"Ohne Bedeutung gibt es keine Erfahrung [...]" [1]: Mit diesem Diktum stieß Joan Scott in den späten 1980er-Jahren im Feld der U.S.-amerikanischen Geschlechtergeschichte eine Kontroverse an, die in den 1990er-Jahren über den Atlantik schwappte und in der auch hier zu Lande Vertreterinnen und Vertreter eines diskursgeschichtlich orientierten Ansatzes mit Verteidigern einer Sozial- und Strukturgeschichte um die Deutungsmacht im Fach Geschichte stritten. Obwohl die erhitzten Debatten um die Konsequenzen des 'linguistic turn' im Bereich der Geschlechter- und Arbeitergeschichte am Beginn des 21. Jahrhunderts abgeflaut sind, sind die Schlüsselbegriffe Erfahrung, agency und Diskurs im Zentrum methodologischer Reflektion und empirischer Forschung geblieben. Kathleen Cannings Studie, die 1996 erstmals erschien und nun als paperback vorliegt, kann als Beitrag zu dieser Debatte gelesen werden, der unnötige Frontstellungen vermeidet und auf gelungene Weise den Erkenntnisgewinn verdeutlicht, den eine Verknüpfung von struktur- und diskursgeschichtlichen Perspektiven hervorbringen kann.
Cannings Studie ist theoretisch reflektiert und empirisch gesättigt: die Autorin bringt poststrukturalistische Überlegungen zur Bedeutung von Sprache ins Gespräch mit sozial- und strukturgeschichtlich generierten Deutungen von Entwicklungsverläufen und wendet sich aus dieser Perspektive ihrem zentralen Thema zu: der Bedeutung der Frauenarbeit für Deutschlands Transformation von einem agrarisch geprägten zu einem modernen Industrie- und Sozialstaat. Den inhaltlichen Fokus bildet der komplexe Übergang von der Heimarbeit zur Fabrikarbeit in der rheinisch-westfälischen Textilindustrie zwischen 1850 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges, den Canning anhand vier detailreicher Regionalstudien zur Herstellung von Baumwolle in Mönchengladbach, Wolle in Aachen, Leinen in Bielefeld und Seide / Samt in Krefeld / Kempen darstellt. Als Quellen zieht sie eine Reihe von Firmenarchiven, Berichte von Fabrikinspektoren, Studien zeitgenössischer Sozialreformerinnen und -reformer, parlamentarische Eingaben, Polizeiberichte, Versicherungsaufzeichnungen und Gewerkschaftsveröffentlichungen heran.
Obwohl die Textilindustrie weder typisch noch repräsentativ für die von der Schwerindustrie vorangetriebenen Industrialisierung in Deutschland war, stellte sie dennoch den ersten Industriezweig dar, in dem die Produktion mechanisiert und zentralisiert wurde. Sie wurde vor dem Ersten Weltkrieg zum größten Fabrikarbeitgeber von Frauen und auf diese Weise zum einzigartigen, aber symptomatischen Schauplatz von Geschlechterkonflikten, die die industrielle Entwicklung in Deutschland begleiteten. Der Aufbau einer weiblichen Stammarbeiterschaft an mehreren Produktionsorten rief männliche Reaktionen hervor, die von zähneknirschender Akzeptanz bis zu offener Feindschaft reichten. Wo Männer in besser dotierte Beschäftigungen in andere Industriezweige wechseln konnten, oder dort, wo fabrikinterne geschlechtliche Arbeitsteilungen ihnen Arbeitsbereiche mit höherem Status und besserer Bezahlung sicherten, kam es kaum zu Protesten. Hingegen entwickelte sich in Regionen mit starker handwerklicher Tradition und bei nur langsam voranschreitender Mechanisierung ein harter Verdrängungswettbewerb, in dem Männer alte Zunftgrenzen wieder belebten oder neu erfanden, um ihr Terrain zu behaupten. Die Rhetorik einer drohenden 'Verweiblichung' unterschlug die je nach lokalem Arbeitsmarkt unterschiedlichen Folgen der Verlagerung des Spinnens und Webens in die Fabriken sowie den bedeutenden Anteil, den Frauenarbeit in der familienökonomisch organisierten, protoindustriellen Textilproduktion gehabt hatte.
