Kann eine Geschichte Europas mehr sein als eine Addition von Nationalgeschichten? Harold James stellt diese Frage nicht, und in der überfälligen Diskussion über das einfacher zu zitierende als zu begründende Diktum Hermann Heimpels, dass die Nationen das Europäische an Europa seien, bezieht er damit nicht Position. Dabei hält die Geschichte des 20. Jahrhunderts, gerade in europäischer Perspektive, durchaus Einsichten bereit, welche die Bedeutung der Nation als fundamentale historische Analysekategorie zu relativieren geeignet sind. Wäre dem nicht so, dann bedürfte es keiner Geschichte Europas, sondern lediglich einer Geschichte der - vielen - europäischen Staaten, Gesellschaften, Kulturen oder Volkswirtschaften.
Harold James' Europa ist zunächst ein geografischer Begriff. Es reicht für ihn von Irland bis zum Ural und schließt, was nicht weiter begründet wird, die Türkei mit ein. Auch seine gewiss bedenkenswerte These, wonach das Mittelmeer "ein Zentrum des europäischen Lebens und der politischen und sozialen Innovation" sei, bleibt undiskutiert. Die im 20. Jahrhundert wesentlichen Entwicklungen innerhalb dieses geografisch definierten Raums stellt James in chronologischer Ordnung dar; für die Zeit des Kalten Krieges wird dabei eine Parallelgeschichte Ost- und Westeuropas erzählt, in der allerdings der Westen mehr Platz und größeres Gewicht zugewiesen bekommt.
Das 20. Jahrhundert lässt James mit dem Ersten Weltkrieg beginnen, er folgt also der etablierten politikhistorischen Einteilung. Wenn er freilich in seinem ersten Kapitel Prozesse der Modernisierung und der Rationalisierung insbesondere in ihrer sozioökonomischen und soziokulturellen Erscheinung und Wirkung als "stahlhartes Gehäuse" (Max Weber) der Geschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet, dann verliert die Zäsurensetzung 1914 an Plausibilität. Muss man nicht, gerade wenn man sozial- und wirtschaftshistorisch argumentiert, den Ersten Weltkrieg in die Analyse der zentralen Entwicklungslinien des 20. Jahrhunderts integrieren, statt das 20. Jahrhundert aus Kennans "Urkatastrophe" erklären? Es sei nur am Rande bemerkt, dass umgekehrt viele Geschichten des 19. Jahrhunderts oder beispielsweise des Kaiserreichs 1914 enden und ihrerseits den Ersten Weltkrieg analytisch ausklammern. Der "Große Krieg" droht so zum historiografischen Niemandsland herabzusinken, zu einer Zwischenepoche zwischen 19. und 20. Jahrhundert. James' Darstellung endet mit dem Jahr 2001, und der Autor entwickelt gute Gründe dafür, sein Buch nicht mit dem Ende des Ost-West-Konflikts abzuschließen. Vor allem die für James schon seit den 1980er-Jahren erkennbaren Tendenzen der Entnationalisierung und der Auflösung von (National)Staatsgewalt geben dem letzten Jahrzehnt des kalendarischen 20. Jahrhunderts als transitorischer Phase ihr eigenes Gewicht.
James betont bereits einleitend, dass man für die Zeit seit 1941/45 nur von einer "europäischen Geschichte im globalen Kontext" sprechen könne, und er verwendet dabei auch den Begriff des "amerikanischen Jahrhunderts". Nun ist der Begriff des "American Century" deutlich älter, er stammt schon aus der Zeit um die Jahrhundertwende, und das verweist darauf, dass, nicht zuletzt in der zeitgenössischen Wahrnehmung, die Autonomie Europas beziehungsweise der europäischen Staaten, Gesellschaften und Kulturen bereits lange vor dem Zweiten Weltkrieg an ihr Ende gelangt war, zumindest aber zunehmend relativiert wurde. War nicht, wiederum schon in zeitgenössischer Wahrnehmung, die Amerikanisierung Europas - was auch immer das von Gesellschaft zu Gesellschaft bedeuten mochte - ein Teil der Krise Europas nach dem Ersten Weltkrieg?
Diese Krise beleuchtet das Buch in ihren je unterschiedlichen nationalen Ausformungen, aber die nationalzentrierte Analyse lässt doch keinen Zweifel daran, dass die einzelnen Krisenphänomene nicht nur in ihrer Addition, sondern mit Blick auf ihre Ursachen und ihre Wirkungen eine Krise Europas waren, wie Karl Dietrich Bracher es schon 1976 formuliert hat. Die Krise resultierte aus den ökonomischen Folgen des Kriegs, aus innenpolitischen Instabilitäten, nicht zuletzt der Labilität des Parlamentarismus, und aus der Opposition von Kommunismus und Faschismus gegen das "Liberale System", um nur einige Faktoren zu nennen. Diese strukturellen Gemeinsamkeiten darf man nicht verkennen; sie bilden den Rahmen für die national unterschiedlichen Krisenausprägungen und Versuche der Krisenbewältigung, wie sie James schildert. Die Krise Europas als eine übernationale Krise war strukturell bereits angelegt, ja virulent, als der Zusammenbruch der Weltwirtschaft nach 1929 ihre Dynamik verschärfte. Weltwirtschaftskrise, Krise der Demokratie und Krise des internationalen Systems verstärkten sich in ihren Wirkungen gegenseitig. Das macht James deutlich, ganz gleich ob er nun den Blick auf den Aufstieg des Nationalsozialismus oder auf die britische Politik der 1930er-Jahre richtet.
