Mitten im Sommertheater um den Italienurlaub des Bundeskanzlers öffnete im Bochumer Industriemuseum die Ausstellung "Neapel - Rimini - Bochum. Arbeiten in Deutschland. Urlaub in Italien" ihre Pforten, zu der auch ein gleichnamiger Begleitkatalog erschienen ist. Mit den beiden gegenläufigen Wanderungsströmen, der italienischen Arbeitsmigration in die Bundesrepublik und dem deutschen Italientourismus, in den 50er- und 60er-Jahren behandeln Katalog und Ausstellung zwei der wichtigsten Aspekte der deutsch-italienischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die bisher von der zeitgeschichtlichen Forschung nur wenig beachtet wurden.
Bis 1973, als die sozialliberale Regierung einen Anwerbestopp verhängte, kamen allein über zwei Millionen italienische Gastarbeiter nach Westdeutschland. Von den Anwerbestellen in Verona und Neapel ging es für viele von ihnen meist per Eisenbahn direkt zu den Zechen des Ruhrgebietes, nicht zuletzt nach Bochum. Später folgten unter anderem türkische Arbeitnehmer. Faktisch wurde Deutschland damit zum Einwanderungsland, und schnell stellte sich das Problem der Integration.
Das Aufkommen des Massentourismus andererseits ist eines der Kennzeichen des 20. Jahrhunderts. Untrennbar mit Wirtschaftsboom und Wohlstandsmehrung der Jahre nach 1945 verbunden, besitzt der Tourismus für beide Länder eine ökonomische Dimension ersten Ranges. Allein die deutsche Tourismusbranche beschäftigt heute 2,8 Millionen Arbeitnehmer und erwirtschaftet 8% des Bruttoinlandsproduktes.
Darüber hinaus erzeugte der Tourismus in beiden Ländern enorme soziokulturelle Rückwirkungen. Schlaglichtartig zeigt sich das in Orten wie Rimini - eine Stadt, die zu einem großen Teil von deutschen Urlaubern lebt und die inzwischen weitestgehend "germanisiert" ist. Aber nicht nur das: "Die schönsten Tage im Jahr" stellen mittlerweile eine prägende lebensweltliche Erfahrung für viele Deutsche dar.
Alle diese Aspekte streift der Katalog der Bochumer Ausstellung. Allerdings heben deren Macher vor dem Hintergrund eines zunehmenden Interesses an Alltagsgeschichte vor allem auf die individuelle Erlebnisebene der deutschen Urlauber und italienischen Gastarbeiter ab und fragen nach den Vorstellungen und Klischees, die beide Seiten voneinander entwickelten. Um darüber die allgemeinen Rahmenbedingungen nicht aus dem Blick zu verlieren, stehen dem Katalog vier kurze einleitende Artikel voran. Auf der Basis der vorhandenen Literatur und von Archivmaterial behandeln diese Beiträge überblickshaft die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Aspekte der italienischen Arbeitsmigration ebenso wie die Etappen des deutschen Italientourismus seit 1933.
Der zweite Teil des Katalogs ist den circa 170 Exponaten der Ausstellung gewidmet, die zu einem großen Teil private Leihgaben von Deutschen und Italienern waren. Abgebildet sind neben Broschüren, Plakaten, Arbeitsverträgen und zahlreichen Fotos aus dem Urlaub und dem Wohn- und Arbeitsumfeld der Italiener auch persönliche Gegenstände wie Reisekoffer, Kochutensilien und Urlaubssouvenirs. Mehrere (sehr) kurze Lebensgeschichten italienischer Arbeitsmigranten und eine ausführliche Bibliografie schließen den Katalog ab.
Aber nicht nur wegen dieser erstmals zu sehenden Exponate, die sich als Illustrationsmaterial für den Lehrbetrieb anbieten, ist der Ausstellungskatalog von Interesse für Zeithistoriker, Geschichtslehrer und Studierende. Die einleitenden Aufsätze vermitteln zudem einen konzentrierten Überblick über die Thematik und stellen in der Zusammenschau durchaus auch vermeintlich längst Bekanntes wieder in Frage. Nur wenige besonders wichtige Aspekte seien hier erwähnt:
Wie die Ausstellungsmacherin Anke Asfur in ihrem Beitrag zeigen kann, muss man deutlich unterscheiden zwischen dem insgesamt sehr positiven Bild, das sich Deutsche von Italien machten, und den meist sehr ambivalenten Vorstellungen, die sie von Italienern besaßen. So waren zwar viele Deutsche regelrecht begeistert von Sonne, Meer und unbeschwertem Leben. Den Italienern hingegen begegnete man meist mit Vorbehalten und Misstrauen. Diese besäßen ein ungezügeltes Temperament und neigten zur Kriminalität. So befürchteten viele Italientouristen tatsächlich, im Urlaub bestohlen und betrogen zu werden.
