Nach dem Fall des ersten britischen Premierministers, Sir Robert Walpole (1676-1745), im Jahre 1742, verbrachte man den größten Teil seiner legendären Londoner Gemäldesammlung, darunter allein dreizehn herausragende Werke von Rubens und zwölf von Van Dyck, von 10 Downing Street auf sein erst kurz zuvor vollendetes neo-palladianisches Landhaus Houghton Hall in Norfolk, das fortan auf Grund seiner Architektur, vor allem aber auch wegen seiner Sammlungen zum festen Itinerar kontinentaler Englandreisender gehörte.
1779 wurde die 204 Gemälde umfassende Sammlung, die man zu ihrer Zeit zu den besten des englischen Königreichs zählte, von Sir Roberts Neffen, des Dritten Earl of Orford, George Walpole, zur Tilgung von ererbten Schulden an die russische Kaiserin Katharina II. verkauft. Im Verlauf von langwierigen Geheimverhandlungen, die James Christie, der angehende Auktionator und Begründer des gleichnamigen Auktionshauses (gegründet 1764), im Auftrag der Kaiserin geführt hatte, wechselte die Sammlung schließlich ihren Besitzer für die immense Summe von 40.555 Pfund Sterling. Als der Verkauf ruchbar wurde, empfand man in weiten Kreisen der britischen Öffentlichkeit diesen Verlust als das Resultat unpatriotischer Machenschaften und als schlechthin skandalös. Schon zwei Jahre zuvor, am 28. April 1777 hatte eine der notorischen Figuren der englischen Aufklärung, der mehrfache MP von Middlesex, Radikalaufklärer, Verteidiger der Pressefreiheit und Korrespondent des französischen Enzyklopädisten Denis Diderot, John Wilkes (1725-1797), im House of Commons gefordert, die Sammlung für die englische Krone zu erwerben, um sie dem Britischen Museum einzuverleiben. Denn, wie er in seiner Stellungnahme darlegte, es galt, eine neue nationale Sammlung zu errichten, die außerdem dem Vergleich mit denen des französischen Erzrivalen standhalten sollte [1].
Der Verkauf bewegte noch Jahre danach die Gemüter: im Februar 1782 erschien im "European Magazine" ein Beitrag, der den Verkauf der Sammlung als einen weiteren, geradezu tragischen Beleg für den Niedergang des britischen Empires aber auch des scheinbar unaufhaltsamen Aufstiegs des russischen Riesenreichs wertete, während noch 1824, im Gründungsjahr der Londoner Nationalgalerie, der Kunsthändler William Buchanan die Meinung vertrat, dass in der Geschichte Englands der Verlust für das nationale Kulturerbe nur noch von der Zerstreuung der Sammlungen Karls I. durch den Commonwealth übertroffen worden sei.
Katharina II. (reg.1762-1796) verfolgte mit Unterstützung führender westlicher Aufklärer die von ihrem Vorgänger Peter I. (reg. 1689-1725) vorgegebenen Ziele einer umfassenden Modernisierung und internationalen Aufwertung Russlands. Noch während seines Petersburg-Aufenthaltes im Jahre 1773 hatte ihr Denis Diderot in einem seiner zahlreichen Memoranden hinsichtlich der Einrichtung von modernen Sozial- und Kultureinrichtungen anempfohlen, eine groß angelegte öffentliche Kunstsammlung zu etablieren, um einerseits der Künstlerausbildung zu fördern und andererseits eine Hebung des allgemeinen Geschmacks nach westlichem Vorbild herbeizuführen [2]. In der Tat koinzidierten diese Vorschläge Diderots - zu einem Zeitpunkt als Wilkes in England im Hinblick auf die Erweiterung des Britischen Museums fast wortgleich argumentierte - mit jener Phase der intensivsten Erwerbungspolitik Katharinas II., an deren Ende die kaiserliche Kunstsammlung mehr als 4.000 Gemälde und unzählige andere Objekte aufwies und mit jeder anderen westeuropäischen Sammlung ihrer Zeit den Vergleich nicht länger zu scheuen brauchte, weder was ihren Umfang noch ihre Qualität betraf. Allein zu diesem Zweck erwarb die Kaiserin vor allem ganze und besonders prominente Sammlungen, wie z. B. die Sammlungen des Grafen Heinrich von Brühl (1769), François Tronchins (1770), Gerard Braamkamps (1771, allerdings im gleichen Jahr vor Petersburg im Verlauf einer Havarie gesunken), oder die umfangreichen Sammlungen Pierre respektive Louis-Antoine Crozats (1772).
