgaben von Byzanz in ihrer Rigorosität nicht durchsetzen wollten. Bei Konstantin-Kyrill seien keine ausgesprochen antiwestlichen (73) Züge festzustellen, sondern im Gegenteil eine entschiedene Bevorzugung der traditionellen, das heißt Ost- und Westrom gemeinsamen theologischen Grundlagen (75). In einer Phase, da auch die benediktinische Slavenmission keine Einwände gegen eine slavische Literatursprache erhob (117), konnte sich so das kyrillo- methodianische Erbe bis zum offenen Bruch zwischen Ost- und Westrom im mährischen Gebiet entfalten und nach Ungarn und selbst Russland ausstrahlen.
Die Wirkung der kyrillo-methodianischen Missionstätigkeit belegt Avenarius dabei an unterschiedlichen Texten (u.a. Kiever Blätter, Wenzelslegende und Chronik des Kosmas), aber auch ausführlich an Zeugnissen des Kirchenbaues und des gottesdienstlichen Ritus (92ff.). Übrigens billigt Avenarius den fränkischen Missionaren (63f., belegt mit Literatur aus den 50er Jahren) nur rudimentäre Slavischkenntnisse zu, wogegen nun K. Hengst (Lingua slavica missionarica in terra inter Salam et Albam, in: Dem Freidenkenden: Zu Ehren von Dietrich Freydank. Halle a.d. Saale 2000, S. 113-131, dort 125; vergleiche dort auch einschlägige Literatur) vielmehr aktive, auch zur Textproduktion ausreichende Slavischkenntnisse der bis nach Russland wirkenden Missionare für nachweisbar hält. Volkssprachliche Mission, gar in slavischen Sprachen, war auch auf westlicher Seite keineswegs ausgeschlossen, und das von Avenarius nur den Slavenaposteln zugestandene "kyrillo-methodianische Ideal der Gleichberechtigung der Bildung in heimischer Sprache" (115) braucht nicht allein als Rückgriff Kyrills auf byzantinische "humanistische" Ideale gedeutet werden, sondern das pragmatische Verhältnis zur Sprache liegt im Geist der damaligen Epoche in Ost und West, die von dem ideologischen Sprachstreit späterer Zeiten noch nichts wusste.
Avenarius verfolgt das Weiterleben der kyrillo- methodianischen Mission anhand verschiedener Texte (etwa Christian-Legende, Prager glagolit. Fragmente) nicht nur in Böhmen, sondern auch in Ungarn und der Slovakei, wo allerdings zwischen allgemeinem byzantinischem Einfluss und kyrillo- methodianischem Erbe nicht immer sicher unterschieden werden kann. Die südslavisch-byzantinische Akkulturation ist sehr viel komplizierter, und es geht nicht an, diesen Komplex mit der Behauptung, der Mangel an Textquellen lasse keine Schlussfolgerungen zu, zu übergehen. Eine grundlegende Einführung hat bereits Matl 1966 (Die Kultur der Südslawen, Frankfurt a. M., Seperatdruck aus dem "Handbuch der Kulturgeschichte", bei Avenarius nicht erwähnt) vorgelegt; dort finden sich auch Hinweise auf die Quellen.
