Andrea Schütte verlässt in ihrer Dissertation die ausgetretenen Interpretationswege zur Historiografie und eröffnet in einem gewagten Marsch durch die zeitgleichen Methoden der Tierpräparation sowie der Präsentationsformen in Naturkunde- und Kunstmuseen neue Zugänge zur Kulturgeschichtsschreibung Jacob Burckhardts. Als Ausgangspunkt und Leitmotiv dient ihr dabei die von Anton Raphael Mengs für einen der Bibliothekssäle im Vatikan gemalte "Allegorie der Geschichte" (1772/73). In diesem Gemälde findet die Autorin im Verlauf ihrer Studie immer wieder neue Anknüpfungspunkte, die ihr zur schlaglichtartigen Erhellung der kulturgeschichtlichen Landschaft dienen, in der Burckhardt seine "Kultur der Renaissance in Italien", seine "Griechische Kulturgeschichte" oder seinen "Cicerone" verfasste. Zentrum des Bildes ist Clio, die Muse der Geschichte, die mit ihrem Schreibgriffel ("Stilus") auf einem "Pinax" (Schreibtafel, Werktisch oder Gemälde) ihre aus verschiedenen Diskursen zusammengefügte Sicht der historischen Zusammenhänge niederschreibt.
Bereits diese kurze Einführung dürfte zeigen, dass es sich bei Schüttes Untersuchung um eine komplexe, teilweise verwirrend heterogene, stets aber sehr kunstvoll komponierte Form der Metageschichtsschreibung handelt. Der Autorin gelingt dabei eine überraschende Verknüpfung der diskursiven Methode Burckhardts, der bereits eine lineare Geschichtsschreibung zum Beispiel im Sinne Hegels ablehnte und stattdessen "Querdurchschnitte" (147ff.) innerhalb der Epochen bevorzugte, mit den Logismen der postmodernen Diskurstheorie: "Clios Blick schweift von einem zum anderen, hat keine monodirektionale Bindung, sondern ist 'dialektisch' im wörtlichen Sinne: sie liest (λεγειν) quer hindurch (δια), nimmt alle Quellen und Positionen wahr und muss das alles zu einem Text, den sie auf ihren Pinax schreibt, verbinden." (104)
Ebenso eigenwillig, poetisch und doch leitmotivisch verknüpft baut Schütte ihre Gliederung auf. Die Einleitung ist mit dem Wort "Landkarte" überschrieben und bezeichnet mit diesem Begriff eine der Grundlagen burckhardtscher Geschichtsschreibung. Nicht der Zeitstrahl einer kausallogischen Entwicklungshistorie ist sein Leitbild, sondern eine räumliche Darstellung mit vorwärts, rückwärts und seitwärts verweisenden Vektoren: "Auf der Landkarte kann er seine Vielzahl an Orten mit all ihren möglichen Vernetzungen festhalten..." (10). Anhand der unterschiedlichen Bedeutungsebenen des von Clio verwendeten "Pinax" schließen sich dann Kapitel an, die mit "Schreibtafel I", "Holzbrett, Werktisch", "Schreibtafel II" und "Bild, Gemälde" betitelt sind.
Im ersten "Schreibtafel"-Kapitel (14ff.) nähert sich die Autorin über die Beschreibung historiografischer Modelle vor Burckhardt dem spezifischen Geschichtsschreibungsideal ihres Protagonisten. Die "Aufklärungshistorie" (16ff.) stellte ein "Ideal von historischer Wahrheit, von Faktentreue" (19) sowie die moralische Erbauung des Lesers in den Vordergrund. Die "Idealistische Geschichtsschreibung" (28ff.) im Sinne Hegels sah das weltgeschichtliche Geschehen sinngeleitet und gesteuert von einzelnen herausragenden historischen Gestalten auf eine Vollendung zustreben. Im Gegensatz zu diesen früheren Modellen arbeitet Schütte als Grundlage für Burckhardts Historiografie die "Narrative Geschichtsschreibung des Historismus" (38ff.) heraus. Hier wird das große Welttheater auf kleinere Einheiten heruntergebrochen und - laut Ranke - nicht nur die Abbildung angestrebt, sondern das künstlerische "Vermögen der Wiederhervorbringung" (44) geleistet. Dem entsprechen zum Beispiel Burckhardts literarisches Erzählen und seine Vorliebe für Anekdoten. Schütte bringt es auf die Formel: "Clio, Muse der Geschichte, ist Kalliope, Muse der Dichtkunst" (61) - ein historistisches Ideal, das sich auch die Autorin in modernisierter Form zueigen gemacht hat.
Das folgende mit "Holzbrett, Werktisch" überschriebene Kapitel untersucht anhand eines zunächst sehr viel bodenständiger wirkenden Zeitphänomens - der Tierpräparation - wie im 19. Jahrhundert Wirklichkeit konstruiert wird. Auch hier geht es letztlich also um "Textproduktion", um eine "poietische Basisoperation" (64). Die Entwicklung verläuft von einer am Präparieren eines individuellen Geschöpfs ausgerichteten "Erhaltungsmaßnahme" hin zu einer Art Nachschöpfung im Sinne der Kreation eines Typos (74). Und hier zeigt sich die kunstvolle Sinnknüpftechnik der Autorin, wenn der Leser dem in diesem scheinbar peripheren Zusammenhang aufgebrachten Begriff "Typos" fast 200 Seiten später (257ff.) als einem zentralen Motiv Jacob Burckhardts wieder begegnet.