Dass Katharina II. gerade in Kriegszeiten - es tobte gerade der erste russisch-türkische Krieg der Jahre 1768-74 - unter den Augen einer kritischen, bisweilen argwöhnischen Weltöffentlichkeit solche Erwerbungen tätigte, verhalf dieser "ex nihilo" entstandenen Sammlung zu einer bislang ungekannten, Europa übergreifenden Publizität. Die Zeitungen und Zeitschriften sowie Korrespondenzen dieser Epoche legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Politische Rivalen der russischen Kaiserin, wie Friedrich II. von Preußen, brachten ihre Verwunderung zum Ausdruck, wie es der Kaiserin auch weiterhin in Anbetracht leerer Kassen möglich sein sollte, solche Erwerbungen zu tätigen [3].
Das nunmehr vorliegende Standardwerk zur Sammlung Walpole, das im Zusammenhang mit einer kleineren Ausstellung zum Thema in den Londoner Hermitage Rooms entstanden ist [4], darf als das Produkt einer in jeder Hinsicht vorbildlichen Zusammenarbeit zwischen russischen und westeuropäischen Kunsthistorikern gelten [5]. Unter der Leitung von Andrew Moore, Keeper of Art des Norwich Castle Museums, der schon 1996 eine kleinere Ausstellung über Houghton Hall organisiert hat [6], und Larissa Dukelskaya, Kuratorin für englische Grafik an der Staatlichen Ermitage in St. Petersburg und ausgewiesene Kennerin der anglo-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert, ist nicht nur das vielleicht bis dato genaueste Kapitel zur Sammlungsgeschichte der Ermitage, unter extensiver und vor allem auch komplementärer Nutzung englischer und russischer Archive, geschrieben worden, sondern gleich auch noch ein vorbildlicher, zumal auf neuestem Stand verfasster Gemälde- und Skulpturenkatalog der Sammlung Walpole entstanden. Erstmals ist die gesamte Sammlung, das heißt sowohl die Gemälde in Russland als auch jene, die in Houghton Hall verblieben sind, katalogisiert worden.
Die Sammlung von Sir Robert Walpole reflektiert geradezu idealtypisch den Kunstgeschmack eines englischen Sammlers des frühen 18. Jahrhunderts. Dementsprechend sind die holländische (z. B. die "Opferung Isaaks" von Rembrandt, 1736 von Walpole erworben) und insbesondere die flämische Schule des 17. Jahrhunderts (man denke allein an die herausragenden Petersburger Portraits aus Van Dycks englischer Epoche) besonders stark vertreten, wenngleich die Sammlung auch über wichtige Gemälde der französischen (Poussin und Claude Lorrain) und natürlich italienischen Schule (Guido Reni, Carlo Maratta und Salvator Rosa ) verfügte. Der nunmehr vorliegende Katalog einer der bedeutenden historischen Sammlungen des 18. Jahrhunderts erschließt diese Werke nicht in gewohnter Manier. Zum einen macht er dem Leser zum ersten Mal alle sammlungsgeschichtlich relevanten Dokumente zugänglich während er zum anderen in Bezug auf die einzelnen Katalognummern etliche Originalzitate aus Münnichs erstem handschriftlichen Inventar der kaiserlichen Gemäldesammlungen aus den Jahren 1773-1785 aufweist. Die Berücksichtigung dieses Inventars ist besonders hervorzuheben, zumal dessen im neuzeitlichen Sinne wissenschaftliches Anliegen in letzter Konsequenz auf die Anregung von Münnichs Freund Diderot zurückzuführen ist [7]. Weiterhin beinhaltet der Band eine ebenfalls vorbildhafte, von Andrew Moore besorgte Edition von Horace Walpoles "Aedes Walpolianae", einem der richtungsweisenden Gemäldekataloge der Frühen Neuzeit (hier nach der 2. Auflage von 1752; 351-417, gefolgt von einem Appendix IV, der alle bekannten handschriftlich annotierten Exemplare der "Aedes" aufführt, darunter auch die Exemplare aus dem Besitz der Kaiserin; ebd., 451).