Der steigende Anteil weiblicher Beschäftigter in den Textilfabriken führte zu einer landesweit geführten, öffentlichen Diskussion unter Sozialreformern, Geistlichen, Fabrikinspektoren und Gewerkschaftern, für die diese Entwicklung emblematisch für die sozialen und politischen Entwurzelungen waren, die Urbanisierung und Industrialisierung in Deutschland begleiteten. Moralische Bedenken über angebliche sexuelle Ausschweifungen und Unzucht am Arbeitsplatz als Folge der unbeaufsichtigten Begegnung junger Männer und Frauen trugen in den 1870ern zum Erlass spezieller gesetzlicher Schutzbestimmungen für Frauen bei. Schreckensvisionen von Verwahrlosung und sozialem Zerfall, insbesondere von Arbeiterhaushalten aufgrund der Lohnarbeitsbeschäftigung von Müttern und Ehefrauen, machten die Fabrikarbeit von Frauen in den 1890ern zu einem wissenschaftlichen und sozialpolitischen Topos, der staatliches Eingreifen, so der weit verbreitete Konsens, notwendig mache. Eine erneute Wendung nahm die sozialreformerische Debatte mit dem verstärkten Weltmachtstreben des Deutschen Reiches, das mit eugenischen Argumentationen einherging, denen zufolge der durch Fabrikarbeit geschundene weibliche Körper die zur imperialen Expansion notwendige Reproduktion des deutschen 'Volkskörpers' nicht tragen könne und somit von staatlicher Seite besonders zu schützen sei. Canning betont, dass die als Resultat dieser Debatten verabschiedeten Arbeitsschutzgesetze grundlegende Weichenstellungen der Formierung des deutschen Wohlfahrtstaates waren. Die Vorstellungen der Geschlechterdifferenz, die in der entstehenden Sphäre des Sozialen in den 1870er-Jahren artikuliert wurden, wurden nun in der Zweiteilung zwischen Sozialversicherung und Arbeitsschutz, zwischen unabhängigen, männlichen 'Ernährern' und Familienvätern und abhängigen weiblichen 'Hinzuverdienern' und jugendlichen Arbeitern verankert und im Gesetz kodifiziert. Während erwachsenen männlichen Arbeitern die Vertretung eigener Interessen im Arbeitskampf und im Feld der politischen Partizipation zugestanden wurde, wurde die Schutzbedürftigkeit von Frauen, und damit deren verminderte Befähigung zur vollen Staatsbürgerschaft, fortgeschrieben. Die nuancierte Rekonstruktion dieser Verknüpfungen von Geschlecht, Recht, industriellem Wandel und sozialer wie nationaler Neukonstituierung, die die Grundlagen der Bildung deutscher Sozialstaatlichkeit in ein bislang wenig beachtetes Licht rücken, ist sicherlich als eines der einschlägigsten Ergebnisse der vorliegenden Studie zu sehen.
