Die Entlassung des modernen Künstlers in die schöpferische Autonomie veränderte das soziale und ökonomische Gefüge künstlerischer Produktion: Das System höfischer Auftraggeberschaft wurde abgelöst durch Ausstellungen und Märkte. Angebot und Nachfrage entschieden nunmehr über den künstlerischen Erfolg - der Hofkünstler wurde zum Ausstellungskünstler, und ein neuer, unberechenbarer Akteur trat in Erscheinung: das Ausstellungspublikum. Dieses spannungsvolle Verhältnis zwischen Publikum und moderner Kunst im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts ist Gegenstand der Untersuchung von Beth Irwin Lewis, deren Schwerpunkt auf den Jahren zwischen 1885 und 1899 liegt.
Die Einschätzung des Publikums als einem neuen Faktor innerhalb der Kunstrezeption untersucht Irwin Lewis vornehmlich anhand zeitgenössischer Zeitschriften. Dies erweist sich als sehr ergiebig. Damalige Kritiker und Künstler erkannten durchaus die Bedeutung des Publikums als Determinante der Kunstproduktion, wie zahlreiche Artikel zeigen. Es bildete entsprechend einen zentralen Aspekt im zeitgenössischen Diskurs über die ökonomischen und sozialen Implikationen des Strukturwandels der Kunstöffentlichkeit.
Irwin Lewis' Untersuchung des Publikums füllt eine Lücke in der Moderneforschung. Die bisherige Vernachlässigung lässt sich damit erklären, dass das Publikum im Gegensatz zum Mäzen oder Auftraggeber keinen unmittelbaren Einfluss auf die Gestaltung von Kunstwerken zu haben und damit für die kunsthistorische Forschung nicht von Interesse zu sein schien. Es ist bezeichnend, dass etwa Henrike Junges Sammelband über "Avantgarde und Publikum" von 1992 zwar Sammler, Kritiker, Händler und Museumsleute behandelte, jedoch nicht jene soziale Gruppe, die in Massen die Ausstellungen besuchte und zum Thema zahlreicher kunstkritischer Schriften wurde, eben das Publikum. [1]
Dieses trat zeitgleich mit der Herausbildung des Ausstellungswesens in Erscheinung. Entsprechend bettet Irwin Lewis die Untersuchung dieser neuen Öffentlichkeit in eine diachrone Darstellung der Entwicklung der modernen Kunst, des Ausstellungswesens und der Kunstpublizistik im deutschen Kaiserreich ein; das erste, "The Triumph of Modern Art" betitelte Kapitel zeichnet diese Veränderungen nach. Deutschland, militärisch und wirtschaftlich eine Weltmacht, empfand sich auf künstlerischem Gebiet als eine, vor allem im Vergleich mit Frankreich, "verspätete" Nation. Die Schaffung einer nationalen modernen Kunst wurde zu einer kunstpolitischen Aufgabe, über die in allen Gesellschaftsschichten Konsens herrschte. "Modern" bedeutete, wie die damalige Ausgabe des Brockhaus ausführte, zunächst einmal "zeitgenössisch", "zeitgemäß". In diesem Sinne ließen sich Künstler wie Anton von Werner, Max Liebermann, Arnold Böcklin und Max Klinger gleichermaßen unter dem Begriff einer deutschen Moderne subsumieren.
Dem Ziel der Schaffung einer nationalen modernen Kunst dienten die neuen Großausstellungen in München und Berlin, aber auch in Stuttgart, Dresden, Leipzig und Düsseldorf, die bis zu 1,2 Millionen Besucher zählten. Mit diesen Ausstellungen entstand ein Massenpublikum, dessen ästhetische Erziehung sich die Kunstzeitschriften zur Aufgabe machten: Das Gelingen eines "Projekts der Moderne", so die Überzeugung, bedurfte eines der Kunst aufgeschlossenen, verständigen Publikums.
