Die amerikanischen Autoren nehmen mit dem englischen Titel 'Casebook' eine Übung der deutschsprachigen Romanistik auf. Der Österreicher Herbert Hausmaninger hat mit seinem 'Casebook zum römischen Sachenrecht' (1. Auflage 1974) für diese Art römisch-rechtlicher Lehrbuchliteratur den Präzedenzfall geschaffen. Es folgten Hausmaningers "Casebook zum römischen Vertragsrecht" (1978) und Bruce Friers "Casebook on the Roman Law of Delict" (1989). Mit dem "Casebook on Roman Family Law" liegt nun eine anregende Quellensammlung auch zum römischen Personenrecht vor.
Inhaltlich fügt sich das Buch ebenso in die damals begonnene Tradition ein, wobei schon 1974 guter alter Wein in neue Schläuche gefüllt wurde, denn die Textsorte - eine nach Themen sortierte und selektierte Quellensammlung - leitet sich aus der Tradition der römisch-rechtlichen Digestenexegese an den juristischen Fakultäten ab: Man stelle sich eine (im Laufe der Geschichte der juristischen Ausbildung immer überschaubarer gewordene) Gruppe von Studenten vor, um ihren Lehrer geschart. Alle nehmen eine Mommsen-Ausgabe des Corpus Iuris Civilis in den Arm - das Buch ist recht groß; die Seiten werden gewälzt, man wird fündig. Im liber primus etwa werden die Aussagen der Juristen aus dem Lateinischen übersetzt und erörtert, vor ihrem historischen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergrund analysiert und interpretiert. Der juristische Gehalt des fraglichen Textes wird mit anderen Quellen und schließlich meist noch mit dem geltenden Recht verglichen. Im Zeitalter der Extreme wird nun extrem schnell studiert. Das wird durch den schnellen Zugriff auf Quellen und Texte, mittlerweile schon über CD-ROMs, Suchmaschinen und Internet erleichtert. Aber auch die vorselektierten Quellensammlungen eines "Casebooks" erleichtern den vielseitig orientierten Studenten den mundgerechten Zugriff. Und sie ersparen Dozenten Vorbereitungszeit. Das vor allem ist ein Segen.
Das 'Casebook on Roman Family Law' enthält 235 "cases" und ist in vier Hauptkapitel aufgeteilt: Ehe, patria potestas, Nachfolge, sowie Vormundschaft und die rechtliche Stellung von Frauen und Kindern. Eine repräsentative Auswahl einschlägiger Rechtsquellen ist mit englischer Übersetzung abgedruckt. Dem Text folgen kurze Kommentierungen, Erklärungen, Verweise auf thematisch ähnliche Passagen bei anderen Juristen und Fragen zur Interpretation. Die Fragen sind - nach Art eines Brainstormings - zwar manchmal sehr locker assoziiert. Andererseits lassen sie dem Bearbeiter genügend Spielraum zur eigenen Durchdringung der Materie. Das juristische Denken soll sich offenbar frei entfalten dürfen.
Eine eindrückliche Einleitung in die Materie (3-10) liefert den Rahmen. Familienrecht wird als die rechtliche Seite häuslicher Beziehungen zwischen Personen, die in einem Haushalt leben, verstanden, dieser wiederum als soziale, politische und wirtschaftliche Einheit begriffen. Im römischen Familienrecht falle die Allgewalt des pater familias über seine Ehefrau (sofern in manus-Ehe), Abkömmlinge, seine Sklaven und das gesamte Vermögen ins Auge. Das Recht regle kaum das häusliche Zusammenleben, vielmehr gehe es um wirtschaftliche Fragen. Aus der Perspektive des Gemeinwesens könne das für die Familie gestiftete Recht als prinzipiell neutral und wenig Einfluss nehmend bezeichnet werden (5). Auch wenn sich das in der Kaiserzeit ändere, zu einem fundamentalen Wechsel komme es nicht. Die umgekehrte Frage, ob und welche Funktion nämlich die Familie und ihre Rechtsinstitute für das Gemeinwesen erfüllten, wird nicht gestellt. Für die Interpretation der Quellen wird angeregt, darauf zu achten, für wen die Gesetze bestimmt waren, nämlich zuvörderst für eine kleine Elite städtischer Aristokratie, die von der Landwirtschaft lebte und kaum unternehmerisches Interesse entwickelte. Deshalb gelten Familientradition und Erbrecht viel. Neuerer Forschung [1] gelinge es unter Heranziehung literarischer, epigrafischer und archäologischer Quellen, die streng autokratische Familienstruktur der römischen Rechtsquellen aufzuweichen und so die affinitiven Beziehungen deutlicher zu betonen. Solche Ansätze erlauben den Blick auf soziale Ketten, die das Recht nicht zum Thema haben, sie provozieren aber umso mehr die Frage nach den Spezifika des rechtlichen Diskurses. Welches Bild von der Familie hatten die Juristen, inwieweit ist es ein Gegenbild zur sozialen Wirklichkeit? Warum ist die Ehe so leicht zu scheiden? Wie sieht die Praxis aus? Wurde die patria potestas in ihrer vollen Machtfülle angewendet? Das sind spannende Fragen, die das Buch nicht zu beantworten beansprucht, die aber den Blick schärfen und wertvolles Werkzeug für die Arbeit mit den Rechtstexten sind. Fragen, die den juristischen Horizont um den rechtshistorischen erweitern.
