Das kleine 134-Seiten-Bändchen des österreichischen Autors Beppo Beyerl, eines 1955 in Wien geborenen Slawisten und freien Autors, bedarf der Erwähnung nicht, weil es irgendeinen neuen Tatbestand ins Licht höbe oder eine überraschende These entwickelte. Beyerl stellt die Beneš-Dekrete - also die zwischen 1940 und 1946 vom Exilpräsidenten (und späteren) Staatspräsidenten der Tschechoslowakei erlassenen Rechtsakte - erstens (korrekt) dar und vertritt zweitens die Auffassung, dass auch die in eklatantem Widerspruch zu den Menschenrechten stehenden vier oder fünf Dekrete, die die Enteignung und (indirekt) die Vertreibung der Sudetendeutschen betreffen, nicht aufgehoben werden sollten. Solch eine historische Analyse mit aktuellem Zweck - eine leichte Mischung zwischen Historiographie und politischer Polemik - ist durchaus legitim. Sie wendet sich zum Beispiel gegen die Agitation des österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haider und die Thesen mancher Funktionäre der sowohl österreichischen als auch deutschen Landsmannschaft. Leider ist das Büchlein in seiner Mitleidslosigkeit gegenüber dem Geschick vertriebener Menschen symptomatisch für eine bestimmte Grundhaltung der linken, linksliberalen und linksgrünen Intelligenz. Wie kommt es zu dieser Mitleidslosigkeit, fast sechzig Jahre nach der Vertreibung? Und wieso wird sie häufig von einer politischen Richtung vertreten, die doch sonst voller Empathie auf die Schwachen und Misshandelten schaut?
Die bewusste Panzerung gegen eine missliebige Wirklichkeit beginnt schon bei der Analyse des Begriffes "sudetendeutsch". Beyerl schreibt: "Der Begriff 'sudetendeutsch' ist [...] eine Konstruktion ohne geschichtliche Legitimität, entstanden im Volkstumskampf der frühen 1920er Jahre." Richtig ist, dass über viele Jahrhunderte kein Deutschböhme daran dachte, sich nach dem Sudetengebirge zu benennen. Die Westböhmen hatten mit den Mährern oder den Angehörigen der übrigen Sprachinseln nicht viel mehr gemeinsam als eine (durch Dialekte geschiedene) Sprache. Tatsache aber ist, dass das Hineinzwingen von mehr als drei Millionen Deutschen in einen "tschechoslowakischen" Nationalstaat dem viel gepriesenen "Selbstbestimmungsrecht der Völker" widersprach. Aus den höchst unterschiedlichen Deutschböhmen und Deutschmährern konnten nur deshalb "Sudetendeutsche" werden, weil man sie gemeinsam einem Schicksal aussetzte, das sie weit schlechter stellte als in der österreich-ungarischen Monarchie. Ist das keiner Erwähnung wert? Die Schüsse vom 4. März 1919, die die tschechische Polizei auf Arbeiterkundgebungen in verschiedenen deutschböhmischen Städten abgab und die mehr als fünfzig Todesopfer forderten, werden mit keinem Satz erwähnt.
Auch ist die Behauptung, die deutschsprachige Bevölkerung in der Tschechoslowakei habe eine "Defacto-Autonomie" genossen, schlicht falsch. Auch die Slowaken genossen im Übrigen keine solche Autonomie. Prag versuchte das Land zentralistisch zu regieren. Erst 1938 gestand Beneš - unter dem Druck Hitlers - in einem so genannten "dritten" und "vierten Plan" Deutschen und Slowaken eine zufrieden stellende Autonomie zu. Da war es zu spät. Hätte er das 1930 getan, hätte Konrad Henlein die aktivistischen (also pro-tschechoslowakischen) Parteien nie zerschlagen und ihre Wähler in eine nationalsozialistisch durchsäuerte und bald auch nationalsozialistisch geführte Volksbewegung integrieren können. In diesem Fall wäre auch die katholische Hlinka-Partei in der Slowakei nicht zu einer halbfaschistischen Organisation geworden. Kein Wort von allen diesen Entwicklungen im Buch von Beppo Beyerl.
Beyerls Ablehnung der Entschädigungsforderungen, die Funktionäre der Sudetendeutschen Landsmannschaften immer noch aufstellen, ist richtig. Durch solche Entschädigungen würden sowohl die Tschechische Republik als auch die Slowakei in die Luft gesprengt. Ob das allerdings bedeuten muss, dass man mit den Beneš-Dekreten heuchlerisch verfährt - nach außen verkündet man, sie seien "totes Recht", "obsolet" und nach innen fürchtet man, sie könnten "aufgeweicht" (Minister Pavel Dostal) werden -, steht auf einem anderen Blatt.