Erwähnt werden müssen auch die für die Sammlungsgeschichte allgemein sehr nützlichen Rekonstruktionen der Hängepläne von Houghton Hall von Andrew Moore und David Yaxley (419-428) sowie das vorzügliche "Directory of Agents, Buyers and Collectors"von Edward Bottoms (429-442). In Bezug auf die anderen großen Erwerbungen Katharinas II., die da noch einer detaillierten Erforschung harren, würde sich der Rezensent wünschen, hinsichtlich der Hintergründe und Drahtzieher der Kunst- und Kulturpolitik Katharinas II. ebenso viel zu erfahren, wie in der vorliegenden Studie.
Anmerkungen:
[1] The Speeches of Mr. W[ilkes] in the House of Commons, London, 1786, S. 142-143.
[2] Siehe die bislang einzige wissenschaftliche Studie zur Geschichte der Ermitage von Wladimir F. Levinson-Lessing: Geschichte der Gemäldegalerie der Ermitage 1764-1917, Leningrad: Iskusstvo, 1985 (auf Russisch).
[3] Vgl. Friedrich II. an den preußischen Legationsrat Thulemeier im Haag, am 21 November 1771: "Les grandes dépenses que... l'impératrice de Russie fait en tableaux [Thulemeier berichtete, dass Katharina II. die Galerie von Braamcamp in Amsterdam gekauft habe und in Unterhandlung über die Erwerbung der Galerie Crozat in Paris stehe], me surprennent, et cela d'autant plus que j'ai lieu de présumer que, par les conjonctures présentes où elle se trouve, l'argent doit lui faire faute et être assez rare dans ses coffres. Continuez, au reste, à me communiquer tout ce que vous apprendrez ultérieurement d'intéressant"; in: Politische Correspondenz Friedrich's des Grossen, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 31. Bd., Berlin, 1906, Nr. 20395, S. 551.
[4] Painting, Passion and Politics: Masterpieces from the Walpole Collection, Ausstellung, London, Somerset House, Hermitage Rooms, 28. September 2002 bis 23. Februar 2003. Zur Ausstellung erschien auch ein Begleitheft, zumal das hier rezensierte Buch eine eigenständige Monografie darstellt, die weit über die Ziele der Ausstellung hinausreicht.
[5] Das Vorhaben wurde institutionell ermöglicht von der Petersburger Ermitage und dem Paul Mellon Centre for Studies in British Art in London.
[6] Vgl. Houghton Hall: The Prime Minister, the Empress and the Heritage, Ausstellungskatalog, hrsg. von Andrew Moore, Norwich Castle Museum, 1996.
[7] Ernst von Münnich: Catalogue raisonné des tableaux qui se trouvent dans les galeries, salons et cabinets du Palais Impérial de Saint-Pétersbourg, unveröffentlichte Handschrift, Bde. 1-2, 1773-1785, Bd. 3, 1783-1785; St. Petersburg, Staatliche Ermitage, Archiv, Fond 1, Opis VI-a, Nr. 85. Man darf hoffen, dass auch dieses Inventar, der Forschung einmal in vollem Umfange zugänglich sein wird.
Larissa Dukelskaya / Andrew Moore (eds.): A Capital Collection: Houghton Hall and the Hermitage. With a modern edition of Aedes Walpolianae, Horace Walpole's Catalogue of Sir Robert Walpole's Collection, New Haven / London: Yale University Press 2002, 500 S., 124 Farb-, 236 s/w-Abb, ISBN 978-0-300-09758-0, GBP 50,00
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