Im Bereich der Jüdischen Studien scheint eine Zeit der großen Synthesen angebrochen zu sein. Voriges Jahr erschien die von David Biale herausgegebene Neumarkierung des Gebiets unter dem Titel "Cultures of the Jews", die auch eine Reihe postmoderner Entwicklungen des Faches berücksichtigt. Zurzeit befinden sich mehrere Enzyklopädien und Anthologien zur jüdischen Geschichte und Kultur (die ehrgeizigste wurde vor kurzem von der Posen Foundation unter redaktioneller Mitarbeit von über 100 Wissenschaftlern angestoßen) in Bearbeitung. In deutscher Sprache wurde unlängst neben der vierbändigen "Deutsch-jüdischen Geschichte der Neuzeit" ein "Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa" vorgelegt, eine Anthologie zur jüdischen Geschichtsschreibung wird in Kürze erscheinen.
Das "Oxford Handbook of Jewish Studies" gehört zu den ehrgeizigsten Unternehmen dieses Genres. Sein Vorteil gegenüber den genannten Werken liegt in der klaren Definition des Vorhabens: das 'Handbook' unternimmt nicht den Versuch, jüdische Geschichte und Kultur in bestimmten Themenbereichen oder Regionen zusammenzufassen oder durch Quellenauswahl darzustellen. Beabsichtigt ist vielmehr eine Art 'State of the Art' für die wissenschaftliche Erforschung der Teilbereiche Jüdischer Studien. Wo sind in den letzten Jahren die wichtigsten Forschungsergebnisse erzielt worden? In welchen Bereichen liegen die Defizite? Welche Forschungstendenzen sind erkennbar? Mit der Beantwortung dieser Fragen verdeutlicht der vorliegende Band auf beeindruckende Weise die rapide Expansion eines zunächst überschaubaren Forschungsgebiets innerhalb der letzten zwei bis drei Jahrzehnte. Die explosionsartige Zunahme von wissenschaftlichen Einrichtungen zur Erforschung jüdischer Geschichte und Kultur, vor allem in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa macht eine derartige Bestandsaufnahme heute in der Tat nötig. Die Tatsache, dass 39 verschiedene Teilbereiche von Bibelstudien über Folklore bis hin zu israelischem und jüdischem Film Aufnahme fanden, dokumentiert die breite Auffächerung der Jüdischen Studien zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Wie der Herausgeber, Martin Goodman aus Oxford, in seiner Einleitung feststellt, geht es in diesem Band auch darum, eine wachsende Verschiebung des Faches in Richtung auf heute unter den Studenten und der breiteren Öffentlichkeit besonders beliebte Teilgebiete, wie Holocaust und Kabbala, zu korrigieren. Zurecht betont er, dass in einem wissenschaftlichen Überblick modische Themen nicht mehr in den Vordergrund gehoben werden sollten als es ihrem Gewicht innerhalb des Gesamtfaches entspricht. Darum erhalten gerade auch die klassischen Gebiete der Jüdischen Studien wie Bibelwissenschaft, Bibelexegese und Talmud, jüdische Literatur und Philosophie, aber auch die Geschichte in diesem Band ihren angemessenen Platz. In der Regel werden sie von führenden Vertretern vorgestellt und sind auch und gerade für Nichtspezialisten von großem Nutzen.
Es versteht sich von selbst, dass in einem solchen Sammelband nicht alle Beiträge von gleicher Qualität sind und auch einige Lücken klaffen. Im Bereich der Zeitgeschichte nach dem Holocaust etwa werden nur noch Israel und die USA berücksichtigt. Insbesondere die Beiträge zur neueren jüdischen Geschichte, die eine längst nicht mehr überschaubare Fülle von Veröffentlichungen prägt, heben notwendigerweise einzelne Teilbereiche hervor. Dabei gelingt es den Autoren David Rechter, Michael Stanislawski, Saul Friedländer, Ilan Troen und Hasia Diner ausnahmslos, die wesentlichen Forschungstendenzen der letzten Jahre hervorzuheben, Mängel anzuzeigen und - dies macht die Einzelbeiträge so lesenswert - auch eigene Akzente zu setzen und Positionen erkennen zu lassen.
Besonders deutlich wird der persönliche Zugang im Beitrag zu Bibelstudien und Jüdischen Studien von Alan Cooper. Er lässt keinen Zweifel an seiner eigenen Position, fasst aber dennoch kritisch die Gesamttendenzen des Faches zusammen. Dabei betont er, wie auch andere Beiträger, die enorme Wandlung des Gebiets der Jüdischen Studien, die vor allem in einer stärkeren Akzeptanz durch die Wissenschaft mündet. Bedauerlich hierbei ist allerdings, dass seine moderne Perspektive fast ausschließlich die englischsprachige Wissenschaft berücksichtigt. Den historiographischen Debatten der Neuzeit räumt auch Mark Cohen in seiner vorzüglichen Einführung ins Mittelalterliche Judentum in der Welt des Islam viel Platz ein. Dabei geht es ihm darum, den Platz der Wissenschaft zwischen dem verklärenden Blick des "Goldenen Zeitalters" und dem leidensgeschichtlichen Blick der Diskriminierung unter dem Islam auszuloten. Von besonderem Interesse sind die neueren Forschungsfelder wie Musik, Theater und Kino, die ebenfalls von Experten ihres Faches kompetent vorgestellt werden.
Insgesamt ist das "Oxford Handbook of Jewish Studies" eine außerordentliche Hilfeleistung für jeden an jüdischer Geschichte und Kultur Interessierten. Schade nur, dass es angesichts der rasanten Entwicklung in Teilgebieten des Faches in ein paar Jahren bereits wieder überholt sein wird.
Martin Goodman (ed.): The Oxford Handbook of Jewish Studies, Oxford: Oxford University Press 2002, XII + 1037 S., ISBN 978-0-19-829996-7, GBP 80,00
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