Diese Ambivalenzen im Italienbild erklären dann auch, warum die italienische Zuwanderung wesentlich problembehafteter war, als man bis heute gemeinhin glaubt. So gab es anfangs gegenüber der Beschäftigung italienischer Arbeitskräfte erhebliche Vorbehalte auf Seiten der deutschen Politik, der Wirtschaft und von Interessenverbänden. Neben den schon erwähnten Vorurteilen kam vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs und einer starken italienischen Kommunistischen Partei vor allem die Angst vor einer kommunistischen Unterwanderung hinzu.
Doch setzte sich bald der "Primat der Ökonomie" durch - Arbeitskräfte waren vor allem im Bergbau sehr gesucht. Das führte dazu, dass sich vor allem deutsche Arbeitgeber aus Eigeninteresse schnell für die Integration der Gastarbeiter stark machten. Diese Eingliederung weist allerdings bis heute Mängel auf, wie die Beiträge deutlich machen. Zwar sind inzwischen zahlreiche italienische Gastarbeiter mit deutschen Frauen verheiratet (31). Doch nach wie vor sind deren Kinder etwa in Gymnasien unter- und in Sonderschulen überrepräsentiert (18).
Aber auch noch in den 60er-Jahren war das Verhältnis zwischen Deutschen und Italienern keinesfalls spannungsfrei oder gar harmonisch. So warf vor allem die Vergangenheit lange Schatten. Dass Italien im Jahr 1943 auf die Seite der Alliierten gewechselt war und in den Augen vieler Deutscher damit "Verrat" begangen hatte, fiel noch lange Jahre auf die italienischen Gastarbeiter zurück, die vielen Betriebsleitungen als "unzuverlässig" galten. Durch den Kontakt in den Betrieben und im Urlaub schliffen sich diese Vorurteile schließlich weitestgehend ab, so zumindest die Behauptung der Autoren.
An dieser Stelle ist jedoch Kritik anzumelden. Wie im Katalog an anderer Stelle deutlich wird, kam es im Italienurlaub nur sehr selten zu echten Begegnungen zwischen Italienern und Deutschen. Klischeevorstellungen wurden so eher bestätigt als widerlegt. Auf der anderen Seite dürften nur wenige Deutsche je näheren Kontakt mit einem italienischen Arbeitskollegen gehabt haben. Warum und in welchem Maß sich Stereotypen abgemildert haben, das müssen erst noch eingehende Forschungen ergründen. Die Ausstellungsmacher jedenfalls haben hier eine wenig plausible Antwort gegeben, die sie auch nicht belegen können.
Bedauerlich ist auch, dass das Deutschlandbild der italienischen Gastarbeiter relativ unterbeleuchtet bleibt. Wir erfahren lediglich, dass etwa so mancher Süditaliener glaubte, in Deutschland sei es immer nur kalt. Vor allem die Erfahrungen mit Ausgrenzung und Diskriminierung bleiben in den Beiträgen schemenhaft. Gerade hier hätte man sich mehr gewünscht, zumal es darüber bereits erste Forschungen gibt.
Insgesamt handelt es sich bei dem hier anzuzeigenden Band gleichwohl um einen anregenden und auch optisch ansprechenden Ausstellungskatalog zu zwei sehr wichtigen zeitgeschichtlichen Themenfeldern, die es noch wesentlich gründlicher zu erforschen gilt.
Anke Asfur / Dietmar Osses (Hgg.): Neapel - Bochum - Rimini. Arbeiten in Deutschland. Urlaub in Italien. Katalog zur Ausstellung des Westfälischen Industriemuseums Zeche Hannover, Bochum 12. Juli - 26. Oktober 2003, Essen: Klartext 2003, 98 S., ISBN 978-3-89861-244-9, EUR 14,90
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