sehepunkte 4 (2004), Nr. 1

Wolfgang Brassat: Die Raffael-Gobelins in der Kunstakademie München

Das hier anzuzeigende Buch von Wolfgang Brassat widmet sich den seit 1912 in der Aula der Akademie der Bildenden Künste in München präsentierten zehn wertvollen und großflächigen Gobelins, die 1730-37 in Paris angefertigt worden waren. Bildnerische Vorlagen boten grafische Reproduktionen von Raffaels Fresken in den Vatikanischen Stanzen, den "Chambres du Vatican". Die kürzlich im Rahmen der 1999 in Angriff genommenen Gesamtsanierung der Akademie abgeschlossene Restaurierung der Aula war Anlass der Publikation - ein glücklicher Umstand, den Brassat zu einem knappen, sehr informativen und lesenswerten Einblick in die Bedeutung dieser bisher von der Forschung und ebenso von einer breiteren Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommenen Raffael-Gobelins nutzt. Beide Rezipientenkreise (Forschung und Öffentlichkeit) werden offenbar mit dieser Publikation, die von hochwertigen, eigens neu angefertigten Abbildungen begleitet wird und einen kleinen Kataloganhang aufweist, anvisiert.

Bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert befinden sich die Gobelins im Besitz der 1808 gegründeten Akademie. Der bayerische König Max I. Joseph hatte sie der Akademie - auf ein wohlformuliertes Gesuch ihres ersten Direktors Johann Peter von Langners - im Jahre 1815 geschenkt. Im Wilhelminum in der Neuhauser Straße, dem ersten Domizil der Akademie, wurden sie in den Antikensälen aufgehängt, flankiert von Gipsplastiken nach klassischen Vorbildern, jedoch fehlte 1885 beim Umzug in das neue Akademiegebäude in Schwabing zunächst ein entsprechend repräsentativer Raum. Fast drei Jahrzehnte waren sie auf Dienstateliers und das Rektorat verteilt, bevor 1912 das an der Grenze zwischen der Maxvorstadt und Schwabing gelegene Gebäude an seiner dem Akademiegarten zugewandten Nordseite um eine Aula erweitert wurde. Diese Aula wurde exakt für die zehn Gobelins konzipiert, die Abmessungen wurden auf ihre Formate abgestimmt.

Doch diesen Bereich höchst bewegter Münchner Akademiegeschichte verlässt Brassat sehr schnell, um sich der historischen Bedeutung der Raffael-Gobelins zu widmen. Er verspricht dabei instruktive Einblicke nicht nur in "bedeutende Kapitel der europäischen Kunstgeschichte, sondern auch die politischen Geschicke des Vatikans, Frankreichs, der Kurpfälzer Residenzstadt Mannheim und schließlich Münchens" - ja, Brassat formuliert eingangs ein noch weit ambitionierteres Anliegen, denn die zu untersuchenden Raffael-Gobelins bezeugten "in besonderer Weise den langwierigen historischen Prozeß der Autonomisierung der Kunst" (19f.).

Dass diese so geschürte Lesererwartung vielleicht im letzten nicht vollends befriedigt wird, ist keinesfalls der mangelnden Kompetenz des Autors geschuldet, vielmehr dem knappen Umfang des Buches: Im folgenden werden mit einer ungeheuren Informationsdichte die Jahrhunderte durchschritten, verschiedene Protagonisten ins Zentrum gerückt, kunsttheoretische und -literarische, schließlich auch technische Details grafischer wie textiler Reproduktionskunst erörtert, mit denen sowohl die Wertschätzung Raffaels als Leitfigur der doctrine classique im Frankreich des 17. Jahrhunderts als auch die Anfertigung der Teppiche in der königlichen Manufacture des gobelins erläutert werden, für die Zeichnungen nach Raffaels Stanzen als Vorlage dienten (was die seltsame Farbigkeit erklärt). Angesichts der vielen hoch einzuschätzenden, wissenswerten Details kann man dem schmalen Band lediglich vorwerfen, eine zu einseitige Gewichtung vorgenommen zu haben, die sich wohl den Forschungsinteressen des Autors verdankt: Schwerpunkt bei der Untersuchung der Gobelins bildet deutlich das fortgeschrittene 17. Jahrhundert und damit die kunstpolitischen Bestrebungen Ludwigs XIV.

Die Münchner Gobelins gelten als vierte Edition einer Bildteppichfolge, deren editio princeps ab ca. 1682 bis 1688 entstanden ist. Brassat erläutert kurz die Entstehungsgeschichte der Vorbilder, also der Fresken im Vatikan, die zwischen 1508 und 1524 teils von Raffael selbst, teils von seinen Schülern ausgeführt wurden, um dann mögliche Gründe für die Auswahl jener zehn Motive für die unter Ludwig XIV. entstandene Serie zu nennen. Zu Recht betont Brassat, dass nicht allein formal-ästhetische, sondern auch inhaltliche und damit politisch motivierte Gründe für die Überführung von Motiven aus dem Fundus päpstlicher Repräsentationskunst in den Kontext des französischen höfischen Absolutismus ausschlaggebend waren. Um diesen Gedanken noch weiter zu spezifizieren, schließt sich ein langer Exkurs an, der sich allgemein der Tradition gewirkter Gemäldereproduktionen, der Bedeutung von Gobelins für die Ausstattung und innerhalb des Zeremoniells von Schlössern im 17. Jahrhundert, schließlich dem Wettstreit des Peintre du Roi Charles Le Brun mit Raffael, Rubens und Pietro da Cortona widmet. Ziel dieses Exkurses ist es, die Bedeutung der Gobelins nach Raffaels Vorlagen für die Bemühungen der französischen Krone um politische und kulturelle Vorherrschaft in Europa herauszustellen, denn schließlich seien es, so Charles Perrault schon 1668 in seinem Gedicht "La peinture", Le Bruns Tapisserien der "Histoire du Roy", die deutlich vor Augen führten, dass "nach der Antike und dem Rom der Renaissancepäpste nun in Frankreich ein dritter kultureller Höhepunkt erreicht sei, dessen Zeugnisse alle ältere Kunst in den Schatten stellten". Die 1722 bei der Krönung Ludwigs XV. die Reimser Kathedrale schmückenden Raffael-Gobelins greifen, so Brassat, diese Ideologie und mit ihr den Primatanspruch der französischen Krone wieder auf, wurden sie doch im Langhaus und nicht im Chor, der Le Bruns Tapisserien vorbehalten war, gezeigt (47) - wobei man hier freilich anmerken könnte, dass, wie es die Stiche zu den Reimser Krönungsfeierlichkeiten deutlich veranschaulichen, Raffaels Invenzioni für die im Langhaus Platzierten sehr viel besser zu sehen waren.

