Ludwig II. ist wie kein anderer bayerischer Herrscher lebendig geblieben - als schöner und verrückter 'Märchenkönig' auf geheimnisvolle Weise interessant, ja zur Kultfigur stilisiert. Dass ihn ein solch populäres Bild verfehlt, war zwar Historikern durchweg bewusst; aber man hat doch seine Regierung weit mehr als bei anderen Herrschern vom Charakter und vom Schicksal des Mannes aus betrachtet, weil diese so ungewöhnlich schienen: Ludwigs Handeln, der Grad seiner Macht und sein schließliches Scheitern wurden und werden primär persönlich, nicht politisch gedeutet. Meist gilt dabei die von Zeitgenossen behauptete Geisteskrankheit als ein zentraler Faktor. Mit dieser auf private Züge konzentrierten, zudem stark von Annahmen abhängigen Deutung folgte die Literatur lange der Vorstellung vom weltabgewandten König, der sich an Wagners Musik, seinen einsamen Schlössern, der nächtlichen Natur berauschte und in eine Scheinwelt absoluter Herrschaft träumte. Für sein Amt ohne hinreichende Fähigkeiten und ohne Interesse, habe er die Staatsgeschäfte weitgehend den Ministern und Beamten überlassen; man könne ihn deshalb als politischen Akteur vernachlässigen.
Diesem in letzter Zeit - vor allem durch Franz Merta und jüngst durch Hermann Rumschöttel - bereits fragwürdig gewordenen Klischee stellt Botzenhart mit einem ganz auf die politische Funktion gerichteten Blick ein anderes Bild entgegen, das "nicht von medizinischer, sondern von staatsrechtlicher Seite" (3) kommt. Der König erscheint - um dies vorwegzunehmen - aktenfleißig, mit einem deutlichen Begriff von seiner Rolle und weniger aus psychischen Gründen, aus Eskapismus, zunehmend der Öffentlichkeit abgekehrt als in politisch bewusster Resignation. Auch wenn man nicht so vollmundig wie der Klappentext von "völlig neuen Ergebnissen" sprechen mag, ist die Korrektur der Beschreibung und Bewertung des Mannes, der in umwälzender Zeit über zwanzig Jahre an der Spitze Bayerns stand, höchst bemerkenswert.
Auf einer breitest möglichen Quellenbasis aus Nachlässen, Gesandtschaftsberichten, Ministerialakten, die freilich empfindliche Überlieferungslücken aufweist, steckt Botzenhart, methodisch vorsichtig abwägend - etwa angesichts der zeitgenössischen Gerüchte oder der vom Historiker kaum zu beurteilenden geistigen Erkrankung -, in fünf Kapiteln das "politische Koordinatensystem" (17) ab, in dem der König stand und agierte.
Die Familie ist in einer Erbmonarchie die erste Stütze des Regenten. Ihrer versicherte sich Ludwig zu wenig. Denn aus hochgespanntem Herrschergefühl und in raschem Stimmungswechsel behandelte er Prinzen nicht selten schroff, beanspruchte sie aber zugleich, je mehr er die Öffentlichkeit floh, für Repräsentationsaufgaben. Außerdem stand er mit den konservativ Gesinnten, voran dem späteren Prinzregenten Luitpold und dessen Sohn Ludwig, durch sein Festhalten an liberalen Ministern auf gespanntem Fuß. Und er entzog sich, indem er ehelos blieb, der Sicherung der Dynastie.
Auch seine Verfassungsrechte schöpfte er, der mit 18 Jahren wenig vorbereitet auf den Thron kam, nicht aus: Gefangen im Traum von einer absoluten Monarchie, aus dem sogar utopische Staatsstreichpläne entstanden, nahm er seine konstitutionelle Rolle, die ja im monarchischen Prinzip gründete, zu wenig an. Anfangs hatte er durchaus aktiv mit den Ministern zu regieren versucht, doch dabei enttäuscht die seit 1848 - unter anderem durch die Ministerverantwortlichkeit - enger gewordenen Machtgrenzen erfahren. Daher zog er sich von dieser Herrschaftspraxis wie von der öffentlichen Herrschaftsdarstellung immer mehr zurück und mied seine Haupt- und Residenzstadt. Schwierig wurde für Ludwig zudem die Stellung in dem neuen Überstaat, dem 1871 errichteten Kaiserreich. Den Souveränitätsverlust an die Hohenzollern, die ihm Parvenüs schienen, verwand er nicht; er hat sie mehrmals brüskiert. Nur Bismarck, von dem Ludwig die Sonderrechte Bayerns zugestanden wusste und sich selbst geschickt behandelt sah, hielt das Verhältnis halbwegs passabel.
Geschwächt hat Ludwig seine Position auch durch die Art seiner Regierung. Ende 1866, als Preußen zur Vormacht geworden und von der Pfordtens Trias-Politik gescheitert war, hatte er, wenngleich zögernd, den kleindeutsch-national und liberal gesinnten Fürsten Hohenlohe zum Vorsitzenden im Ministerrat berufen. Diese Richtung, deren führende Figur Kultusminister Lutz wurde, behielt unter Ludwig - und weit darüber hinaus - die Macht, obwohl sie diesem im Grunde nicht lag. Aber den in Ministerkrisen 1872 und 1875 von vielen erwarteten Kurswechsel zu den konservativ-katholischen Kräften, die seit 1869 mit der Patriotenpartei die Landtagsmehrheit hielten, vollzog er doch nicht. Denn zum einen stand diese Partei an der Seite der vom Unfehlbarkeitsdogma gestärkten römischen Kirche, von der er Einbußen an Staatsautorität befürchtete. Und zum anderen hätte ein von ihr gestütztes Ministerium eine faktische Parlamentarisierung auf Kosten der Krone eingeleitet. Deren Geltung sah er noch weit mehr durch die aufkommende Sozialdemokratie gefährdet. So band die Sorge um die monarchische Gewalt den König an Männer aus Beamtenschaft und Diplomatie, die als Wächter der Staatsräson zu einer mächtigen Ministeroligarchie wurden und um dieser Stellung willen ihn zu lange in Selbstisolierung und Bauwut abgleiten ließen. Zwischen die Lager geraten, zog sich Ludwig seit den 1870er-Jahren vom politischen Geschehen zurück.
