Von der nordalpinen Tafelmalerei des 13. und frühen 14. Jahrhunderts blieb nur eine verschwindend geringe Zahl an Werken erhalten. Stile und Techniken, Zusammenhänge und Funktionen einer einst reichen Produktion müssen daher aus wenigen Überbleibseln rekonstruiert werden. Das einzelne Stück kann deshalb eine ungewöhnlich große Bedeutung für die Forschung erhalten, und so sind in jüngerer Zeit einige umfangreiche Untersuchungen in anspruchsvoller Aufmachung als Buch veröffentlicht worden, die ein bestimmtes Tafelbild in den Mittelpunkt stellen bzw. zum Ausgangspunkt nehmen. Genannt seien zwei Bände, die sich zum Vergleich mit der vorliegenden englischen Publikation anbieten, jedoch aus den Beiträgen zu Kolloquien hervorgegangen sind: Das Aschaffenburger Tafelbild sowie: Das Soester Antependium und die frühe mittelalterliche Tafelmalerei. [1] Ausgangspunkt aller drei Publikationen waren aufwändige Restaurierungen der fraglichen Werke bzw., im Fall der Soester Tafel, eine umfassende technologische Untersuchung von restauratorischer Seite. Infolgedessen liefern sie eine Fülle kunsttechnischer Daten, die nicht allein für die restauratorische Betreuung notwendig, sondern auch eine unverzichtbare Basis für weitere Forschungen zu den Objekten sind.
Das Thornham Parva Retabel, benannt nach seinem heutigen Aufbewahrungsort in Suffolk, wurde gegen 1340 für eine Dominikanerkirche in East Anglia von einer möglicherweise in Norwich tätigen Werkstatt geschaffen. Die ursprünglich 1,1 x 3,9m messende, jedoch im 16. / 17 Jahrhundert vertikal in drei Teile zersägte Tafel wurde von 1994 bis 2003 im Hamilton Kerr Institute der University of Cambridge untersucht und restauriert. Entfernt wurden dabei zahlreiche Übermalungen des 18. und 20. Jahrhunderts, unter denen oftmals originale Farbsubstanz zu Tage trat; ein Teil der applizierten geschnitzten Arkatur über den gemalten Figuren wurde unauffällig ergänzt, und der moderne, in den 1980er-Jahren gefertigte Rahmen mit einer passenden neuen Fassung versehen. Über das Freilegen und Konservieren hinaus entschloss man sich indes noch zu einer weitergehenden Maßnahme, der Neuvergoldung des Grundes. Vom ursprünglichen Gold der reliefierten Ornamentfelder um die gemalten Figuren war unter einer modernen Vergoldung (82, Abb. 26; 86, Abb. 33) nichts mehr vorhanden, sodass die rötliche Füllmasse der Ornamente offen lag und den farblichen Gesamteindruck des Retabels wesentlich mitbestimmte. Wie die Abbildungen des Zustands vorher / nachher eindrücklich zeigen (24), hat die Neuvergoldung (mit anschließendem leichten Abreiben der Metallauflage, um diese dem Gesamtton anzugleichen) dem Werk eine ästhetische (und zugleich auch inhaltlich relevante, da auf die Imitation kostbarer Goldschmiedearbeiten abzielende) Qualität zurückgegeben, die seine Wahrnehmung und Würdigung entscheidend verbessert.
Die vorliegende Publikation widmet sich ausführlich den getroffenen Maßnahmen und den technischen Eigenheiten des Retabels: dem Aufbau der Malschichten, der Beschaffenheit der reliefierten Hintergründe und dem hölzernen Träger. In Fotoserien dokumentierte Experimente zur Herstellung der Ornamentreliefs und dem Aufbau der Malschicht, die über das konkrete Stück hinaus von Interesse sind, kommen ergänzend hinzu (124-136), ferner ein Vergleich der festgestellten Techniken mit dem Malereitraktat des Theophilus Presbyter (137-141). Hinsichtlich Materialien und Techniken werden außerdem einige weitere englische Malereien des späten 13. bis frühen 15. Jahrhunderts verglichen (145-158) - mit den wenigen Stücken ist bereits der erhaltene Bestand erfasst - sowie zwei norwegische Antependien (159-173), die mit der englischen Malerei der Zeit in enger Verbindung stehen. Sehr nützlich für die Beschäftigung mit spätromanischer und gotischer Malerei allgemein dürfte zudem der Beitrag von Jilleen Nadolny zu verschiedenen Techniken und Verwendungen reliefierter Hintergründe in der Malerei sein (174-188).
