Der Titel ist Programm. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fachbereiche aus Europa, Israel und den USA kamen im Juli 2000 auf Schloss Elmau zusammen, um an der Wende zum 21. Jahrhundert eine Standortbestimmung der jüdischen Geschichtsschreibung vorzunehmen, die zugleich neue Perspektiven für die Zukunft eröffnen sollte. Doch bot das Symposion weniger Gelegenheit zu einer "großartigen historiographischen Versöhnung" (16), als vielmehr Anlass zur Diskussion darüber, in welcher Weise Geschehenes, Geschichte und Historiographie grundlegend jüdisches Leben in der Moderne ausmachen und zu bestimmen helfen. Gerade hierin liegt der große Wert des nun vorliegenden, außergewöhnlich informativen Sammelbandes, der in Form und Inhalt das Unternehmen der modernen jüdischen Geschichtsschreibung historisch präsentiert und es zugleich aktuell zur Debatte stellt. Schon daher ist die Publikation vorbehaltlos zu empfehlen.
Der Gefahr einer unkritischen Nabelschau versuchten bereits die Organisatoren bei der Strukturierung der Tagung, die sich auch im vorliegenden Band widerspiegelt, durch Stellungnahmen aus verschiedenen Generations- und Fächerperspektiven zu entgehen. So werden die sechs gewählten Unterbereiche der jüdischen Historiographie [1] zunächst von der jüngeren Forschergeneration skizziert und problematisiert. Diesen thesenstarken Überlegungen folgt ein Kommentar durch renommierte Fachgelehrte und schließlich die Stellungnahme eines Gastes, der dem Gebiet der jüdischen Geschichte ferner steht. Mit diesem "neuartigen Organisationsschema" (8) präsentieren die Herausgeber sowie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Bandes ein inspirierendes Diskussionsforum, das die Errungenschaften und Entwicklungen des Faches selbstreflexiv hinterfragt und von einer monolithischen Selbstdarstellung absieht.
Das dabei entstandene "reich gewirkte Band" (9) an Interpretationen und Entwürfen jüdischer Historiographie in den Einzelbeiträgen ist durch zentrale Fragestellungen bezüglich der 'Stofflichkeit' der Disziplin verbunden, die im Band als roter Faden immer wieder sichtbar werden. So finden sich Fragen nach dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand jüdischer Geschichtsschreibung (in Abgrenzung zu anderen Disziplinen), dem Gewicht der historisch-politischen Perspektive der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie dem Einfluss postmoderner Theorien auf das Fach in allen Themenbereichen wieder.
Gleich zu Beginn des ersten Abschnitts "Ideologie und Objektivität" betont Michael Brenner, dass das Ende historischer Großnarrativen (Jost, Graetz, Dubnow, Baron), neben der wachsenden Materialfülle, durch einen "Abschied von Gewissheiten" und dem "Vordringen postmoderner und relativistischer Überlegungen" begründet wurde (23). Die daraus resultierenden Fragen an Theorie und Methode der Disziplin müssen daher vielseitig formuliert, können aber gewiss nicht eindeutig beantwortet werden.
Die Hoffnung der Kommentatoren, Michael A. Meyer und Georg G. Iggers, auf den - wenn auch unabgeschlossenen - Fortbestand inhaltlicher Synthesen greift David N. Myers in seinen Einsichten über "Geschichte und Gedächtnis" auf. Er verbindet mit der Abkehr vom "modernen historizistischen Ethos" (56) in der jüdischen Historiographie den Beginn einer Selbstreflexion innerhalb des Faches und damit zugleich die Vorstellung "den Anker der Hyper-Wissenschaftlichkeit, an dem jüdische Forschungen bisher festgemacht war, zu lichten - nicht nur, um neue Wege zu finden, sondern auch, um Neuformulierungen jüdischer Identität zu ermutigen" (74). Yosef Hayim Yerushalmi verortet in seinem Kommentar die Grenze zwischen Geschichte und Gedächtnis hingegen nicht im Bereich neuerer Selbstreflexion der Forschung, als vielmehr in einem wissenschaftsgeschichtlichen Perspektivenwechsel. Denn mit dem Beginn moderner jüdischer Geschichtsschreibung an der Wende zum 19. Jahrhundert sei ein "radikaler Wechsel der Mentalität" (80) einhergegangen, der grundlegend für die jüdische Historiographie an sich bleibe.
Die Vorstellung vom historischen Bruch in der jüdischen "Erfahrungswelt" seit dem 18. Jahrhundert führt Shmuel Feiner unter dem Teilaspekt "Religion und Modernisierung" weiter aus. Da die Begegnung der jüdischen Religion mit der Moderne ein "Traumatisierungspotenzial" (120) in sich berge, sieht er die künftigen Aufgaben der jüdischen Historiographie (eingedenk aller neuen Tendenzen der letzten Jahrzehnte) darin, zum "Narrativ" zurückzukehren, um die Geschichte der jüdischen Säkularisierung zu rekonstruieren (121). Friedrich Wilhelm Graf empfiehlt als Vertreter der systematischen Theologie, ohne harmonisierend wirken zu wollen, mit dem Konzept einer "shared history" den Untersuchungsradius zum Themenkomplex "Säkularisierung" auch auf andere Konfessionen auszuweiten, da die Herausforderungen der Moderne zwar im Einzelnen unterschiedlich, im Wesentlichen jedoch durchaus vergleichbar "erlebt und erlitten" (133) wurden.