Irwin Lewis gelingt in diesem Kapitel eine komplexe Darstellung des allgemeinen Wandels der Produktion, Präsentation, Distribution und Rezeption der Kunst im Kaiserreich; überzeugend verknüpft sie dabei kunst-, sozial-, wirtschafts- und institutionsgeschichtliche Aspekte miteinander. Die politischen, technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Entstehung der Großausstellungen und des Massenpublikums (etwa die gestiegene Prosperität und Mobilität der Bevölkerung) werden ebenso aufgezeigt wie die finanzielle Bedeutung der Ausstellungen für die Städte, die in einem kommunalen Wettbewerb zueinander standen. Der Besuch von Ausstellungen wurde zum Teil eines neuen Kulturtourismus.
Irwin Lewis belegt dies nicht allein anhand von Wirtschaftszahlen, sondern auch durch zahlreiche aufschlussreiche Bildquellen. So druckte etwa die Zeitschrift "Kunst für Alle" Landkarten Deutschlands ab, auf denen alle wichtigen Ausstellungsorte verzeichnet waren und dem interessierten Kunsttouristen mögliche Reiserouten für Ausstellungsbesuche vorgaben.
Die Zeitschriften unterrichteten das Publikum nicht nur über die Kunst- und Ausstellungsszene, sie machten es auch zum Thema ihrer Artikel und Karikaturen. Diese analysierten die soziale Struktur des Publikums ebenso wie sein Verhalten auf Ausstellungen, seine Bedürfnisse und seine künstlerischen Interessen.
Die unmittelbare Bedeutung der neuen Kunstöffentlichkeit für die künstlerische Produktion wurde sehr bald ein zentraler Aspekt: Die Ausstellungen waren immer auch Verkaufsausstellungen, das Publikum bildete eine neue Käuferschicht für die Kunstproduktionen. Die Popularität beim Massenpublikum wurde für Künstler wichtig, weil sie die Nachfrage bestimmte, vor allem aber auch, weil die Ausstellungsausrichter immer nach den Wünschen und Interessen des Publikums schielten und populäre Künstler bevorzugt behandelten. Das Publikum konnte den künstlerischen Erfolg bestimmen, es wurde so zu einem ökonomischen, das künstlerische Handeln mitbestimmenden Faktor.
Diese existenzielle Bedeutung des Publikums für die Karriere eines Künstlers wurde sehr bald von der Kunstkritik reflektiert, wie das zweite, "The Public and the Critic" betitelte Kapitel von Irwin Lewis' Untersuchung darstellt. Es zeigt, wie klarsichtig die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Entstehung der Großausstellungen und des Massenpublikums analysiert wurden und erinnert oftmals an den aktuellen Diskurs über das "Betriebssystem Kunst".
Die Kritiker stellten mit zunehmendem Unbehagen die Ausrichtung künstlerischen Schaffens auf eine durch das Publikum bestimmte Nachfrage und den Zwang von Künstlern zur Selbstvermarktung in einem als schnelllebig wahrgenommenen Ausstellungswesen fest. Sie beobachteten zudem die sozialen Folgen der Ökonomisierung künstlerischer Produktion: einerseits die Entstehung einer kleinen Gruppe von Malerfürsten, anderseits die Herausbildung eines Künstlerproletariats, einem Heer finanziell erfolgloser Künstler. Die Empfindung der Volatilität von Künstlerkarrieren auf Grund eines oftmals unergründlichen und wechselhaften Publikumsgeschmacks verstärkte sich durch den transitorischen Charakter der Moderne, durch den ständigen Stilwandel und einen als immer unübersichtlicher empfundenen Stilpluralismus, der auch erfolgreiche Künstler zu ökonomischen Opfern eines künstlerischen Stilwandels werden ließ.