Umso wichtiger wurde das Kabinettssekretariat als Vermittlungsinstanz zu den Ministern, mit denen es die liberale, antiklerikale und reichsfreundliche Grundhaltung verband. Doch diese 'unverantwortliche' Institution neben der Verfassung war nicht mehr wie unter Max II. eine Art allmächtiges Oberministerium, sondern wurde von Ludwig, der den Sekretär mehrmals wechselte, sichtlich kürzer gehalten; das geschah gewiss aus Misstrauen, aber auch in politischer Absicht. Im Kabinettssekretariat, das einen enormen Aktenanfall meist zügig bearbeitete, wurde am deutlichsten, dass der König nicht nur in der Residenz, sondern auch fern von München seine Pflichten in der 'Staatsmaschinerie' bis zuletzt durchaus erfüllte, wenngleich im letzten Jahrzehnt zunehmend als bloße Routine.
Bis dahin zeigte er auch politischen Willen: Er sah die Lage meist recht klar, so wie nach dem Deutschen Krieg 1866 oder beim Kriegsausbruch 1870, hatte eigene Pläne und suchte diese durchzusetzen. Wenn er bei Entscheidungen zögerte oder sich ihnen und überhaupt den Auseinandersetzungen um das Gemeinwesen immer häufiger entzog, enthüllte das nicht so sehr die politische Apathie eines umnachteten Kunstschwärmers, gegen die schon der tägliche Bürofleiß spricht. Sein Verhalten war vielmehr gerade politisch begründet - als Überzeugung, unter den aufgrund der Abhängigkeiten von Preußen, vom Landtag, vom steigenden Parteieneinfluss herrschenden Umständen nicht mehr nach den eigenen Vorstellungen handeln zu können. Für die politischen und sozialen Bedingungen der Moderne hatte dieser König, so wie sein Weltbild und sein Selbstverständnis waren, keinen Sinn; folglich verstand er die Ansprüche von Bürgertum und Arbeitermilieu kaum. Deshalb geriet er so mit seiner Zeit in Widersprüche und isolierte sich, dass es der Tragik nicht entbehrte.
Insgesamt führt der Verfasser durch eine bei Ludwig II. ungewohnte Perspektive, die jedoch für einen Monarchen sicher die angemessenste ist, vom gängigen Bild des regierungsscheuen, ja regierungsunfähigen Königs zu einem durchaus politischen und im Amt gewissenhaften Mann. Mit seinem Versuch eines "epigonalen Absolutismus" (201) musste dieser freilich scheitern. Wie er unter den dargestellten Rahmenbedingungen im Einzelnen gehandelt hat, zeigt schließlich ein umfangreiches sechstes Kapitel. Das geschieht exemplarisch an der "Ausübung der herrscherlichen Prärogative" (160) in drei Bereichen, nämlich der Ernennung der katholischen Bischöfe, der Begnadigung zum Tode Verurteilter und dem Oberbefehl über die Armee, sowie am berühmten 'Kaiserbrief' an den preußischen König Wilhelm Ende 1870. Dabei wird auch dessen direkte Verknüpfung mit den Zahlungen aus dem 'Welfenfonds' für Ludwigs Bauschulden, die häufig behauptete Bestechung also, widerlegt; der König sah sich ohnedies zum Eintritt in das Reich gezwungen.
Botzenhart leistet durch subtile Rekonstruktion und überzeugende Interpretation den wichtigsten Beitrag zu einer Neubewertung Ludwigs II.: Dieser war mehr Regent und beeinflusste Bayerns Geschicke stärker, als man bisher wusste; das belegt auch ein Anhang mit 24 unveröffentlichten Quellen eindringlich. Zu kurz kommt allerdings die gesellschaftliche Dimension, die mehrfach Voraussetzungen des politischen Geschehens, auf das sich die Untersuchung konzentriert, deutlicher sehen ließe. Das Literaturverzeichnis, aber auch der pauschale Begriff "Volk" zeigen, wie sie im Blickfeld des Autors am Rande liegt. Bedauern muss man überdies, dass der vielfältige Inhalt neben dem Personenregister nicht durch ein Sachregister erschlossen wird. Doch im Wesentlichen bringt dieses Buch die Forschung zu einem hochrangigen Thema des bayerischen 19. Jahrhunderts um einen großen Schritt voran. Dass es zudem schlank, weil dicht und doch geschmeidig geschrieben ist und durch reiche Anmerkungen den Text entlastet, erfreut angesichts des heute wieder belebten Hanges zu fakten- und zitatenüberladenen Wälzern besonders.
Christof Botzenhart: "Ein Schattenkönig ohne Macht will ich nicht sein". Die Regierungstätigkeit König Ludwigs II. von Bayern (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte; Bd. 142), München: C.H.Beck 2004, XXXII + 234 S., ISBN 978-3-406-10737-5, EUR 22,00
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