Beyerls Folgerung lautet: Die Sudetendeutschen möchten sich "mit etwas Noblesse" damit begnügen, dass die tschechische Regierung "in irgendeiner Form Bedauern über die bei der Umsetzung der Dekrete erfolgten Untaten" ausspricht. Daran anschließend folgt der zynische Satz: "Zudem können sie sich insgeheim glücklich schätzen, dass sie am Wiederaufbau des einsetzenden Kapitalismus in Deutschland und Österreich partizipieren durften." Gegenüber den 270.000 Bauern, die ihre Höfe verloren, gegenüber kleinen Buchhaltern und Verkäuferinnen, die aus einem Land gewiesen wurden, in dem ihre Vorfahren zumeist mindestens dreihundert Jahre gelebt hatten, ist das von unerträglicher Arroganz. Die Bestrafung der aktiven sudetendeutschen Nazis - sicherlich hunderttausende Menschen - wäre gerechtfertigt gewesen. Die Verhängung der Kollektivschuld über alle Deutschen, einschließlich der deutschen Juden, war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Klement Gottwald, der tschechische Kommunistenführer, sprach bei den Enteignungen von 1945/ 46 von "den kleinen tschechischen Menschen", die jetzt den Besitz der Deutschen bekämen. Verdienen "kleine deutsche Menschen" nicht das gleiche Mitleid wie "kleine tschechische" und "kleine slowakische" Menschen?
Wer Beyerls Buch liest, weiß natürlich, woher die flotte Bosheit kommt: Beyerl ist angewidert von der Einseitigkeit bestimmter Teile der Sudetendeutschen Landsmannschaften. Das kann man verstehen. Deren Gegnerschaft gegen die Ostpolitik, die Verträge mit den Tschechen, ja sogar gegen die Aufnahme der Tschechischen Republik in die Europäische Union erzeugen den Gegendruck, den Beyerl mit vielen Mitstreitern auszuüben versucht. Es wäre an der Zeit, die Häme auf beiden Seiten zu drosseln und Mitgefühl mit dem Schicksal von Millionen von Menschen zuzulassen, die nur einen Makel hatten, den sie mit Milliarden anderer Menschen (übrigens auch mit vielen Tschechen) teilten: Sie waren keine Helden. Das aber ist keine Rechtfertigung für Vertreibung.
Die Massenmorde nach der ersten Kapitulation Hitlers - in Aussig, Brünn, Postelberg, Landskron, Wekelsdorf und anderen Orten - waren nicht einfach "Übergriffe". Sie gehörten zum Plan; da zwar nicht Stalin, wohl aber die Westmächte inzwischen an ihren eigenen Zusagen, die Vertreibung zuzulassen, zweifelten, wollte die erste tschechische Nachkriegsregierung vollendete Tatsachen schaffen. Deswegen ist es unhaltbar, wenn Beyerl dieses Problem Folgendermaßen abhandelt: "Ohne das Massaker in Aussig/ Usti und den Brünner Todesmarsch selbst anzuzweifeln: Gerne werden Massaker als Mittel der Propaganda eingesetzt, da man die Verantwortung dafür wegen der oft ungeklärten Entstehung und dem mysteriösen Ablauf leicht der Gegenseite unterschieben kann. Fazit: Die Trennlinie zwischen erfundener Greuelpropaganda und einem tatsächlich verübten Massaker muss jedenfalls in jedem Einzelfall gezogen werden."
Das mit dem Einzelfall ist richtig. Diese Arbeit ist aber geleistet, übrigens nicht nur von Deutschen, sondern auch von Tschechen. Seit vielen Jahrzehnten liegt die Dokumentation von Theodor Schieder vor. Inzwischen hat Tomaš Stanek auch von tschechischer Seite die meisten "Massaker" aufgearbeitet. Formulierungen aber, die offen lassen, ob die Massentötungen von Aussig oder Brünn/ Pohrlitz vielleicht auch "Greuelpropaganda" sein könnten, werden den Opfern nicht gerecht. In Pohrlitz liegen zwischen 600 und 800 deutsche Opfer unter den Feldern. Der mährische Schriftsteller Ota Filip hat diese Gräber besucht. Vielleicht sollte Beppo Beyerl das auch einmal tun.
Beppo Beyerl: Die Beneš-Dekrete. Zwischen tschechischer Identität und deutscher Begehrlichkeit, Wien: Promedia Verlagsgesellschaft 2002, 132 S., ISBN 978-3-85371-194-1, EUR 9,90
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