Vorzustellen sind die ersten beiden Bände eines vierteilig konzipierten Projekts, das "Utopische Profile" aus fünf Jahrhunderten versammelt. Epochal gegliedert in "Renaissance und Reformation", "Aufklärung und Absolutismus", "Industrielle Revolution und technischer Staat" (2002) sowie "Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts" (2003) werden in Form einzelner Textanalysen utopische Entwürfe abgehandelt mit dem Ziel einer handbuchartigen Darstellung der "zentralen Positionen des utopischen Denkens" (Bd. 1, 13) seit dem Erscheinen von Thomas Morus' Utopia im Jahr 1516. Nach eigenem Dafürhalten des Autors "dürfte es in der deutsch- und englischsprachigen Welt keine Ideengeschichte utopischer Entwürfe geben, die diesen Anspruch konsequenter und umfassender verwirklicht hat, als es in diesem Buch geschieht" (ebd.).
Auch abgesehen von dieser irritierenden Erfolgsmeldung werfen sowohl die "Methodologischen Grundlagen" (denen die zitierte Passage entnommen ist; Bd. 1, 7-20; Bd. 2, 3-12) als auch ihre praktische Umsetzung einige Fragen auf, insbesondere nach den außerordentlich problematischen Kriterien, die der Verfasser seiner Textauswahl zu Grunde legt: "Die [auszuwählenden] Texte müssen dem Utopiebegriff entsprechen, wie Morus ihn [...] entwickelte. [...] Innerhalb des utopischen Konstrukts haben alle inhaltlichen Schwerpunkte des ursprünglichen Musters mehr oder weniger präsent zu sein" (Bd. 2, 8). Dem ist entgegenzuhalten, dass Morus' Utopia erst durch den Prozess ihrer Rezeption, durch ihre verschiedenen Instrumentalisierungen als Prätext, den Status des Gattungsprototyps einnehmen konnte. Mit anderen Worten: Die Gattungsmerkmale der Utopie sind keinesfalls identisch mit den inhaltlichen Charakteristika und den formalen Verfahren der Utopia. Die für eine Ideengeschichte zentrale Analyse der historischen Veränderung utopischen Entwerfens läuft so Gefahr auf einen schablonenartigen Abgleich von Abbild und Vorbild reduziert zu werden - nach dem Muster "weder ist Cyrano de Bergeracs entscheidende Quelle die Utopia des Thomas Morus noch die Konstruktion idealer Gegenwelten sein Ziel" (Bd. 1, 228).
Auch die zeit- und konstellationsbedingte Spezifik einzelner utopischer Entwürfe oder ganzer utopischer Myzele, in der sich die Funktion der Utopie als Ort und als Medium der Gesellschaftskritik manifestiert, lässt sich auf dieser Grundlage kaum erfassen. Statt abzufragen, ob alle inhaltlichen Aspekte der Utopia in einem späteren Entwurf enthalten sind, hätte ein durch die großen Traditionslinien und Schwerpunktsetzungen der Ideengeschichte nicht gänzlich determiniertes close reading zu klären, wo die spezifischen Schwerpunkte des jeweiligen Entwurfs liegen und diesen Befund auf den gesellschaftlichen Status Quo und die Textproduktion des zeitgenössischen intellektuellen Feldes zu beziehen.
Auf diese Weise ließe sich auch ein selten hinterfragter Stereotyp der Utopieforschung widerlegen, demzufolge der Themenkomplex "Herrschaft" prinzipiell und überzeitlich im Zentrum utopischen Entwerfens stehe. Während auch Saage "Modellanalysen [erstellt], die zeigen sollen, wie im utopischen Entwurf Herrschaft entweder potenziert oder minimiert wird" (Bd. 2, 7), sollte keine Lektüre von Utopien aus fünf Jahrhunderten übersehen können, dass die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen enorm variieren und dass sich gerade in diesen unterschiedlichen Problemhierarchien die vielbeschworene Korrelation zwischen Herkunftsgesellschaft und utopischem Entwurf am deutlichsten realisiert. Beispielsweise tritt in den französischen Reiseutopien der Zeit Ludwigs XIV. die Kritik des Christentums (sowohl unter theologischen als auch unter religionspolitischen Gesichtspunkten) und die Suche nach alternativen Religionskonzepten in Ausführlichkeit und Dringlichkeit der Argumentation eindeutig in den Vordergrund. Saages Analysen von Denis Veiras' Histoire des Sévarambes, Gabriel Foignys La terre australe connue, Fontenelles Histoire des Ajaoiens und Louis-Armand de Lahontans Voyages streifen diesen für die französische Konstellation so charakteristischen Sachverhalt allenfalls als Marginalie.