Ähnlich verfährt Schütte mit der inhaltlichen Essenz der im Anschluss untersuchten "Habitat Dioramen" (77ff.), in denen die ausgestopften Tiere in künstlichen Landschaften und zu Lebensraumgemeinschaften vergesellschaftet präsentiert wurden. [1] Wie hier im Sinne Roland Barthes "notations" [2] - scheinbar belanglose Details - zum Zwecke der Wirklichkeitsproduktion hinzugenommen werden, verwendet auch Burckhardt zum Beispiel den Hinweis auf die turnerischen Fähigkeiten Leon Battista Albertis (141) zur Schaffung eines Gesamtbildes des Renaissancemenschen. So wird Burckhardts Technik der Kulturgeschichtsschreibung in einem Zeitbild verortet und scheinbar heterogene Phänomene parallelisiert.
Es folgt das Kapitel "Schreibtafel II" (95ff.), in dem die Autorin aufbauend auf dem vorher Untersuchten und anhand von konkreten Beispielen burckhardtscher Texte seine Leitbilder analysiert: "Verzicht auf alle Systematische", "Querdurchschnitte" und "Signaturen des Geistes". Die Ablehnung einschränkender Regelwerke sowie einer linearen Lesart von Geschichte wird hier ebenso erläutert wie die Instrumentalisierung des "Geistes" im Sinne einer Narratologie. Immer wieder weist die Autorin aber auch auf Brüche und Mischtechniken in Burckhardts Methode hin: "Wahrheitsargumente (der Griff nach der Wirklichkeit) stehen neben expliziten Kunstgriffen (die Nutzung und Produktion von Fiktionalem, von Repräsentation) und technischen Überlegungen des Arrangements (Struktur)." (108)
Mit der dritten Bedeutungsebene des Wortes "Pinax", nämlich "Bild, Gemälde", verbindet Schütte im folgenden Kapitel (175ff.) eine Untersuchung zu Formen der Geschichtsdarstellung in und mittels der Kunst. Zum einen sieht sie im Gemälde ein Ideal Burckhardts verwirklicht, nämlich die Möglichkeit einer vielschichtigen, perspektivischen Erzählung. Zum anderen untersucht sie die frühen Museen (Fridericianum/Kassel, Düsseldorfer Galerie, Belvedere/Wien, Hofgartengalerie/München, Glyptothek/München, Altes Museum/Berlin, Alte Pinakothek/München) auf ihre Form der Vertextlichung von Historie und entdeckt unter anderem in der "Paranoia einer musealen Überfülle und dem Zwang zur Vollständigkeit" (235) Parallelen zu Burckhardt Sammel- und Präsentationstechniken. Eine besondere Nähe besteht naturgemäß zu den kulturhistorischen Museen (Germanisches Nationalmuseum/Nürnberg) und insbesondere zu den "Epochenräumen" zum Beispiel des Kaiser-Friedrich-Museums in Berlin. Sie sind gewissermaßen die "Habitat Dioramen" der Überbleibsel menschlicher Kultur.
Im abschließenden Kapitel zum Stilbegriff ("stilus" = Schreibgriffel der leitmotivischen Clio) wird anhand der von den Urvätern der Kulturgeschichtsschreibung (Winckelmann, Goethe, von Rumohr, Hegel, Vischer, Semper, Weiße, Lotze, Riegl) gegebenen Definitionen eine Entwicklung dieses historischen Konstrukts hergeleitet. Am Ende dieser Genealogie steht wiederum Burckhardt, der seinerseits nur implizit auf den Stilbegriff eingegangen ist. Für ihn war Stil "da erreicht, wo man sich auf das Wesentliche konzentrierte" (349). Als "Verdichtung des Wesens" (350) fällt er mit dem Typosbegriff und somit letztlich mit den ausgestopften Vögeln der "Habitat Dioramen" zusammen.
Die Autorin befindet sich mit ihrer Studie in der Gesellschaft zahlreicher in den letzten Jahren erschienener Untersuchungen zur Historiographie und speziell zu Jacob Burckhardt [3], doch ihr Zugang ist zweifellos innovativ. Andrea Schüttes "Stilräume" sind auf Grund ihres postmodernen Sprachduktus sowie ihres gleichwertigen Nebeneinander von zentralem Untersuchungsgegenstand und peripheren Schauplätzen sicher keine einfache Lektüre, sie sind aber - ganz im Sinne Jacob Burckhardts - der gelungene Versuch einer Darstellung der "Dinge, [die] sich allerorts berühren" (7).
Anmerkungen
[1] Hier bezieht sich die Autorin vor allem auf die Studie von Karen Wonders: Habitat Dioramas. Illusions of Wilderness in Museums of Natural History. Uppsala 1993.
[2] Roland Barthes: L'effet de réel (1968), in: Ders.: Œuvres complètes, Band 2: 1966-1973. Paris 1994.
[3] Zum Beispiel Stephen Bann: The Clothing of Clio: A Study of the Representation of History in Nineteenth-Century Britain and France. Cambridge u.a. 1984; Thomas Gil: Kritik der Geschichtsphilosophie. L. von Rankes, J. Burckhardts und H. Freyers Problematisierung der klassischen Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1993; Marianne Sammer: Intuitive Kulturgeschichtsschreibung. Ein Versuch zum Verhältnis von Geschichtsdenken und kulturhistorischer Methode bei Jacob Burckhardt. München 1995; Martina Sitt: Kriterien der Kunstkritik. Jacob Burckhardts unveröffentlichte Ästhetik als Schlüssel seines Rangsystems. Wien u.a. 1992.
Andrea Schütte: Stilräume. Jacob Burckhardt und die ästhetische Anordnung im 19. Jahrhundert, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2004, 385 S., 18 Abb., ISBN 978-3-89528-438-0, EUR 29,80
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