Der vorliegende Bestandskatalog der Staatlichen Museen Kassel bearbeitet über 350 Gemälde, die zwischen 1740 bis 1810 vor allem von deutschen Malern geschaffen wurden. Bislang waren lediglich die Bestände von Johann Heinrich Tischbein d. Ä. und Johann August Nahl d. J. im Rahmen von Sonderausstellungen behandelt worden [1], während der Gesamtkatalog von 1958 [2] die Gemälde des 18. Jahrhunderts nur teilweise erfasst. Ein beschreibender Gesamtkatalog war folglich dringend notwendig, um die Werke wissenschaftlich zu erschließen und einem breiten Publikum näher zu bringen.
Der Gemäldebestand der Neuen Galerie der Staatlichen Museen Kassel stellt hier den größten Anteil, denn er umfasst die Malerei der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und schließt somit dort an, wo die Sammlung der Gemäldegalerie Alter Meister in Schloss Wilhelmshöhe in der Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Abschluss findet. Einige wenige der hier vorgestellten Werke befinden sich zudem im Hessischen Landesmuseum in Kassel und im Museum Schloss Friedrichstein in Bad Wildungen.
In einem vorangestellten Kapitel erörtert Stefanie Heraeus zunächst die Sammlungsgeschichte und stellt die Gemäldeinventare, die Sammlungskataloge und die historischen Standorte der Gemälde vor. Die Sammlung ist in besonderer Weise durch die höfische Auftrags- und Erwerbungspolitik Wilhelms VIII., seines Sohnes Friedrich II. und seines Enkels Wilhelm IX. geprägt und gibt Zeugnis von der glanzvollen Hofhaltung und dem Mäzenatentum der Landesherren. Historiengemälde und Porträts der Hofkünstler, beispielsweise Johann Heinrich Tischbeins d. Ä. und seines Schülers Wilhelm Böttner, die in landgräflichem Auftrag entstanden, bilden folglich einen Schwerpunkt. Hinzu kommen Gemälde von weiteren Lehrern und Schülern der 1777 in Kassel gegründeten Maler- und Bildhauerakademie, etwa die klassizistisch geprägten Landschaftsidyllen von Johann August Nahl d. J. Zahlreich sind zudem die Frankfurter "Goethe-Maler" (Justus Junker, Christian Georg Schütz d. Ä., Friedrich Wilhelm Hirt und Johann Georg Trautmann) vertreten, um die sich bereits Wilhelm VIII. besonders bemüht hatte (Ideallandschaften, Stadtansichten, Genrebilder im "niederländischen Geschmack").
Allein 125 Werke werden von der berühmten Künstlerfamilie Tischbein gestellt, die Maler über drei Generationen hervorbrachte. Einzelne Gemälde deutscher Künstler, die den zeitgenössischen Kontext repräsentieren, wie etwa Georges Desmarées, Anna Dorothea Therbusch und Anton Raphael Mengs, Johann Baptist Lampi, Anton Graff und Jakob Philipp Hackert kommen neben wenigen Werken ausländischer Künstler hinzu.
Von diesem Bestandskatalog kann folglich kein repräsentativer Überblick über die gesamte Kunst des Heiligen Römischen Reiches zwischen 1740 und 1810 erwartet werden. Eine lokale Prägung ist auch für andere Sammlungen des 18. Jahrhunderts typisch (zum Beispiel Berlin, München, Dresden) und mag dazu beigetragen haben, dass vielerorts noch kein wissenschaftlicher Katalog erschienen ist. [3]
Wie bei Bestandskatalogen gemeinhin üblich, sind die Werke im Katalogteil alphabetisch nach Künstlernamen geordnet. Heraeus stellt den Künstler zunächst in einer Kurzbiografie mit angehängten Literaturangaben vor, die zu vielen der hier behandelten Künstlern sehr überschaubar sind (zum Beispiel Wilhelm Böttner, Johann Andreas Herrlein, Johann Werner Kobold, Andreas Range), sodass der Kasseler Katalog schon an dieser Stelle Wichtiges leistet. Sofern mehrere Werke desselben Künstlers vorliegen, folgt die Ordnung der Gemälde der Rangfolge der Gattungen im 18. Jahrhundert und erst innerhalb dieser inhaltlichen Sortierung der Chronologie.
Dem erläuternden Text zu jedem Gemälde sind die üblichen Kurzangaben in den Kopfzeilen vorangestellt. Vor die Datierung wurde zusätzlich der Entstehungsort gesetzt, sofern er aus Inventaren oder der Literatur bekannt ist. Hier fehlt jedoch ein direkter Nachweis der Informationsquelle, sodass der Leser nicht erkennen kann, ob es sich um eine gesicherte Angabe oder um Spekulationen der Autorin beziehungsweise der älteren Literatur handelt. Bei der Provenienz gibt Heraeus zusätzlich den historischen Standort an, der über die Inventare nachgewiesen wird. Angaben zum Malgrund und gegebenenfalls zur Doublierung werden leider nicht durch kurze Zustandsbeschreibungen und Restaurierungsberichte ergänzt. Dies wäre in Anbetracht des schlechten Zustandes mancher Gemälde, den die Abbildungen verraten, jedoch wünschenswert gewesen. Der Mangel dieser Angaben wird zudem nicht begründet und nur an wenigen Stellen durch kurze Kommentare im Text aufgewogen (Kat. Nr. 69).