Mithilfe des zur zentralen analytischen Kategorie erhobenen Begriffspaares der "archistischen" beziehungsweise "anarchistischen Utopie" typologisiert Saage das utopische Korpus in zwei entsprechende Traditionsstränge. Die Instrumentalisierung dieser von Andreas Voigt übernommenen Idealtypen erfolgt, indem jeder Text daraufhin geprüft wird, ob er eher dem einen oder eher dem anderen der beiden Modelle entspricht, um schließlich festzustellen, dass die meisten Entwürfe zwischen den beiden Polen anzusiedeln seien. Aussagen wie "erst relativ spät tritt das anarchistische Paradigma gleichsam in Reinform in Erscheinung" (Bd. 1, 45) verstärken zusätzlich den Effekt der Dekontextualisierung und der Dehistorisierung der diskutierten utopischen Entwürfe.
Ebenso problematisch wie die Handhabung des Gattungsbegriffs erscheint die der Textauswahl zu Grunde liegende Begrifflichkeit des "Klassikers", der "Klassischen Utopie", der "Klassikerebene" und damit korrespondierend einer Sphäre "unterhalb der Klassikerebene". Den Status des Klassikers erlangt ein Text durch die komplexen Prozesse normativer Kanonbildung. Angesichts der per definitionem kategorischen Inklusion von Texten in einen beziehungsweise Exklusion von Texten aus einem kanonischen Korpus ist es schlichtweg unmöglich "Klassizität [...] flexibel zu handhaben", sodass sie "auch Raum für die Akzeptanz solcher Texte lässt, die bislang in ihrer Relevanz unterschätzt worden sind" (Bd. 1, 15).
In welcher Relevanz? In ihrer Eignung als dekontextualisiertes Präparat endlich, wenn auch verspätet, auf die Perlenschnur utopischen Denkens aufgefädelt zu werden? In ihrer Relevanz als Indikator zeitspezifischer Problemkonstellationen und denkbarer Lösungsvorschläge? Oder in ihrer Relevanz für ein spezifisches Publikum? Saage verpflichtet sich im jeweils letzten Kapitel eines Bandes ("Utopiediskurs unterhalb der Klassikerebene") der ersten der drei Varianten, indem er den einen oder anderen heute in Vergessenheit geratenen Entwurf zum Klassiker nobilitiert, andere, in oder auch nach ihrer Zeit eminent wirksame Texte auf ihre mangelnde Innovativität oder auch "Nicht-Klassizität" reduziert. Tyssot de Patots Voyages et avantures de Jacques Massé (1710), die wohl radikalste Kompilation religionskritischer Versatzstücke in Form einer voyage imaginaire, die durch jahrelange klandestine Zirkulation zu einem "heterodoxen Klassiker" aufstiegen, werden ausgemustert - denn: "die Strukturmerkmale [s]einer besseren Gegenwelt gehen über die Ansätze von Morus' Utopia und Vairasse' Geschichte der Severamben nicht hinaus" (Bd. 2, 242).
Einschlägige französische Publikationen, insbesondere von Leibacher-Ouvrard (Libertinage et utopies sous le règne de Louis XIV, 1989), Racault (L'utopie narrative en France et en Angleterre, 1675-1761,1991), Crouzet (Utopie. La quête de la société idéale en Occident, 2000), sowie die Arbeiten von Lestringant und Moureau werden nicht erwähnt. Eine argumentative Verortung des eigenen Ansatzes im dichten Feld der Utopieliteratur wäre wünschenswert gewesen. Neue Interpretationsansätze zu großenteils altbekannten Texten wird man hier nicht finden.
Richard Saage: Utopische Profile. Renaissance und Reformation (= Politica et Ars. Interdisziplinäre Studien zur politischen Ideen- und Kulturgeschichte; Bd. 1), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2001, 244 S., ISBN 978-3-8258-5428-7, EUR 30,90
Richard Saage: Utopische Profile. Aufklärung und Absolutismus (= Politica et Ars. Interdisziplinäre Studien zur politischen Ideen- und Kulturgeschichte; Bd. 2), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2002, 351 S., ISBN 978-3-8258-5429-4, EUR 30,90
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