In dem Kapitel "basic concepts" (11-24) werden sodann knapp, aber überzeugend die Grundkonzepte des römischen Personenrechts erläutert. Die Komplexe libertas, civitas und familia (als 'household' übersetzt) werden anhand von Quellen vorgestellt und Begriffe wie Sklaverei, agnatische Abstammung, pater familias, sui iuris beziehungsweise alieni iuris, schließlich die Mündigkeit in den rechtlichen und sozialen Kontext gesetzt. Vor fast jedem weiteren Kapitel und Unterabschnitt wird zudem ein kurzer Überblick über das Thema gegeben. Dabei geht es stets darum, in welchem historischen, in welchem gesellschaftlichen Kontext beispielsweise die Ehe verortet ist, welches ihre soziale Funktion und ihre Implikationen bis ins Eigentumsrecht hinein sind. Ganz bewusst werden etwa die heutigen Anforderungen an Eheschließung denjenigen der Römer gegenübergestellt, und so kristallisieren sich die Unterschiede einleuchtend heraus. Die meisten rechtlichen Regelungen gibt es in Rom für die Frage, wer wen heiraten darf (Statusfragen), während für die Frage des Entschlusses selbst und dessen Form vergleichsweise wenig geregelt ist.
Es ist schade, dass sich zwar überall Denkanstöße finden, aber kaum Hinweise zur Lösung eines Problems gegeben werden. Hier haben sich die Autoren schon in ihrem 'Casebook on the Roman Law of Delict' von Hausmanigers Vorlage entfernt, in der zu jeder Digestenpassage ein bis zwei Literaturhinweise beigegeben sind, welche eine zielgerichtete Vertiefung ermöglichen. Bei Bruce W. Frier und Thomas A. J. McGinn hingegen sprudelt die Quelle lebendig. Für alles Weitere wird auf den Unterricht mit dem Dozenten verwiesen und auf ein angehängtes, allgemein gehaltenes Literaturverzeichnis mit immerhin 80 gut gewählten Titeln. Einige europäische Arbeiten könnte man anfügen. [2] Bedauernswert kurz ist der Überblick über die römischen Juristen und ihre Zuordnung zu den Kaisern. Weiter enthält das Buch einen Quellenindex, einen Appendix mit dreizeiligen Biografien der wichtigsten römischen Juristen und ein Glossar mit den wichtigsten technischen Begriffen.
Das Buch ist ersichtlich dahingehend konzipiert, die Rechtsstudenten an den amerikanischen Universitäten während des Semesters zu begleiten: eine Fallsammlung, flankiert von allgemeiner Einführungsliteratur. Für die deutschen Jurastudenten vermittelt das Buch ebenfalls einen brauchbaren Überblick, doch à la Hausmaninger wäre für Letztere eine ausführlich formulierte Musterexegese noch wünschenswert gewesen, denn anhand dieser traditionellen Form präsentiert sich der iuris-prudente Inhalt am besten. Für alle diejenigen, die sich für das römische Familienrecht interessieren, ist das Buch - neben zusammenfassender Fachliteratur - als Quellensammlung zu empfehlen.
Anmerkungen:
[1] Suzanne Dixon: Infirmitas Sexus: Womanly Weakness in Roman Law, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 52 (1984), 343-371; dies.: Breaking the Law to Do the Right Thing: The Gradual Erosion of the Voconian Law in Ancient Rome, in: Adelaide Law Review 9 (1985), 519-534; dies.: The Roman Mother, London 1988; dies.: The Roman Family, Baltimore 1992; dies.: Childhood, Class and Kin in The Roman World, London 2001; Richard P. Saller: The Family and Society, in: John Bodel (Hg.): Epigraphic Evidence: Ancient History from Inscriptions, London 2001; ders.: Patriarchy, Property and Death in the Roman Family, Cambridge (et al.) 1994.
[2] Zum Beispiel: Jean Gaudemet: La conclusion des fiançailles à Rome à l'époque préclassique, in: RIDA 1 (1948), 79-94; ders.: Iustum Matrimonium, in: RIDA 2 (1949), 309-366; oder ders.: Le mariage en Occident, Paris 1987; Andrea Christiane Karl: Castitas temporum meorum. Die Partnerwahl der Frau im römischen Recht von der späten Republik bis zum Ausgang des 4. Jh. n. Chr., Frankfurt am Main (et al.) 2004; Max Kaser: Der Inhalt der patria potestas, in: ZSS 58 (1938) 62-87; ders.: Ehe und conventio in manum, in: IVRA 1 (1959), 64-101; Jochen Martin: Zur Stellung des Vaters in antiken Gesellschaften, in: Hans Süssmuth (Hg.): Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte, Göttingen 1984, 84-109; E. Sachers: Artikel "Potestas patria", in: RE XXII 1 (1953), 1046-1175; Yan Thomas: Rom: Väter als Bürger in einer Stadt der Väter (2. Jahrhundert v. Chr. bis 2. Jahrhundert n. Chr.), in: André Bruguière et al. (Hg.): Geschichte der Familie, Bd. 1: Altertum, Frankfurt am Main (et al.) 1996, 277-326.
Bruce W. Frier / Thomas A.J. McGinn: A Casebook on Roman Family Law (= American Philological Association; 5), Oxford: Oxford University Press 2004, XXI + 506 S., ISBN 978-0-19-516186-1, GBP 20,99
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