Im Jahre 1736, noch vor der Fertigstellung der in den Jahren 1730 bis 1737 entstandenen vierten Edition der "Chambres du Vatican", hatte Ludwig XV. angeordnet, die Gobelins dem Kurfürsten Karl-Philipp von Pfalz-Neuburg als Geschenk zu überreichen. Nach dem zuvor minuziös und kenntnisreich erläuterten Kontext, in dem die Entstehungsgeschichte der Münchner Gobelins zu verorten ist, begleitet Brassat sie nun auf ihrer Reise von Paris über den Kurfürstlichen Hof in Mannheim nach München, wohin sie (nach dem Ende der bayerischen Linie der Wittelsbacher) mit der Überführung des Kurfürsten von Pfalz-Sulzbach Karl Theodor (1777) spätestens um 1800 gelangten. Diesen für die Frage nach dem Verhältnis zwischen den pfälzischen bzw. bayerischen Wittelsbachern und Frankreich im 18. und frühen 19. Jahrhundert höchst brisanten und vielschichtigen Komplex handelt Brassat leider mit einem lapidaren Verweis etwa auf die Bedeutung Mannheims als "Kulturmetropole von europäischem Rang" unangemessen schnell ab. Der Hinweis auf den genauen Präsentationsort der Gobelins, nämlich die kaiserlichen Gemächer der Mannheimer Residenz - wo offenbar nun jahrelang riesige Gobelins mit dem Lilienwappen der Bourbonen (auf die Platon in der "Schule von Athen" weist) und den Initialen des französischen Königs den gelegentlich anwesenden kaiserlichen Besucher umgaben - vermag lediglich die Fantasie des Lesers zu beschäftigen.

Weit mehr Aufmerksamkeit widmet Brassat der gerade in München höchst produktiven Raffael-Rezeption des frühen 19. Jahrhunderts, denn in diesem geistigen Umfeld sind die Gründe dafür zu suchen, dass die mit der Überführung aus Mannheim nach München kaum mehr beachteten Gobelins ihrem Vergessen und vermutlich auch Untergang entrissen wurden. Hier wird auch das eingangs zitierte Gesuch des ersten Akademiedirektors von 1815 wiederum aufgegriffen, um die (bei Brassat sehr flink vollzogene) semantische Transformation der vormals politisch hochbrisanten Gobelins in Objekte eines "reinen Kunst-Interesses", konkret in Studienobjekte, anschaulich zu machen. Indessen hätte das, was Brassat als "ästhetischen Alterungsprozess" (62) bezeichnet, nämlich die Überführung der Gobelins in die 1912 von Friedrich von Thiersch eigens für ihre Präsentation errichtete und konzipierte Aula sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Die spezifische Hängung mit dem weithin sichtbaren, zentral platzierten "Parnass", mit den die eintretenden Besucher flankierenden Details aus der "Konstantinsschlacht" und den die Stirnseiten besetzenden Gobelins der "Schule von Athen" (anders als vor der Restaurierung nun im Westen) und der "Vertreibung des Heliodor" (Osten) lässt den heutigen Betrachter über retrospektiv ausgerichtete Ausstattungskonzepte rätseln, sofern (das verrät das so überaus informative Büchlein leider nicht) die heutige Hängung "original" ist.

Ungeachtet dieses kleinen, vielleicht an anderer Stelle nachholbaren Mankos darf man der Publikation dank Brassats ebenso lebendiger wie fundierter Entbalsamierung der Münchner Raffael-Gobelins einen gewichtigen Anteil an dem wünschen, was der amtierende Direktor Ben Willikens im Vorwort formuliert: "Die Aula ist bewußt als erster Raum restauriert worden, um der Akademie in den kommenden Jahren, in denen sie Baustelle sein wird, ein Zentrum zu stiften" (7) - eine anspruchsvolle Aufgabe für die mit den Raffael-Gobelins ausgestattete Aula der zurzeit in einem aufwändigen Umbau begriffenen und auf ihren dringlichen Anbau von Coop Himmelb(l)au wartenden Münchner Akademie.

Rezension über:

Wolfgang Brassat: Die Raffael-Gobelins in der Kunstakademie München (= Schriftenreihe der Akademie der Bildenden Künste München), Ostfildern: Hatje Cantz 2002, 106 S., zahlr. Farb- und s/w-Abb., ISBN 978-3-932934-10-0, EUR 14,80

Rezension von:
Eva-Bettina Krems
Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg
Empfohlene Zitierweise:
Eva-Bettina Krems: Rezension von: Wolfgang Brassat: Die Raffael-Gobelins in der Kunstakademie München, Ostfildern: Hatje Cantz 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 1 [15.01.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/01/3150.html


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