Slovenien als mögliches Einflussgebiet byzantinischer Expansion wird bei Avenarius nicht erwähnt, obgleich dieser weitere südslavische Kulturraum eigenständig betrachtet werden sollte und auch seine eigenen byzantinischen Einflüsse aufweist. In Literatur und Volkslied lassen sich "orientalisch-byzantinische Stoffe" nachweisen (vergleiche Matl a.a.O. 45), in der Architektur könnte man die Maria-Entschlafenskirche in Trstenik bei Ljubljana erwähnen (1388 erbaut in Form eines griechischen Kreuzes; Anmerkungen zu Bauwerken erfolgen nach L. Trifunovic, Jugoslawien, Kunstdenkmäler von der Vorgeschichte bis in die Gegenwart, Belgrad 1988). Wenn Avenarius behauptet, bezüglich Serbiens lasse sich aufgrund "karger Quellenlage" und verzögerter Staatswerdung "nichts Wesentliches" (145) für die Zeit vor dem 13. Jh. anführen, so ist dies irreführend. Auch hinsichtlich Kroatiens ist Avenarius aufgrund des "Mangels an differenziertem literarischem Schaffen" (150) kaum ausführlicher. Unter Verwendung archäologischer und architektonischer Zeugnisse, die für den westslavischen Bereich doch ausführlich herangezogen wurden, wird die vorliegende Darstellung für die süd- und ostslavischen Gebiete ergänzt werden müssen. Die serbische Ikonenmalerei und Architektur ist im 13. Jahrhundert nicht aus dem Nichts gekommen (man denke nur an die 1208 erbaute Erlöserkirche in Žica, an die Himmelfahrtskirche von Mileševa, erbaut 1218/19, an die Mariae-Entschlafens-Kirche bei Moraca, erbaut 1251/52, an das vor 1263 begonnene Kloster von Sopocani, an die 1275 auf älteren Fundamenten errichtete Verkündigungskirche in Gradac). Übrigens wurde Studenica zwischen 1183 und 1196 erbaut und gehört damit auch rein numerisch zum 12. Jahrhundert, also zu dem von Avenarius behandelten Zeitraum. Schließlich aber liegen auch schriftliche Zeugnisse vor, wie etwa der 1212 von Sava übersetzte byzantinische Nomokanon, und wenn auch die meisten Zeugnisse aus dem 13. Jahrhundert und später stammen, so besteht doch kein Zweifel, dass eine serbisch-byzantinische Akkulturation längst vorher eingesetzt hatte.
Ebenso verhält es sich mit Kroatien. Der byzantinische Einfluss bis hoch in den Norden Istriens ist über den gesamten Untersuchungszeitraum unbestritten. Erwähnt seien nur die Kathedrale von Porec aus dem 6. Jahrhundert als "repräsentatives Beispiel des byzantinischen Monumentalstils" und die unweit von Porec im 12. Jahrhundert errichtete Hieronymuskirche von Hum, die "den nachhaltigen Einfluss der byzantinischen Kunst" bezeugt. Wollte man einmal vereinfacht Basilika-Kirchenformen der westlichen, Rundkuppel-Formen der östlichen Bauweise zurechnen (vergleiche K. Onasch, Lichthöhle und Sternenhaus, Dresden, Basel 1993, Kapitel "Die Kuppel über dem Viereck"), so käme man vor das überaus schwierige Problem, dass in Kroatien sich beide Bauweisen auf das vielfältigste mischen, eine andauernde kroato-byzantinische Akkulturation bezeugen, aber auch eben eine kroato-romanische.
Ein Beispiel ist die schon bei Konstantin Porphyrogennetos erwähnte Kathedrale St. Tryphor in Kotor, die 1160 in eine romanische Basilika umgestaltet wurde. An Kotor (ähnlich auch an Šibenik uund so weiter) wäre dabei die ganze Problematik aufzurollen: Bekannt seit der griechischen Kolonisierung, erwähnt bei Plinius dem Jüngeren, kommt es in byzantinischen Besitz, dann in Besitz der Herrscher von Zeta, dann (ab 1186) des serbischen Reiches, nach dessen Untergang fällt es an Ungarn, ab 1420 an Venedig und so weiter. Schwierig ist hier allein schon die Frage, unter welchem Titel die Kultur Kotors abzuhandeln ist: serbisch oder kroatisch? Auch venezianisch? Anders gefragt: Was bedeuten noch ethnische Begriffe für kulturelle Fragestellungen, wenn sie wie auf dem Balkan ihre regionale Zuordnung verlieren? (Matl: "Die Kulturräume decken sich nicht mit den Volks- bzw. Stammesgrenzen der Slowenen, Kroaten, Serben, Bulgaren und Mazedonier"; dort 5).
Mit Avenarius allein aufgrund der Transformation schriftlicher Quellen zu urteilen, verkürzt das Problem, wobei Avenarius seltsamerweise den kroatischen Glagolismus (oder auch: Glagolitismus) mit keinem Wort erwähnt, welcher doch als direktes kyrillo-methodianisches Erbe anzusehen ist (obgleich im Literaturverzeichnis ein Titel von Matešic über diese Problematik auftaucht). Die byzantino-kroatische Akkulturation hätte überdies zumindest schriftliche Indizien in den bekannten Inschriftensammlungen von B. Fucic (und Ergänzungen in Aufsätzen von B. Mader) aufzuweisen. Avenarius behandelt die kroato-byzantinische Akkulturation nur am Beispiel des Schicksals der Liturgie, die unter römischem Druck zu einer lateinischen Liturgie in slavischer Sprache umgewandelt wurde (149). Selbst wenn dieser Vorgang exemplarisch gemeint wäre, ist dies zu wenig.
Die Sprachenfrage und damit implizit die Frage der kulturellen Identität wird zur Zeit unter dem Eindruck des Balkankrieges steril sortiert (vergleiche den linguistisch anfechtbaren Beitrag von I. Pranjkovic, The Croation standard language and the Serbian standard language, in: International Journal of the Sociology of Language 147, 2001, Seite 31: Skr and Cr "have been functioning sociolinguistically as two different standard languages not only at present, but since their very beginnings."), während in derselben Ausgabe der Zeitschrift ein anderer Autor (D. Brozovic, Peculiar sociolinguistic features of the Slavic world) die Rolle der Kirchensprache Kyrill und Methods als zentral für die Herausbildung aller slavischen Sprachen betont. Selbst bei dem von Avenarius konstatierten Mangel an schriftlicher Überlieferung wäre für Serbien und Kroatien immer noch die Frage des kyrillo-methodianischen Sprachsubstrates als Indiz der byzantinoslavischen Akkulturation abzuhandeln.
Interessant ist die Frage, warum eigentlich die südslavischen Verhältnisse so ganz aus dem Blick von Avenarius fallen, und mir scheint, dass dies eine Folge seiner Untersuchungsmethode ist. Die dialektische Anverwandlung des Fremden in den Texten einer Kultur lässt sich nur dort zeigen, wo diese Texte relativ unabhängig vom Fremden verfasst werden. Dort aber, wo die Slaven nicht an den Grenzen von Byzanz, sondern unmittelbar in dessen Einflussgebiet siedelten, unterliegt die Textproduktion byzantinischen Mustern, und der kulturelle Gegensatz zwischen einheimischen und fremden Elementen wird im südslavischen Raum für die frühen Zeiten eher als Unterschied zwischen folkloristischer slavischer und offizieller byzantinischer Kultur darzustellen sein. Der Hinweis auf den Mangel schriftlicher Zeugnisse, den Avenarius vorbringt, mag innerhalb seiner methodischen Voreinstellungen gerechtfertigt sein, aber nicht angesichts der Sache, denn Akkulturation muss eben nicht unbedingt nur schriftlich vollzogen werden.
Die Hauptaufmerksamkeit von Avenarius gilt den byzantinisch-bulgarischen Beziehungen (150-176), wo wieder genug Texte vorliegen. Die Werke der Schule von Ochrid entsprächen den Bedürfnissen einer eben christianisierten Gesellschaft (161), die Preslaver Epoche dagegen charakterisiere die "Übergangsperiode" (163) der bulgarischen Gesellschaft mit "ambivalentem Verhältnis" (165) zu byzantinischer Kultur und kyrillo-methodianischem Erbe. Diese Charakterisierung, die in dieser Allgemeinheit schwer anfechtbar ist, stützt sich unter anderem auf die Schrift Chrabrs "Über die slavischen Buchstaben" (166ff.) Avenarius hebt an Chrabrs Schrift hervor, dass ihr Autor "ebenso wie Konstantin die Buchstaben nicht als konventionelle Zeichen" betrachtet, sondern vielmehr "die invariante Bindung des Zeichens Š an den Laut" (167) konstatiert. Diese "theoretische Grundlage" Chrabrs stützt sich laut Avenarius "zweifellos auf kyrillo-methodianische Grundsätze" (ebenda), aber mir scheint auch eine eher allgemeine Erklärung möglich. Die fast ohne Unterscheidung durchgeführte Gleichsetzung von Phonem und Graphem ist in allen europäischen Grammatiken bis mindestens zum Ende des 17. Jahrhunderts nachweisbar; es handelt sich weder um eine Eigenart Chrabrs, noch um eine des kyrillo-methodianischen Erbes, sondern um eine Folge theologischer Sprachauffassung (das göttliche Wort ist der Seele ein-geschrieben und so weiter). Auch wenn Chrabr gegen die Dreisprachentheorie, die im Gegensatz zum Westen in Byzanz "niemals heimisch geworden" sei (168), polemisiert, ist dies wohl nicht als antibyzantinisches, sondern eben als antiwestliches Argument zu werten.
Das Weiterleben des kyrillo-methodianischen Erbes in Bulgarien wird auch nach dem staatlichen Zusammenbruch, als die "slawisch-bulgarische Tradition an byzantinische Interessen angepasst" (175) wurde, etwa in der Clemens-Vita (174) nachgewiesen. In der Vita des Ivan Rilskij (174f.) sieht Avenarius ein Zeugnis dafür, dass der byzantinische Einfluss in Bulgarien (koinobitisches Mönchsleben) auch Widerstand erfuhr (in diesem Fall durch Betonung des eremitischen Lebens), und allgemein kommt er zum Schluss, "dass Akkulturationsprozesse nicht nur von der entwickelteren zur weniger entwickelten Gesellschaft, sondern auch in entegegengesetzter Richtung verlaufen" (176).
Im Gegensatz zu den west- und südslavischen Gebieten macht Avenarius für das Alte Russland (S. 177-211) eine gewichtige Vorentscheidung: Außer im Falle des Bauwesens "konnten die anderen Bereiche des byzantinischen Einwirkens, wie zum Beispiel die christliche Lehre oder die schriftliche Kultur, bei ihrem Vordringen nach Russland an nichts Ähnliches anknüpfen, weshalb die byzantinischen Elemente auch keiner Veränderung unterzogen werden konnten. (...) Sicheres Anzeichen eines nicht transformierten und rein byzantinischen Einflusses ist die direkte Übernahme byzantinischer Termini und Namen ..." (181), eine "terminologische Mimesis" (183). Ganz im Sinne der methodischen Vorgaben wird dieses einseitige Modell dann differenziert, indem Avenarius Russland einen "spezifischen Zutritt zur byzantinischen Realität" (183) in "Nachahmung" und "Art der Auswahl" zubilligt. Die "bewusste Transformation und Rezeption" beginne mit Ilarion (11. Jahrhundert; 185) und schon in der Nestorchronik sei eine "ideologische" (178), anti-byzantinische und russisch-selbstbewusste "Plattform" zu erkennen, die bereits "um die Mitte des 12. Jahrhunderts zur "direkten Konfrontation" (209) mit dem byzantinischen Einfluss tendiert. Im Falle Russlands mit seiner reichen schriftlichen Überlieferung findet die auf Dialektik zielende Konzeption von Avenarius ihren geeigneten Gegenstand, und es muss nicht weiter betont werden, dass die Ausführungen hier, wo die Quellen sowohl von direktem byzantinischen Einfluss wie auch von dessen Umgestaltungswillen zeugen, am überzeugendsten sind.
Avenarius hat die Grundprinzipien der byzantinischen Slavenpolitik überzeugend dargelegt, nämlich Annäherung durch Handel und Tribut, missionarische Eingliederung in die kirchliche Organisation als Vorbereitung für spätere politische Eingliederung - und bei günstigen Umständen auch militärische Repression nicht als ultima, sondern als prima ratio. Die methodische Entscheidung, byzantino-slavische Akkulturation an der Transformation schriftlicher Quellen abzuhandeln (ohne dass diese Entscheidung konsequent durchgeführt worden wäre), hat die Nichtbeachtung großer Teile der südslavischen Verhältnisse nach sich gezogen. Für Böhmen, Bulgarien und Russland ergibt sich ein schlüssiges Bild, das vorwiegend auf der Referierung eines im wesentlichen gesichert scheinenden Forschungsstandes gewonnen ist.
Alexander Avenarius: Die byzantinische Kultur und die Slawen. Zum Problem der Rezeption und Transformation (6. bis 12. Jahrhundert) (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; Bd. 34), München: Oldenbourg 2000, 264 S., ISBN 978-3-486-64841-6, DM 77,84
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