Der Produktivität fächerübergreifender Perspektiven geht auch Susannah Heschel in ihren Überlegungen zu "Jüdischer Geschichte und Frauengeschichte" nach. Im Sinne ihrer komparatistischen Ausführungen über Gender und jüdische Geschichte hält sie es für erkenntnisfördernd, Konzepte der Gender-Forschung allgemein auf Jüdische Studien zu übertragen, um somit "überstrapazierte Konzepte" (159) wie etwa "Assimilation" abzulösen. Paula Hyman stellt in ihrer Replik den Erkenntnisgewinn durch methodologische Übernahmen infrage und betont stattdessen die Errungenschaften, die das Fach hinsichtlich der Forschungen über jüdische Frauen in den letzten zwanzig Jahren aus eigener Kraft bewerkstelligt hat (170f.). Doch Ute Frevert bekräftigt als Historikerin der 'Allgemeinen Geschichte' die interdisziplinäre Bedeutung der Geschlechtergeschichte, da diese dem zunehmenden Separatismus in den Geistes- und Kulturwissenschaften entgegenwirke und die "Jewish Studies" vor "Isolation und Selbstbegrenzung" (178) bewahre.
Mit der komplexen These, dass die zionistische Historiographie mit "moderner, romantischer Terminologie" (188) eine "theologischen Perspektive" (187) transportiert habe, die eine Fortschreibung früherer jüdischer Historiographie bedeute, unterstellt Amnon Raz-Krakotzkin im Abschnitt "Zionismus und Nationalismus" dem Terminus "jüdische Geschichte" einen bi-nationalen Charakter. Indem dieser Begriff - er bevorzugt den Ausdruck "jüdische Historien" (200) - Diaspora und zionistische Perspektive in sich vereine, liege in ihm die Möglichkeit den binären kolonialen Diskurs zwischen Unterdrückten und Unterdrückern zu erforschen (205). Mit Überlegungen zur sakralen und säkularen Zeitvorstellung im zionistischen Geschichtsdiskurs unterstützt Dan Diner die Überlegungen von Raz-Krakotzkin (214). Rogers Brubaker hingegen verweist als Soziologe, ohne die Besonderheiten des Zionismus bestreiten zu wollen, auf die generelle Charakteristik nationaler Mythen, die weniger durch ein theologisches als durch ein teleologisches Moment geprägt seien (218). Darüber hinaus gibt er zu bedenken, dass die vorgeschlagene bi-nationale Perspektive - bei aller Selbstreflexion - auch weiterhin die Tendenz habe den Blick zu verengen (226).
In ihrem einleitenden Vortrag zum letzten Themenkomplex "Der Holocaust und historisches Denken" spaltet Yfaat Weiss die zuvor postulierte Bi-Nationalität jüdischer Historiographie wieder auf. Sie bezweifelt, dass es eine "jüdische Geschichtsschreibung der Shoah" (235) überhaupt gebe, da die nationale und somit die politisch-historische Perspektive in Israel und Deutschland auch in der jüngeren Forschung prägend sei. Methodisch macht sie dies an der von Martin Broszat entworfenen "unerträglichen Dichotomie zwischen deutscher Geschichtsschreibung und jüdischer Mythologie" fest (245), die weiterhin das positivistische Berufsethos deutscher Historiker bestimme und damit der israelischen Geschichtsschreibung entgegenstehe. Als einer der zitierten deutschen Historiker beharrt Ulrich Herbert im Kommentar auf historiographischer Authentizität, die er nicht durch die Verbindung von Erinnerung und Geschichte, aber durch die mangelnde Grenzziehung zwischen "fiction" und "non-fiction" bedroht sieht (248). Saul Friedländer fühlt sich, als Broszats langjähriger Diskussionspartner, bei seinen Vorrednern an alte Kontroversen erinnert. Versöhnend hebt er die Zunahme der gemeinsamen Interessensgebiete zwischen den verschiedenen Forscherperspektiven hervor, die er nicht zuletzt darin erkennt, dass sie "gemeinsam den gegenwärtigen Stand der Holocaust-Historiographie diskutieren" (263).
In diesem Sinne dokumentiert der gesamte Band die Diskussionen eines hochkarätig besetzten Werkstattgespräches. Die fehlende Differenzierung zwischen Gegenstand (Juden in der Geschichte), Theorie (jüdische Geschichte) und Reflexion (jüdische Historiographie) unter dem Begriff 'jüdischer Geschichtsschreibung' ist dabei die intellektuelle Herausforderung des Bandes und zugleich sein Problem. Wenn Georg G. Iggers - mit Inversion des berühmten Ranke Zitats - die Existenz einer realen Vergangenheit behauptet, bei der man allerdings nicht wisse, wie es eigentlich gewesen sei, hingegen aber zeigen müsse, "wie es eigentlich nicht gewesen ist" (53), so kann man nach der Lektüre dieser Publikation behaupten, dass sich die fortwährende Relevanz des Faches nicht durch klare Definitionen, sondern kritische Fragen erweist. Denn Selbstreflexion und Transparenz bezüglich jüdischer Geschichtsschreibung scheinen der beste Weg, sich ihrer Bedeutung zu vergewissern.
Anmerkung:
[1] Leider fehlt im Band der siebte Themenschwerpunkt der Tagung "Everyday Life - Aspects of Social History", der von Robert Liberles, Shulamit Volkov und Carlo Ginzburg diskutiert wurde. Deshalb sei hier ergänzend auf den soeben erschienenen Sammelband von Marion Kaplan (Hg.): Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003 hingewiesen.
Michael Brenner / David N. Myers (Hgg.): Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München: C.H.Beck 2002, 308 S., ISBN 978-3-406-48878-8, EUR 36,90
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