Der Krise Europas folgte seine Katastrophe im Zweiten Weltkrieg, nach 1945 dann, so James, sein Untergang durch Teilung und weltpolitischen Gewichtsverlust im Zeichen des Ost-West-Konflikts. In welchem Maße diese Katastrophe (gerade auch durch die Diskreditierung des nationalen Gedankens in Deutschland) und der politische Niedergang der großen europäischen Nationalstaaten die Voraussetzungen bildeten für den Wiederaufbau Europas auch in Gestalt der europäischen Integration, erörtert das Buch zu Beginn seines zweiten Teils. Merkwürdigerweise bleibt allerdings der Prozess der europäischen Integration als solcher eher unterbelichtet. Nur wenige Seiten werden ihm gewidmet, was in einer "Geschichte Europas" doch überrascht.
Jenseits des engeren Integrationsprozesses jedoch behandelt James die fundamentalen soziopolitischen, sozioökonomischen und soziokulturellen Entwicklungslinien, wie sie seit den späten 1940er-Jahren alle (west-)europäischen Gesellschaften erfassten. Dabei betont er die Rolle der USA als Vorbild, als dynamisierende Kraft und als dominierende Macht. Die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die James freilich nicht nur abstrakt postuliert, sondern in ihren nationalen Verläufen darstellt, wirkten gerade auf Grund des politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Gewichts der USA jedoch nicht nur europäisierend, sondern sie transzendierten (West-)Europa und machten es zu einem Teil eines europäisch-atlantischen Westens, der in den 1950er- und 1960er-Jahren Gestalt annahm. Der französische Gaullismus, dem James große Aufmerksamkeit widmet, ist vor diesem Hintergrund nicht nur als Reaktion auf den Gegensatz zwischen nationalem Gedanken und übernationaler Ordnung zu verstehen, sondern auch als Auswirkung der Spannung zwischen Europäisierung und atlantisch-amerikanisch orientierter "Westernisierung".
In seiner Bewertung der 1970er-Jahre als Jahrzehnt eines fundamentalen Wandels unterscheidet sich James in dieser allgemeinen Einschätzung nicht von anderen Gesamtdarstellungen zum 20. Jahrhundert oder auch für die Zeit nach 1945. Im Gegensatz zu Eric Hobsbawm beispielsweise wird man ein positives Urteil über den Keynesianismus beziehungsweise - allgemeiner - den Konsensliberalismus, der die Entwicklung der westeuropäisch-atlantischen Gesellschaften und Volkswirtschaften in den ersten Nachkriegsdekaden geprägt hatte, von James nicht erwarten. Dass indes die keynesianische Wachstumspolitik "nicht nur unangenehme Nebenwirkungen (Inflation) hatte, sondern auch ein durch und durch korruptes System verschleierte und überhaupt erst ermöglichte", erscheint als generelles Urteil jedoch überzogen, ja unangemessen.
Es verwundert, dass der Wirtschaftshistoriker James nicht die Jahre 1973/74 (Ölpreisschock, Ende von Bretton Woods, Grenzen des Wachstums et cetera) als Zäsur für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts betrachtet. Vielmehr sieht er die Jahre 1978/79, festgemacht an der Wahl eines polnischen Papstes, dem Sturz des Schahs durch islamisch-fundamentalistische Kräfte, dem Wahlsieg Margaret Thatchers in Großbritannien und der monetaristischen Wende der US-Zentralbank, als weltpolitisch bedeutsamer an.
Diese vier Ereignisse werfen freilich ein Licht auf die von James postulierte Wiedergeburt Europas, so auch der englische Originaltitel des Buches, am Ende des 20. Jahrhunderts und die Bedingungsfaktoren, die für James diese Wiedergeburt ermöglichten. Das Europa, das der Autor seit den späten 1970er-Jahren Gestalt annehmen sieht - und diese Sichtweise relativiert im Grunde sogar die Epochenscheide von 1989/90/91 - ist ein Europa, das "im Namen Europas", so Timothy Garton Ash, auf den sich James in diesen Zusammenhängen vielfach und eng bezieht, seine Teilung überwunden hat. Es ist ein Europa, das seine westliche, seine liberale und seine säkularisierte Identität in der Auseinandersetzung mit dem Islam beziehungsweise dem islamischen Fundamentalismus findet. Und es ist schließlich, politisch wie ökonomisch, ein Europa unter dem neoliberalen Paradigma. Gerade die beiden letzten Punkte unterstreichen freilich, dass man am Ende von einer Wiedergeburt Europas nur sehr bedingt und in eingeschränkter Perspektive sprechen kann. Zwar mögen die Überwindung der Teilung und die Erweiterung der Europäischen Union Europa als politischen, als wirtschaftlichen und - in Ansätzen - auch als sozialen und kulturellen Raum neu begründen. Doch weder Neoliberalismus noch Anti-Islamismus können heute eine genuin europäische Identität stiften und damit Europa definieren. So mag der Aufstieg Europas, den James als Narrativ der europäischen Geschichte seit 1945 unterlegt, paradoxerweise ein Aufstieg zu seinem Bedeutungsverlust im Zeitalter der Globalisierung gewesen sein.
Harold James: Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914-2001. Aus dem Englischen von Udo Rennert, Martin Richter und Thorsten Schmidt, München: C.H.Beck 2004, 576 S., 1 Abb., 3 Grafiken, 1 Tabelle, 4 Karten, ISBN 978-3-406-51618-4, EUR 29,90
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