Das Thema Toleranz führt in der Religions-, Kirchen- und Geistesgeschichte im Allgemeinen eher ein Randdasein. Ausnahmen mögen die Regel bestätigen. Absolutheitsanspruch ist ein Signum des Religiösen, in der Religionsgeschichte demnach die Frage nach der Behandlung Andersdenkender ein Unterthema, keine Hauptsache. Auch im Christentum, und damit der Kirchengeschichte, stellt sich die Frage nur am Rand, nämlich im Hinblick auf die, die am Rand stehen: Häretiker, Heiden, Ungläubige. Mit einem Wort, je näher man an das Religiöse und seine Institutionen heranrückt, umso marginaler erscheint das Thema Toleranz.
Auf der anderen Seite ist es aber offenbar gegenwärtig alles andere als marginal. Man möchte meinen, es gibt aktuell, ob nun vor dem Hintergrund von Globalisierung, multikultureller Gesellschaft, ökumenischen Bestrebungen der Kirchen, Dialog und Konfrontation der Religionen, dem "Clash of Civilizations" und was einem sonst noch einfällt, keinen Begriff, der so oft beschworen wird wie die Toleranz. Mit dem Attribut "tolerant" schmücken sich Städte und Orte genauso wie alle möglichen Lebensformen. Kaum etwas scheint in unserer komplizierten Welt gegenwärtig so unabdingbar, so unverzichtbar zu sein zum Erhalt friedlichen Zusammenlebens wie Toleranz.
Umso gebotener und erfreulicher erscheint es, wenn sich wieder einmal eine Buchausgabe der Herkunft und Entwicklung des Toleranzbegriffs zuwendet. Heinrich Schmidinger, Professor für Philosophie an der Universität Salzburg, gibt hier eine Sammlung verschiedener Quellentexte zur Annäherung an ein, wie bald deutlich wird, recht komplexes Thema heraus. Es ist dabei vielleicht nicht ganz unwichtig, dass die Erstellung der Anthologie von der Stadt Graz im Zusammenhang mit deren Rolle als Kulturhauptstadt Europas 2003 finanzielle und organisatorische Unterstützung erfahren hat. Dies, die Gestaltung des Buches sowie der weitgehende Verzicht auf einen wissenschaftlichen Apparat in den in der Regel allgemein verständlichen Kommentaren lässt darauf schließen, dass von vornherein an einen größeren, nicht nur fachlich interessierten Leserkreis gedacht war - eben den breiten Kreis, für den das Thema Toleranz von Interesse sein müsste. Damit erklärt sich auch ein weniger wissenschaftlicher als vielmehr leicht pädagogischer Duktus der teils recht ausführlichen und instruktiven Begleitpassagen.
Angeordnet sind die Texte in verschiedenen Unterabteilungen - "Religiöse Fundamente", "Theologie", "Literatur", "Historik", "Humanismus", "Mystik / Spiritualität", "Philosophie", "Recht", "Anlässe / Ereignisse" und "Politik". Gerahmt wird alles von einer Einleitung und einem abschließenden Kommentar Schmidingers, der sich für Letzteren noch einmal Lessings berühmte Ringparabel zu Nutze macht. Dieser Text ist neben wenigen anderen eine Ausnahme in diesem Band - ansonsten findet sich der ausdrückliche Anspruch des Buches bestätigt, dass hier Texte versammelt werden sollten, die in vergleichbaren Lesebüchern noch nicht zu greifen sind (12). Zumindest soweit Stichproben dies verifizieren können, tauchen in der Tat neue Texte auf. Abgerundet wird das Ganze durch eine zehnseitige Bibliografie, deren Zusammenstellung ebenfalls einen weiten Leserkreis vermuten lässt. Auf den ersten Blick erscheinen auch die verschiedenen Rubriken sinnvoll gewählt; überhaupt mag man es für eine gute Idee halten, verschiedene Wirkungsfelder aufzuschließen, auf denen das Thema Toleranz seine komplexe Bedeutung entwickeln kann, und demnach die "Geschichte einer europäischen Idee" nicht chronologisch, sondern thematisch zusammenführend zu erzählen.
Aber der chronologische Aspekt fehlt doch am Ende nicht ganz. Bei näherem Hinsehen stellt sich nämlich heraus, dass mit dieser Anordnung mehr oder minder die Kapitel der Toleranzgeschichte, wie Schmidinger sie gelesen haben möchte, bezeichnet sind. Immerhin begrüßt man es sehr, dass die Sammlung auch Texte aus der jüdischen Überlieferung (Moses Maimonides allerdings gleich zweimal, gibt es keine Talmudtexte?) und aus dem Koran aufgenommen worden sind. Allerdings ist dies gleichsam nur in der Frühphase der Fall, also in den ersten Kapiteln zur "Religion" und "Theologie" (Der Islam kommt noch einmal in der Einleitung zur Mystik zu Wort.). Zeitgenössische jüdische (M. Buber? F. Rosenzweig?) oder islamische Texte zur Toleranz findet man nicht, ja Zeitgenössisches enthält überhaupt nur der bibliografische Anhang. Allmählich entfaltet sich dann die Toleranz als das, was Schmidinger darstellen möchte - eine europäische Idee (so der Untertitel) und zudem eine westeuropäische (Texte aus der polnischen Toleranztradition, etwa eines Paulus Vladimiri, hätten zumindest gut dazugepasst). Genau dieser Toleranzbegriff ist aber ein wenig zu eng.
