Wesen, Bedeutung, Aufgaben und Arbeitsgebiet der Heereskunde stellen Aussagen über das Heerwesen in seiner geschichtlichen Entwicklung auf der Basis beglaubigten Fachwissens dar, wobei sich Gesamtschau und Ausschnitt im Sinne von Wechselwirkungen oder -beziehungen zweckmäßig miteinander verbinden.
Zugleich werden Materialien erarbeitet, die Aufschlüsse über Führung und Kampfesweise der Heere sowie strukturelle Funktionen des Militärapparates auf quellenmäßiger Grundlage vermitteln. Eine nutzbringende Auseinandersetzung mit der Heereskunde setzt also fundiertes, recht begriffenes Fachwissen und Sachverstand voraus; man muss Kenner wie auch Spezialist sein und darf doch die größeren, grundsätzlichen Zusammenhänge nicht aus den Augen verlieren. Eine solche Betrachtungsweise wird sich in erster Linie auf Zeugnisse historischer Überlieferungen stützen müssen. Waffen und andere Realien befinden sich heute weitgehend in musealem Besitz und sind in der Literatur wissenschaftlich ausgewertet worden. Bei den schriftlichen Quellen wurden selbst scheinbar einwandfreie kritisch gewürdigt und einer Analogie unterzogen. Für Perioden, über die keine eindeutigen und nachprüfbaren Aussagen zur Frage der Ausstattung und Ausrüstung vorliegen, bliebe dann nur der Weg, unter Zuhilfenahme zeitgenössischer Abbildungen und Berichte wie auch durch eine eingehende Untersuchung überkommener Realquellen die entsprechenden Rückschlüsse zu ziehen und das Bild zu vervollständigen. Etliche Gemälde, Grafiken und Zeichnungen enthalten Motive, in denen Waffen und Rüstungsteile Inhalt und künstlerische Gestaltung mitbestimmen. Beide nehmen hierbei eine Rolle ein, wie selten ein anderes Sujet.
Heinrich Müller versucht nun mit seiner Arbeit, bildende Kunst und Heereskunde einander nahe zu bringen.
Mehr als 800 derartige Gegenstände im Werk Albrecht Dürers sowie dessen hohe Detailgenauigkeit waren Anlass für den Autor, das Œuvre dieses Künstlers für eine Untersuchung der vorliegenden Art heranzuziehen. Mittels der Betrachtung von Rüstungen und Waffen nicht nur als Gebrauchsgerätschaften, sondern auch als künstlerisch gezielt eingesetzte Zeichen gelingt es Müller, zahlreiche Schöpfungen des berühmten Nürnberger Malers und Stechers neu zu interpretieren, wissenschaftliche Aussagen zu ergänzen, zu verifizieren oder zu korrigieren.
Albrecht Dürer bildete in Zeichnungen, Grafiken und Gemälden die Umwelt mit großer Detailtreue ab und hob sie damit seinen Mitmenschen in das Bewusstsein. "Die Kunst steckt lediglich in der Natur; wer sie heraus kann reißen, der hat sie." Darüber hinaus besaß Dürer gegenüber vielen anderen künstlerisch tätigen Zeitgenossen profunde Kenntnisse über Kriegs-, Jagd- und Turnierwaffen. Dürer wuchs in einem Zentrum der damaligen Waffenproduktion auf. Das Nürnberger Zeughaus wie auch die in Nürnberg zuhauf ansässigen Plattner, Helmschmiede, Schwertfeger, Armbrust- oder Büchsenmacher boten dem Künstler ausreichend Gelegenheit, entsprechende Studien zu betreiben. Die intensive Auseinandersetzung Dürers mit Waffen verschiedenster Art kann u.a. auch daran gemessen werden, dass in seinem Werk etwa vierzig verschiedene Entwürfe für Klingenformen von Helmbarten, eine Stangenwaffe für Hieb und Stoß, enthalten sind.