Das dritte Kapitel, "The Fragmenting of Art and its Public", stellt die Aufkündigung des gemeinsamen Projektes einer modernen Kunst für die Nation und die zunehmende Entfremdung zwischen der modernen Kunst und dem Publikum dar. Nach Irwin Lewis wurde das Ausstellungspublikum seit dem Beginn der 90er-Jahre zunehmend zum Ziel elitärer Ablehnung durch Kunstkritiker, welche die Verachtung des "Pöbels", etwa von Friedrich Nietzsche, auf das Kunstpublikum übertrugen. Zeitschriften wie "Die Kunst für Alle" erklärten zudem das Konzept einer nationalen modernen Kunst insgesamt für gescheitert. Den endgültigen Bruch zwischen Moderne und Publikum sieht Irwin Lewis in der Gründung der Sezessionen in München und Berlin. Da hier ein kleines, elitäres Publikum der Adressat war, hatte dies zugleich eine Abwendung von den Großausstellungen und deren Massenpublikum zur Folge.
In dieser Darstellung klingt deutlich die Enttäuschung der Autorin über den von ihr beschriebenen Bruch zwischen der Moderne und dem Publikum durch. Offensichtlich gibt Irwin Lewis den sezessionistischen Bewegungen die Schuld am Scheitern des Projekts einer modernen "Kunst für Alle". Es scheint mehr noch, dass die Autorin die elitäre Abwendung der Moderne vom Publikum als ein Sinnbild des Versagens demokratischer bürgerlicher Institutionen in Deutschland deutet, das zu den Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts führen sollte.
Diese Darstellung ist insofern problematisch, als sie im Grunde einem konservativen Deutungsmuster folgt, wonach die elitäre moderne Kunst für das Volk unverständlich sei. Irwin Lewis übertreibt zudem den Bruch zwischen der Moderne und dem Publikum: Zum einen setzten zahlreiche Museumsleiter, es seien nur Alfred Lichtwark und Hugo von Tschudi genannt, die Vermittlungsarbeit für die moderne Kunst fort. Zum anderen fragt man sich angesichts der Tatsache, dass das erste Kapitel die Jahre 1885 bis 1892 und das dritte Kapitel die Jahre 1893 bis 1899 umfasst, ob sich in der kurzen Zeit das Verhältnis tatsächlich derart zerrüttete, wie es Irwin Lewis darstellt, oder ob der Konflikt nicht bloß durch einen vagen Begriff der Moderne verdeckt wurde, der sehr allgemein "zeitgenössisch, zeitgemäß" bedeutete.
Trotz des problematischen dritten Kapitels (und trotz des nicht ganz gelungenen Buchumschlags) ist Beth Irwin Lewis' Untersuchung eine überzeugende Darstellung der Geschichte der modernen Kunst im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts, die beeindruckend materialreich und dabei sehr gut strukturiert ist. Es gelingt der Autorin, das Publikum als eine neue Form der Kunstöffentlichkeit einer kunsthistorischen Analyse zu unterziehen. Sie kann zeigen, wie es die künstlerische Produktion unmittelbar beeinflusste, also keine passive Masse war, die bloß auf Großausstellungen Kunstwerke konsumierte. Hervorzuheben ist dabei, dass Irwin Lewis' Untersuchung - anders als viele sozial-, wirtschafts- und institutionsgeschichtliche Untersuchungen - auch auf zahlreiche interessante Bildquellen zurückgreift und diese nicht nur illustrierend vorführt, sondern auch in Bezug auf ihre Fragestellung analysiert.
Anmerkung:
[1] Henrike Junge (Hg.): Avantgarde und Publikum. Zur Rezeption avantgardistischer Kunst in Deutschland 1905-1933, Köln 1992.
Beth Irwin Lewis: Art for All? The Collision of Modern Art and the Public in Late-Nineteenth-Century Germany, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2003, 432 S., 8 Farb-, 226 s/w-Abb., ISBN 978-0-691-10265-8, USD 29,95
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