Insgesamt erscheint die Publikation ein wenig wie ein ausführlicher, mit Vergleichsmaterial aufwartender Restaurierungsbericht in Buchform. Genau darin aber liegen auch ihre Schwächen. Restauratoren oder speziell an Kunsttechnologie Interessierte mögen anders urteilen, aber für Historiker und Kunsthistoriker bleibt die weitgehende Beschränkung auf die materiellen Aspekte doch etwas unbefriedigend. Anders als in den eingangs genannten Veröffentlichungen zu den Tafeln in Aschaffenburg und Soest, die jeweils verschiedenste Ansätze umfassen, gibt es hier kaum eine Untersuchung künstlerischer - nicht allein technologischer - Zusammenhänge oder etwa der einstigen Funktion sowie des Werkkontexts. Zwar hat Paul Binski, von dem eine knappe Einleitung (10-14) stammt, bereits 1987 zusammen mit Christopher Norton und David Park eine eigene Studie zum Retabel verfasst. [2] Allerdings hat man diese nicht unbedingt gleich zur Hand, und immerhin sind seither gute 15 Jahre der Forschung vergangen. Stilistische Vergleiche mit englischen Werken, vielleicht abgestützt durch gute Abbildungen des schwer erreichbaren Materials, wären in einem so anspruchsvollen Buch gut untergebracht gewesen, ebenso wie man mit einem Blick über England hinaus - den Nadolny für die Reliefapplikationen auch vornimmt - manche interessanten Parallelen hätte feststellen können. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein ähnlich großes, extrem breites Format findet sich auch bei einer nur wenige Jahre jüngeren Altartafel aus der Soester Wiesenkirche (Berlin, Gemäldegalerie SM-PK, Kat. 1519).
Der bei technologischen Untersuchungen und Restaurierungen unerlässliche Blick auf das Detail scheint sich hier auf die Präsentation des Hauptgegenstandes, des Retabels selbst, auszuwirken: Außer auf dem Schutzumschlag gibt es keine einigermaßen große Abbildung des gesamten Stücks; die neun Bildfelder sind allerdings separat in vernünftiger Größe gezeigt (19-23). Als Kunsthistoriker würde man sich auch über einige größere Details, beispielsweise der Köpfe, freuen. So aber sind, trotz des stattlichen Buchformats, die Abbildungen von Einzelheiten wie von Vergleichsstücken ziemlich klein geraten, gerade als habe man sich an den Dimensionen der über 80 Aufnahmen von Querschnitten durch die Malschicht orientiert. Abbildungen wie die 5 cm hohe Reproduktion des mutmaßlich zugehörigen, mit vielfigurigen Szenen geschmückten Antependiums in Paris (17) sind für Vergleiche ebenso wenig geeignet wie die Miniaturen nach englischen gotischen Tafelbildern (146 f.). Vielleicht ist es bezeichnend, dass man in dem so um Genauigkeit bemühten Band ins Suchen kommt, wenn man lediglich wissen möchte, welche Gesamtmaße das Thornham Parva Retabel eigentlich besitzt; man findet zunächst einiges über den Abstand von Dübellöchern oder die Breite von Applikationen, bevor man, sollte ich nichts übersehen haben, auf Seite 94 endlich die oben referierten Maße erfährt.
Das Thornham Parva Retabel ist ohne Zweifel ein prachtvolles Zeugnis hochgotischer Malerei im nordalpinen Europa. Eine gelungene Restaurierung hat viel von seinem Glanz zurückgewonnen. Das Werk und die getroffenen Maßnahmen in einer gut gedruckten, mit zahlreichen Farbabbildungen ausgestatteten Monografie zu präsentieren, ist daher nur zu begrüßen. Es hätte den Band jedoch abgerundet und für den Kunsthistoriker deutlich interessanter gemacht, einige weiterführende Aspekte jenseits der Materialität mit einzubeziehen und letztlich auch die Kunst an der Kunst zu würdigen.
Anmerkungen:
[1] