Die Mitarbeiter des Instituts für Historische Landesforschung an der Universität Göttingen haben ihrem Leiter Ernst Schubert zum 60. Geburtstag im Mai 2001 ein besonderes Geschenk überreicht. Mit der kommentierten Herausgabe des ältesten und bedeutendsten kartografischen Werkes der Frühen Neuzeit in Niedersachsen haben sie eine Aufgabe übernommen, die rundum gelungen ist. Der aus 42 kolorierten Blättern bestehende Ämteratlas des Fürstentums Lüneburg wird hier erstmals in exzellenter Druckqualität fotografisch reproduziert. Mit einem umfangreichen Register ist er auch für die heutige Forschung eine Fundgrube. Aufmachung und Ausstattung des ehrgeizigen Projekts erfüllen bei einem durchaus moderaten Preis alle Erwartungen.
Der durchweg positive Eindruck entsteht nicht allein durch den schön anzuschauenden Kartenteil, sondern vor allem auch aus dem erfolgreichen Bemühen der Autoren, den Leser in die Welt des 16. Jahrhunderts zu führen und die Entstehung der Karten Mellingers aus dem zeitgenössischen Kontext heraus verständlich zu machen. Das Zeitalter der Entdeckungen und der astronomischen Revolution von Kopernikus bis Kepler führte zu einem zwar machtpolitisch motivierten, aber schließlich auch wissenschaftlichen Quantensprung in der Vermessungstechnik. Mit dieser Entwicklung korrespondierte auf regionaler Ebene der Versuch der Landesfürsten, ihre Territorien geografisch-statistisch zu erfassen. Ämterkarten und Kopfsteuerlisten schufen die Basis für den sich seit dem beginnenden 17. Jahrhundert erst allmählich etablierenden Steuerstaat. Voraussetzung dafür war eine Verstetigung des Verwaltungshandelns beziehungsweise ein Ausbau der Bürokratie, die wiederum auf verlässliche geografische Angaben angewiesen war. Insofern ist der Ämteratlas Mellingers ein durchaus zeittypisches Produkt, dessen Bedeutung weit über den regionalen Horizont des Fürstentums Lüneburg hinausreicht. Ein Quellenverzeichnis und eine umfangreiche Bibliografie runden die aufwändige und sorgfältige Gestaltung des Bandes ab, dem man die akribische und detailbewusste Arbeit der Autoren im besten Sinne ansieht.
In sieben Beiträgen untersuchen die Herausgeber das persönliche Umfeld Mellingers ebenso wie die Entwicklung der Kartografie im allgemeinen und der Regionalkartografie im besonderen. Einen besonderen Reiz des Bandes macht der interdisziplinäre Ansatz aus, repräsentiert durch die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Kirstin Casemir, die sich den unterschiedlichen Schreibweisen von Orts- und Flurbezeichnungen in den fünf noch vorhandenen Ausgaben des Ämteratlasses Mellingers zuwendet.
Uwe Ohainski schildert in seinem Aufsatz "Johannes Mellinger (um 1538-1603). Biographische Skizze und Werkverzeichnis" (11-18) Mellingers Lebensweg als Pädagoge, Arzt und Kartograf. Mellinger, um 1538 in Halle/Saale geboren, war ab 1568 Konrektor am städtischen Gymnasium Weimar, seit 1569 Rektor der Lateinschule in Jena. Dort fiel er 1573, nach dem Regierungsantritt des sächsischen Kurfürsten August, einer religiös motivierten Säuberungswelle gegen die sogenannten Gnesiolutheraner zum Opfer.
Schon während seiner Rektoratszeit war er an der medizinischen Fakultät der Universität Jena eingeschrieben, vermutlich, um sich als Arzt eine weitere berufliche Perspektive zu eröffnen. 1578 wurde der als Mediziner noch unbekannte Mellinger Hof- und Leibarzt des in Celle residierenden Herzogs Wilhelm der Jüngere und blieb bis zu seinem Tod 1603 in Celle. Seine Aufgabe war schwierig, denn Herzog Wilhelm war psychisch schwer krank und starb 1582 in völliger Agonie.
Schon in seiner frühen Celler Zeit veröffentlichte Mellinger Bücher über die Pest und die Rote Ruhr, darüber hinaus widmete er sich weiterhin der Kartografie, erfand und konstruierte Vermessungsinstrumente. 1592 gab er auf eigene Kosten eine erste Karte des Fürstentums Lüneburg heraus. Die ein Jahr später erschienene zweite Auflage dieser Karte widmete Mellinger Herzog Ernst und erreichte auf diese Weise wohl eine finanzielle Entschädigung für seine Arbeit. Mellinger empfahl sich als Landeskartograf, auch wenn diese Position nicht offiziell existierte, und gab den Ämteratlas des Fürstentums Lüneburg gewissermaßen halbamtlich heraus. Dafür erhielt er eine wenigstens teilweise Erstattung seiner Kosten, denn vermutlich erfolgte die Anfertigung der Ämterkarten auf Veranlassung der herzoglichen Verwaltung. Die beiden nicht mehr vorhandenen Originalausgaben des Ämteratlasses müssen zwischen 1592/93 und 1600 erschienen sein, ein genaues Datum ist nicht nachweisbar. Die heute noch vorhandenen fünf Ausfertigungen des Ämteratlasses sind allesamt Kopien aus dem 17. Jahrhundert.
Peter Aufgebauer vermittelt in seinem Beitrag "Weltbild und Kartographie zur Zeit von Johannes Mellinger" (19-26) einen plastischen Überblick über den Bedeutungszuwachs der Kartografie im Zeitalter der Entdeckungen und kolonialen Expansion. Hochkomprimiert, doch durchaus verständlich, schildert Aufgebauer auf wenigen Seiten die Entwicklung der Kartografie von Gerhard Mercator zu Carl Friedrich Gauß. Dass erst die technische Revolution im Vermessungswesen ein immer zutreffenderes Abbild der Welt liefern konnte, zeigt Aufgebauer anhand der verschiedenen, neu entwickelten Messmethoden (Polarkoordinatenverfahren, Triangulation) und Instrumente, wie zum Beispiel des Fernrohrs, das um 1600 erstmals eingesetzt wurde. Mellinger war selbst in dieser hochinnovativen Szene tätig, denn er konstruierte ein bis heute überliefertes Vermessungsinstrument.
Gerhard Streich betrachtet in seinem Aufsatz "Johannes Mellinger und die Anfänge der Regionalkartographie und der amtlichen Landesaufnahmen in den deutschen Territorien" (27-44) den Boom der Kartografie ab Mitte des 16. Jahrhunderts. Neben der wissenschaftlichen und öffentlich-publikumswirksamen Kartografie wurden die Territorialfürsten zu den wichtigsten Auftraggebern. Ihnen ging es letztlich um die "Durchsetzung der Landeshoheit innerhalb festgelegter linearer Grenzen gegenüber anderen mediaten Herrschaftsträgern und ihren Hintersassen" (27). Auch wenn man im Aufschwung der Kartografie eine Verwissenschaftlichung des Weltbildes sehen kann, die auch eine Veränderung des Herscherideals vom Kriegsherrn hin zum wissenschaftlich gebildeten Landesfürsten motivierte, so dominierten letztlich doch fiskalische Gründe. Erst durch statistische und geografische Bestandsaufnahmen konnte ein Herrscher die Steuerkraft seines Landes einschätzen. Nicht zuletzt führten auch strategische Motive zu einer immer größeren Nachfrage nach exakten Landkarten (30), deshalb wurden die frühen Karten oft geheim gehalten und nicht veröffentlicht.
In einem weiten Überblick schildert Streich die Entwicklung der Kartografie: von Böhmen, Schlesien, den wettinischen Ländern bis hin nach Westfalen und Ostfriesland. In den welfischen Fürstentümern initiierte Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel 1575 eine erste Darstellung des Fürstentums Wolfenbüttel, die jedoch nicht überliefert ist. Mellinger folgte erst 1592 mit seiner Karte des Fürstentums Lüneburg.
Dieter Neitzert weist in seiner "Darstellung des Fürstentums Lüneburg im Atlas des Johannes Mellinger" (45-49) auf die Schwierigkeiten in der territorialen Abgrenzung der einzelnen Ämter hin. Innerhalb der Karten gilt eine durchgängige Systematik mit einer Legende, die zwischen Stadt, Städtlein, Fürstlichem Haus, Vogtei mit Kirchhof, Adelssitz, Kloster, Kirchdorf, Vogtei, Dorf, Wassermühle, Schäferei und Krug differenziert. Auch wenn man die Darstellung der Ämter nicht mit heutigen Karten vergleichen kann, so imponiert die Leistung Mellingers, beschreibt doch sein Atlas ein Gebiet von 12.000 Quadratkilometern Größe und verzeichnet mehr als 3.000 Signaturen.
Uwe Ohainski wendet sich einem weiteren Aufsatz den "Ausfertigungen des Ämteratlasses von Johannes Mellinger" (51-54) zu und schildert in diesem Zusammenhang den Verbleib der beiden nicht mehr existierenden Originale und den Zustand ihrer fünf Kopien aus dem 17. Jahrhundert.
Kirstin Casemir nimmt eine "Sprachlich-binnenkulturelle Analyse und Untersuchung des Abhängigkeitsverhältnisses der Ämteratlanten von Johannes Mellinger (nebst einem Handschriftenstemma)" vor und widmet sich dabei den unterschiedlichen Schreibweisen von Orts- und Flurnamen in den erhaltenen fünf Exemplaren des Ämteratlasses. Es handelt sich um eine sehr differenzierte etymologische Betrachtung, die in vielfältiger Weise Aufschluss über die Entstehung und Bedeutung von Ortsnamen gibt.
Kirstin Casemir und Uwe Ohainski runden die Essays der Herausgeber mit einem "Verzeichnis der in den Ämteratlanten von Johannes Mellinger vorkommenden Orts-, Gewässer- und Flurnamen" ab. Sie tragen nicht nur alle Orts-, Gewässer- und Flurnamen zusammen, sondern stellen sie überdies auch in ihren unterschiedlichen Überlieferungsformen vor. Damit haben die beiden Autoren dieses Abschnitts ein hervorragendes Kompendium für die aktuelle landesgeschichtliche Forschung zusammengestellt.
Den Jubilar wird es freuen, nicht nur eine Zimelie für den Bücherschrank überreicht bekommen zu haben, sondern ein Buch mit hohem praktischem Gebrauchswert. Den Autoren sei Dank, auch die hoffentlich zahlreichen Leser und Benutzer des Mellingerschen Ämteratlasses werden ihre Freude daran haben.
Peter Aufgebauer / Kirstin Casemir / Ursula Geller u.a. (Hgg.): Johannes Mellinger. Atlas des Fürstentums Lüneburg um 1600 (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen; Bd. 41), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2001, 160 S., 51 Abb., 2 Karten als Beil., ISBN 978-3-89534-391-9, EUR 24,00
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