Ein weiteres Verdienst von Cannings Arbeit ist ihr Versuch, dem individuellen und kollektiven Selbstverständnis der Subjekte ihrer Untersuchung auf die Spur zu kommen. Sie nutzt die in der Geschlechterforschung grundlegende Infragestellung der gängigen Ordnungsschemata von privat / öffentlich beziehungsweise Hausarbeit / Lohnarbeit, um den Lebens- und Arbeitskontext der Textilarbeiterinnen aufzuhellen. Die Bedeutung, die bezahlte Arbeit für die Selbstverortung von Frauen hatte, ist in der herkömmlichen Arbeitsgeschichtsschreibung systematisch unsichtbar gemacht worden, indem diese ein Entwicklungs- und Verlaufsmodell der Klassenformation zu Grunde legte, das auf den klassischen Produktionsbereich und die männliche Arbeitsbiografie fokussiert war. Niedrige Löhne, geringer Status, disparate und angeblich temporäre Anstellungsverhältnisse weiblicher Beschäftigter galten aus dieser Sicht als Indikatoren eines Mangels an Berufsidentität, der Frauen durch das Raster der Klassenformations-Analysen fallen ließ. Für die in der Textilindustrie beschäftigten Frauen hingegen verweist Canning auf die zentrale Bedeutung, die Lohnarbeitsverhältnisse im Kontext weiblicher Selbstverortung hatten. Frauen überschritten die Grenzen von Haushalt und Arbeitswelt in ihrer täglichen Existenz und versuchten, die Anforderungen der Lohnarbeit mit den familiären Erfordernissen in Einklang zu bringen. Die penible Auswertung von Personalstatistiken mehrerer Betriebe deutet auf ein Muster hin, nach dem Frauen ihre Arbeitsstelle aufgrund familiärer Notwendigkeiten verließen, allerdings später, wenn die Verhältnisse es ermöglichten, wieder in dieselbe Fabrik zurückkehrten. Diese Form der 'Fluktuation in Beständigkeit' zeige, so Canning, eine starke Verbundenheit der Arbeiterinnen zur Fabrik und zum lokalen Kontext und resultierte in einer Beschäftigungsdauer und -beständigkeit, die, entgegen landläufiger Einschätzungen, der ihrer jeweiligen männlichen Kollegen kaum nachstand. Dem Bemühen, einen Arbeitsrhythmus umzusetzen, der einen Ausgleich zwischen Lohn- und Familienarbeit einschloss, kamen diverse Arbeitgeber insofern entgegen, als sie fabriknahe Wohnheime, Kindertagesstätten sowie Näh- und Kochkurse einrichteten, die auf die Konsolidierung einer weiblichen Stammarbeiterschaft in Zeiten wiederkehrenden Arbeitskräftemangels abzielten. Die Sozialkontrolle und Bevormundung, aber auch die Lohnabzüge, die mit diesen Einrichtungen einhergingen, führte hingegen oftmals zu Konflikten, die sich in Protesten und spontanen Arbeitsniederlegungen äußerten. Diese 'wilden' Formen der Interessenartikulation wurden von männlichen Gewerkschaftsführern zumeist kritisiert. Aber sie waren, ebenso wie der Stolz auf die eigene Arbeitsleistung, die Gemeinschaftserfahrung mit den Kolleginnen und die Formen des alltäglichen, verdeckten Widerstands gegen die Übergriffe der Fabrikarbeit auf den familiären Kontext Ausdruck eines weiblichen Berufsethos, dessen 'Eigensinn' sich im Spannungsfeld von Anpassung, Selbstbehauptung und Ansätzen kollektiver Rebellion manifestierte. Obwohl die hier vorgenommene Erkundung weiblicher Fabrikerfahrung und Arbeitskultur auf einer eingeschränkten Quellenbasis basiert - vorwiegend Texte männlicher Fabrikinspektoren, Staatsbeamter und Gewerkschafter - ist sie dennoch inspirierend und wegweisend, insofern sie Frauen vom Rand der Arbeitsgeschichtsschreibung ins Zentrum rückt und fundierte Überlegungen vorträgt, auf denen zukünftige Studien aufbauen können.
Cannings Buch, das wichtige Beiträge und Denkanstöße für die Geschlechtergeschichte, die Arbeitsgeschichtsschreibung, für die Geschichte der Genese des Sozialstaats in Deutschland und nicht zuletzt für methodologische Debatten liefert, ist eine (weiterhin) breite Rezeption zu wünschen.
Anmerkung:
[1] Joan W. Scott: Gender. Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Nancy Kaiser (Hg.): Selbstbewußt. Frauen in den USA, Leipzig 1994, 27-75, hier 45 (erstmals erschienen als: Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91 (1986), 1053-1075).
Kathleen Canning: Languages of Labor and Gender. Female Factory Work in Germany 1850-1914. Foreword by Konrad H. Jarausch (= Social History, Popular Culture, and Politics in Germany), Ann Arbor: University of Michigan Press 2002, 343 S., ISBN 978-0-472-08766-2, USD 24,95
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.