Die Beschäftigung mit der urbanistischen Entwicklung römischer Städte zwischen späterer Kaiserzeit, Spätantike und frühem Mittelalter war lange ein eher vernachlässigtes Feld. Seit einiger Zeit gehört sie nun aber zu den Kernbereichen althistorischer und archäologischer Forschung. Grund hierfür ist sicherlich auch die vermehrte Vorlage stadtarchäologischer Befunde aus weiten Teilen des ehemaligen Römischen Reiches, die sowohl zu einer Neubewertung vieler Phänomene der Spätantike als auch zu teilweise heftigen Debatten über die Interpretation der archäologischen, epigrafischen und literarischen Quellen zum spätantiken Städtewesen führte.
In kaum einem anderen Gebiet des römischen Westens ist der allgemeine Forschungsstand zur Spätantike mittlerweile derart gut wie in den Städten Norditaliens. Das liegt vor allem an einer aktiven und für diese Fragestellungen sensibilisierten Stadtarchäologie, die zudem ihre Ergebnisse zumindest in Vorberichten zügig vorlegt hat. Leider fehlen aber häufig noch die so wichtigen Endpublikationen. Somit liegt für den norditalienischen Raum eine Fülle von oft schwer zugänglichen Einzelbefunden vor, die daher häufig isoliert bleiben und nicht die ihnen gebührende Würdigung erfahren. Das Hauptziel des vorliegenden Bandes, dem ein Kolloquium am Deutschen Archäologischen Institut in Rom mit dem Titel "Edilizia abitativa urbana e organizzazione della città nell'Italia settentrionale. Caratteri e trasformazioni tra età imperiale e tarda antichità (III-VI sec.)" zu Grunde liegt, war es demnach auch, die jüngsten Forschungsergebnisse zusammenzuführen und zu diskutieren.
Die Beiträge des Bandes, die den Vorgaben des Kolloquiums entsprechend vor allem den privaten Wohnraum in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellen, lassen sich grob in drei Gruppen einteilen. Zwei der Aufsätze befassen sich mit der städtischen Entwicklung innerhalb größerer regionaler Einheiten, während die Masse der Beiträge sich mit der spezifischen Situation einzelner Städte auseinandersetzt. Eine dritte Gruppe behandelt dann übergeordnete Phänomene wie die Chronologie oder die Bedeutung intramuraler Bestattungen.
Während die spätantike urbanistische Entwicklung im Piemont in Liliana Mercandos Beitrag - wohl aufgrund des schlechten Forschungsstandes - nur in wenigen Schlaglichtern deutlich wird, vermag J. Ortalli diese für das Gebiet der Cispadana, d. h. der heutigen Emilia Romagna, klarer vor Augen zu führen. Es wird dabei vor allem deutlich, dass der Osten der Emilia aufgrund der Verlagerung des kaiserlichen Hofes nach Ravenna im frühen 5. Jahrhundert eine Sonderstellung einnahm. So lässt sich hier in dem Zeitraum vom Beginn des 5. bis in die ersten Jahrzehnte des 6. Jahrhunderts noch eine rege Bautätigkeit beobachten, und es zeigt sich, dass vor allem die Mehrzahl der domus mit Nutzungsphasen aus diesem Zeitabschnitt eine reiche Ausstattung aufwies.
Die Beiträge von F. Rossi (Brescia), G. Ciurletti (Trento) und G. Cavalieri Manasse / B. Bruno (Verona) bestätigen und konkretisieren im Großen und Ganzen die von V. Bierbrauer bereits 1991 skizzierte Entwicklung [1] (dieser wichtige Aufsatz wird allerdings in keinem der Beiträge des Kolloquiums zitiert!), nach der ab dem 5. Jahrhundert in den meisten Städten Norditaliens eine schrittweise Deurbanisierung festzustellen ist. Diese äußerte sich in einer zunehmenden Pauperisierung und Ruralisierung der Stadtbilder, insbesondere in dem Verfall öffentlicher Gebäude, häufig verbunden mit dem Vorkommen dunkler organischer Schwemmschichten ("strati neri") und mit der Plünderung sowie Wiederverwertung antiker Bausubstanz. Darüber hinaus lässt sich eine sowohl qualitative wie quantitative Reduzierung der Wohnbebauung beobachten, d. h. eine zunehmende Verkleinerung der Raumeinheiten, 'primitiv' wirkende Holzeinbauten sowie der Zerfall des Stadtareals in Siedlungsinseln, getrennt durch landwirtschaftlich genutzte Frei- oder Gartenflächen. Besonders stark waren von diesen Veränderungen die extramuralen Bereiche betroffen; so scheinen in Verona bereits im Zuge der Restrukturierung der Stadtmauer unter Gallienus 265 n. Chr. große suburbane Flächen aufgelassen worden zu sein.
M. Verzár-Bass zeichnet, aufbauend auf den Arbeiten von P.-A. Février und C. Jäggi [2] und unter Einbeziehung neuerer Befunde, ein komplexes Bild der Stadtentwicklung in der wichtigen nordostitalienischen Metropole Aquileia. Sie postuliert vor allem und sicherlich zu Recht eine größere Ausdehnung der kaiserzeitlichen Stadt weit über die Grenzen der republikanischen Stadtmauer hinaus. Hinsichtlich der Datierungsproblematik der verschiedenen Phasen der spätantiken Stadtbefestigung kann aber auch sie keine neuen Erkenntnisse beibringen. Zu klären sind meines Erachtens nach wie vor die tatsächlichen Auswirkungen des Überfalls Attilas im Jahr 452 n. Chr., der in der Literatur meist als schwere Zäsur in der Geschichte Aquileias betrachtet wird. [3] Dagegen betont Verzár-Bass, dass sich nur wenige archäologische Befunde sicher mit den Zerstörungen und Plünderungen der Hunnen in Verbindung bringen lassen. Ob allerdings aufgrund einer Stelle bei Prokop mit einem endgültigen Kollaps des Wegenetzes im Jahre 552 n. Chr. zu rechnen ist, mag eher bezweifelt werden.