Die Waffen des hier behandelten Zeitraumes waren noch nicht industriell, sondern auf handwerkliche Weise, zum Teil sogar kunsthandwerklich hergestellt und damit kaum strengeren Normen unterworfen. Daher ist eine allgemeine Kenntnis ihrer Werkstoffe, Eigenschaften und Bauformen für den Leser, der sich mit dieser Materie auseinandersetzen will, unerlässlich. Müller trägt dieser Forderung Rechnung und gliedert seine Arbeit übersichtlich auf: Von Fernwaffen wie Geschütze, Bogen und Armbrust, die ihre Geschosse durch die Kraft einer Sehne oder des Pulvers in Bewegung brachten über Waffen und Waffenteile, am Körper getragen, um vor Stoß, Hieb und Schlag zu schützen, aber auch dazu zu gebrauchen bis hin zu den Stangen - und Schlagwaffen, die durch das Soldkriegertum in immer größerem Umfang Verbreitung fanden. Sein Blick richtet sich darüber hinaus auf die Aufgaben des Kämpfers in seiner Waffengattung, seine Ausrüstung sowie der Gebrauch seiner spezifischen Waffen. Aber auch Turnierwaffen für den sportlichen Zweikampf von Adligen und Patriziern sowie die Bewaffnung und Bekleidung des in zunehmendem Maße auf dem Gefechtsfeld auftretenden Fußvolkes werden hierbei berücksichtigt. Das Söldnerwesen vermehrte zwangsläufig die Zahl des Fußvolks in den Heeren. Für diese Entwicklung waren praktische militärische Gründe ausschlaggebend, denn nur Fußvolk konnte Burgen und Städte angreifen wie auch verteidigen. Geworbenes Kriegsvolk war außerdem viel freizügiger und die Feldzüge konnten demnach entsprechend länger dauern. Dürer hingegen vermochte diesem Stand wenig abzugewinnen und unterschied in seinen Darstellungen deshalb sehr genau durch eine dezidierte Auswahl von Kleidung und Rüstungsteilen zwischen brutalen Schergen und ehrenhaften Kriegern.
Der Autor widmet aber auch Dürers Vorliebe für Waffen und Rüstungen als reines Gestaltungselement die gebührende Aufmerksamkeit. Die Quellengrundlage der vorliegenden Arbeit umfasst eine systematisch erschlossene Auswahl aus druckgrafischen Blättern, Zeichnungen, Aquarellen und Gemälden, die mit originalen Rüstungen, Waffen und Kostümen aus dem reichhaltigen Bestand des Deutschen Historischen Museums Berlin verglichen wurden. Das Bild als Geschichtsquelle auszuwerten ist das Ziel der historischen Bildkunde, eine Methode fundierter Bildanalyse zur Erforschung historischer Fragestellungen. Der Autor unternimmt in überzeugender Weise den Versuch, die vielschichtigen Bedeutungsebenen von Dürers Bilddokumenten kritisch zu beleuchten, d.h. die geistigen, religiösen, sozialen, kulturellen oder mentalitätsgeschichtlichen Sinnschichten freizulegen und mit dem aktuellen historischen Erkenntnisstand zum Kriegswesen dieser Zeit abzugleichen. Waffen waren für Dürer eben nicht nur inhaltloses Beiwerk, sondern Mittel, um Inhalte auszudrücken oder zu verstärken. Unabhängig davon weist Müller ebenso überzeugend nach, dass Dürer den nötigen Blick und die nötigen Kenntnisse besessen hat, die für die Treue der Wiedergabe Gewähr leisten und sein Werk somit als wertvolle wie auch hilfreiche Bildquelle für heereskundliche Fragestellungen angesehen werden kann.
So hat diese Arbeit weit über die bisherige Interpretation der Bildquelle zur Aussage über Bekleidung, Bewaffnung oder Ausrüstung methodisch neue Wege beschritten und ist in ihrer militärhistorischen Aussage für die Waffenkunde wie auch Sozialgeschichte eine wesentliche Bereicherung, die Schule machen sollte.
Heinrich Müller: Albrecht Dürer. Waffen und Rüstungen, Mainz: Philipp von Zabern 2002, 216 S., 36 Farb-, 179 s/w-Abb., ISBN 978-3-8053-2877-7, EUR 45,00
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