Denn der Toleranzbegriff, von dem bereits in der Einleitung ausgegangen wird, ist ein gänzlich säkularisierter und, was dem Kommentator offenbar selbst nicht hinreichend klar ist, eng verwoben mit einem säkularisierten oder doch zumindest in Religionsfragen toleranten politischen Gemeinwesen. Die hier dargestellte Toleranz unter Toleranten gibt jedoch auf viele Fragen keine Antwort, die sich gerade aktuell im Zusammenhang mit dem Aufeinandertreffen von Religionen stellen, die ihren Absolutheitsanspruch nun einmal nicht aufgeben können. Diese Art von Fragen stellt sich auch gewiss nicht erst seit dem 11. September 2001. Verschiedentlich wird ein der Toleranz zugrunde liegender pluraler Wahrheitsbegriff beschworen, verschiedentlich überdies mit zwar einigem philosophischen Anspruch, aber historisch mitunter diskutierbar oder einfach fehlerhaft. Der unter der ersten Rubrik ("Religiöse Fundamente") aufgeführte Text von Salvianus von Marseille (31) dürfte wohl nicht allgemein von "Barbaren", sondern müsste von den arianischen Goten reden. Und weiter: Ob Mystik tatsächlich immer automatisch mit Toleranz verbunden ist? (127-130). Der mystische Hesychasmus der Ostkirche etwa war es nicht (Reaktionen der Athosmönche auf Kirchenunionen). Oder: Ob etwa die Humanisten tatsächlich, aufgrund ihrer Hingabe an die Sprache und die 'humaniora', "Erkenntnis von Hause aus im Rahmen sprachlicher Relativität" betrachteten (101)? Die nachfolgenden Texte von M. Ficino, Pico della Mirandola, Morus und Juan Luis Vives lassen davon jedenfalls wenig erkennen, schon eher indes, dass sie letztlich an der Höherwertigkeit des Christentums festhalten. Toleranz ist hier Methode, nicht Wahrheit! Und Morus' Utopia lässt die Möglichkeit (und Grenzen) der Toleranz gerade beim öffentlichen Frieden bestehen, eine Vorstellung, die einige Jahrzehnte nach ihm bekanntlich die französischen 'politiques', aber eben auch die Warschauer Konföderation noch weiterentwickeln sollten - in Richtung religiös indifferenter Staatlichkeit, die aber nicht thematisiert wird. (Der auf Seite 180 - zweimal, kein Druckfehler - genannte "geistliche Regent Cicernos" ist natürlich Francisco Jimenes de Cisneros.)
Mit anderen Worten, die immer noch reservierte letzte Wahrheit bei der eigenen Religion verschwindet aus den Texten erst allmählich, und sie tut dies im Zuge einer Betonung der Vernunft (etwa bei Grotius, 202ff.) und säkularisierter Staatlichkeit. Säkularisierung ist aber in diesem Buch leider kein Thema (siehe 249ff). Zu säkularisierter Staatlichkeit passen dann die Texte unter der Rubrik "Politik", die nicht ganz zufällig am Ende steht. Verschwindet der Absolutheitsanspruch aber damit wirklich, oder werden jetzt nur die Zeugen woanders gesucht? Gewiss weist der Kommentator verschiedentlich selbst darauf hin, dass in vielen der zusammengetragenen Dokumente Toleranzauffassungen zum Ausdruck kommen, die unseren heutigen noch nicht entsprechen (zum Beispiel 15). Nur dass dieses "noch nicht" und die dahinter stehende Teleologie etwas stört, denn vielfach sind die Toleranzauffassungen andere, nicht vorherige oder nur Vorstufen. Sie sind zudem innerhalb der Religionen nach wie vor von Bedeutung. Und erstaunlicherweise halten sie sich in den Quellentexten auch länger, als es der Kommentator betonen möchte.
Als da wären: Im Christentum das Gebot der Nächstenliebe, das gegenüber Irrenden keine Ausnahme macht - noch Grotius spricht davon (211). Des Weiteren das, was man ausgelagerte Urteilsinstanz nennen könnte, das letzte Urteil Gott überlassend, ein Argument, das hinter Lessings Ringparabel und den im Buch erwähnten Vorläufern ebenso steht wie im biblischen Gleichnis von Weizen und Unkraut (27) und das noch in Josephs II. Schriften zum Toleranzpatent vorkommt (siehe 256). In beiden Fällen wird gewiss nicht auf Kompromisse hingearbeitet, was grundsätzlich mit religiösem und konfessionellem Absolutheitsanspruch unvereinbar ist (das liegt leider in der Natur der Sache, ob man es mag oder nicht - Schmidinger mag es nicht, 286), aber ein modus vivendi, ein freundliches Miteinander, ist darin sehr wohl möglich. Vom religiösen Standpunkt ist folglich Toleranz im Grunde genommen immer vorläufig - aber könnte es sein, dass die Säkularisierung, mit der wir es zu tun haben, am Ende so etwas wie ein geistiges Sich-Einrichten in dieser Vorläufigkeit bedeutet? Zumindest gibt es in den Religionen selbst durchaus hinreichendes Potenzial zur Toleranz. Darauf hinzuweisen wäre aktuell womöglich noch etwas gebotener, als bei einem relativistischen, pluralistischen Toleranzbegriff zu bleiben - von dem man, das ist keine Frage, andererseits sehr froh sein kann, ihn zu haben. Die Entwicklung in diese Richtung dargestellt zu haben, ist gewiss das Verdienst der Anthologie Schmidingers. Leider geht sie aber nicht darüber hinaus und tut damit manchen der versammelten Texte eigentlich Unrecht.
Heinrich Schmidinger (Hg.): Wege zur Toleranz. Geschichte einer europäischen Idee in Quellen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, 319 S., ISBN 978-3-534-16620-6, EUR 24,90
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