Die sehr gut lesbaren und teilweise dem Umfang eines Aufsatzes entsprechenden Texte fassen den Forschungsstand zu den einzelnen Gemälden zusammen und zeichnen sich durch extensive Recherchen der Autorin aus. So trägt Heraeus bei den Porträts beispielsweise nicht nur biografische Daten zusammen. Nahezu spielerisch identifiziert sie Uniformen und Orden (Kat. Nr. 96, 234). Sie beschreibt die Kleidung und Frisur der Dargestellten sehr detailliert und belegt die Beziehung zur französischen Mode der Zeit (Kat. Nr. 145) mit Zitaten aus zeitgenössischen Modejournalen (Kat. Nr. 15, 163). Dargestellte Möbel und Modeerscheinungen nutzt sie immer wieder überzeugend als Datierungshilfe (vergleiche Kat. Nr. 13, 22, 70, 168).
Unter Berücksichtigung von autobiografischen Schriften, Briefen und Inventaren geht sie den Entstehungsumständen einzelner Werke nach und diskutiert, ob ein Porträt nach der Natur oder nach einer bildlichen Vorlage geschaffen oder selbst kopiert wurde (Kat. Nr. 7, 11). Bei den Historiengemälden schildert sie beispielsweise unter Angabe der literarischen Quelle die dargestellte Geschichte, zieht sinnvolle Vergleiche, die gelegentlich auch abgebildet sind (insgesamt 39 Vergleichsabbildungen) und benennt Vorlagen und Inspirationsquellen, die sie wie im Fall Böttchers (Kat. Nr. 4) offensichtlich selbst durch die Sichtung der Nachlassinventare aufgespürt hat. Darüber hinaus liefert Heraeus informative kulturgeschichtliche Hintergründe, die so unterschiedliche Themen wie das Mätressenwesen (Kat. Nr. 15), die weibliche Trauerkleidung (Kat. Nr. 163), den Vesuvausbruch von 1774 (Kat. Nr. 47), das Motiv des Stillens (Kat. Nr. 168) oder den Brauch der Weihnachtsbescherung (Kat. Nr. 70) betreffen. Erfreulicherweise wird somit das übliche Maß an Informationen, das dem Leser eines Bestandskataloges an die Hand gegeben wird, weit überboten.
Den Katalogtexten kommt zudem zugute, dass auf langwierige Datierungs- und Zuschreibungsdiskussionen verzichtet wurde. Nur bei wenigen Werken ist die Zuschreibung nicht gesichert (Kat. Nr. 78, 100) oder war zu revidieren, wie im Fall des Selbstporträts der Ludovike Simanowiz, das 1893 als Werk Thomas Gainsboroughs erworben und von Helmut Börsch-Supan der Künstlerin zugesprochen wurde (Kat. Nr. 145). Problematisch ist es jedoch, dass sich die Literaturangaben nur unterhalb des beschreibenden Textes befinden; Fußnoten oder in Klammern gesetzte direkte Nachweise von Informationen im Text fehlen fast immer, sodass der Leser bei der weitergehenden Beschäftigung mit dem Bild gezwungen ist, alle Literaturhinweise mühsam zu durchforsten. Zudem können wir den Eigenanteil der Autorin an den umfangreichen Ausführungen nicht auf den ersten Blick erkennen.
Die Literaturhinweise werden bei den einzelnen Textbeiträgen alle abgekürzt und sind nur über die angehängte Literaturliste zu erschließen. Hier wäre eine Differenzierung zwischen abzukürzenden Angaben von Haus- und Ausstellungskatalogen und ausführlichen Angaben von Biografien und spezieller Literatur sinnvoll gewesen, um dem Leser das mühselige Hin- und Herblättern zumindest stellenweise zu ersparen.
Auf Grund der großen Anzahl von Werken wurde eine sinnvolle inhaltliche Gewichtung vorgenommen. Bis auf wenige Ausnahmen (zum Beispiel Kat. Nr. 20, Werke unbekannter Künstler im Anhang) sind fast alle Gemälde in ausgesprochen guter Qualität abgebildet, oftmals sogar ganzseitig und farbig. Manche Werke werden hier zum ersten Mal publiziert (zum Beispiel Kat. Nr. 37, 38, 41, 78, 151, 155). Bedauerlich ist jedoch, dass gerade die wissenschaftlich schwer zugänglichen Werke (Heraeus spricht hier unverblümt von "Depotbildern in meist geringerer Qualität [...], die sich einer genaueren Bearbeitung entziehen") größtenteils nicht zu sehen sind, bedürfen doch gerade sie einer weiteren Bearbeitung.
Trotz der angesprochenen Kritikpunkte hat Heraeus einen für Wissenschaftler und Laien gleichermaßen lesenswerten und optisch bestechenden Bestandskatalog der Werke zwischen 1740 und 1810 aus den Kasseler Museen geschaffen.
Anmerkungen:
[1] J. H. Tischbein d. Ä. 1722-1789, bearbeitet von Marianne Heinz und Erich Herzog, Kassel 1989; Die Künstlerfamilie Nahl. Rokoko und Klassizismus in Kassel, bearbeitet von Sabine Fett und Michaela Kalusok, Kassel 1994.
[2] Hans Vogel: Katalog der Staatlichen Gemäldegalerie zu Kassel, Kassel 1958.
[3] Eine löbliche Ausnahme ist hier der Katalog von Rainer Michaelis: Die deutschen Gemälde des 18. Jahrhunderts. Kritischer Bestandskatalog, Berlin 2002 .
Stefanie Heraeus (Bearb.): Spätbarock und Klassizismus. Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Museen Kassel (= Kataloge der Staatlichen Museen Kassel; Bd. 28), Wolfratshausen: Edition Minerva 2003, 408 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-932353-75-8, EUR 30,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.