Der Beitrag von G. Spadea behandelt die Entwicklung der am Ligurischen Meer gelegenen Hafenstadt Albintimilium (Ventimiglia). Auch hier lassen sich bereits ab dem 4. Jahrhundert die oben beschriebenen Phänomene eines urbanistischen Transformationsprozesses ausmachen. Außerdem scheint "un evento traumatico" des späten 4. oder frühen 5. Jahrhunderts weite Bereiche des Stadtgebietes betroffen zu haben. Kontrastiert wird dies allerdings durch die Evidenz der Importwaren, vor allem der afrikanischen Sigillata, die eine Anbindung an das überregionale Handelsnetz bis in das 6. Jahrhundert hinein belegt. Ähnlich verlief die Entwicklung offenbar im nahe gelegenen Genua (P. Melli); hier lässt sich ferner ab dem 6. Jahrhundert eine Aufwertung des suburbanen Bereiches durch die Entstehung kleiner Siedlungseinheiten - meist bei christlichen Kirchen gelegen - feststellen.
Dem wichtigen Phänomen intramuraler Bestattungen und seinem Einsetzen widmet sich Ch. Lamberts Aufsatz "Spazi abitativi e sepolture nei contesti urbani". Erschwert wird ihr Vorhaben allerdings durch den schlechten Forschungsstand in diesem Bereich, d. h. vor allem durch die geringe Zahl an gut datierbaren Gräbern. Trotzdem zeichnet sich nunmehr ab, dass intramurale Bestattungen, die während des 4. und 5. Jahrhunderts noch eine eher vereinzelte Erscheinung darstellten, erst ab dem 6. Jahrhundert gehäuft auftraten.
Den Focus weg von den Städten und hin auf die kleineren zivilen Ansiedlungen Oberitaliens, die so genannten vici, lenkt G. Sena Chiesa. Bei diesen lässt sich ein Aufschwung im Verlauf des 4. Jahrhunderts sowie ein Strukturwandel hin zu Produktion und Verarbeitung feststellen. Ihre wichtige Rolle als "transit points" verloren die meisten vici erst gegen die Mitte oder gar das Ende des 5. Jahrhunderts. Verkehrgeografisch nun ungünstig gelegene Siedlungen verschwanden vielfach, andere wurden befestigt, und einige weisen sogar eine Kontinuität bis in das Mittelalter und in die heutige Zeit auf. Ausschlaggebend dafür war ihre günstige Lage an schiffbaren Flussläufen oder ihre landwirtschaftliche Bedeutung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es dem Band durchaus gelungen ist, vor allem im Bereich der Entwicklung städtischer Wohnbebauung bisherige Forschungsergebnisse zu bündeln und eine regional differenzierte Zwischenbilanz zu ziehen. Zusammen mit den vor kurzem erschienenen Synthesen von A. Haug und C. Witschel [4] bildet er somit ein gutes Fundament für weitere Forschungen. Leider schwankt allerdings die Qualität der einzelnen Aufsätze in Aufbau und Inhalt beträchtlich, und man hätte sich manchmal einen Blick über die Grenzen des regionalen Arbeitsbereiches hinaus gewünscht. Bedauerlich ist ferner, dass weitere archäologische Quellen wie die spätantike Keramik oder andere Importgüter und die mit ihnen verbundenen Fragestellungen kaum Eingang in die Argumentationen der verschiedenen Beiträge gefunden haben. Insgesamt ist der Band reich bebildert, aber vor allem aufgrund der fehlenden oder nur schlecht erklärten Pläne wirkt die große Zahl an Grabungsfotos eher verwirrend und trägt meist nicht zu einem besseren Verständnis der komplexen Befunde bei.
Anmerkungen:
[1] V. Bierbrauer: Die Kontinuität städtischen Lebens in Oberitalien aus archäologischer Sicht (5.-7./8. Jahrhundert), in: W. Eck / H. Galsterer (Hg.): Die Stadt in Oberitalien und in den nordwestlichen Provinzen des Römischen Reiches, Mainz 1991, 263-286.
[2] P.A. Février: Remarques sur le paysage d'une ville à la fin de l'antiquité: l'exemple d'Aquilée, in: Aquileia e l'Occidente, AAAd 19, Udine 1981, 163-212; C. Jäggi: Aspekte der städtebaulichen Entwicklung Aquileias in frühchristlicher Zeit, in: JbAC 33 (1990), 158-196.
[3] So zuletzt auch von A. Haug: Die Stadt als Lebensraum. Eine kulturhistorische Analyse zum spätantiken Stadtleben in Norditalien, Rahden 2003, 100 ff.
[4] Vgl. Haug (wie Anm. 2); C. Witschel: Rom und die Städte Italiens in Spätantike und Frühmittelalter, in: BJb 201 (2001) [2004], 113-162.
Jacopo Ortalli / Michael Heinzelmann (a cura di): Abitare in città. La Cisalpina tra impero e medioevo. Leben in der Stadt: Oberitalien zwischen römischer Kaiserzeit und Mittelalter (= Palilia; Bd. 12), Wiesbaden: Reichert Verlag 2003, 239 S., ISBN 978-3-89500-314-1, EUR 39,00
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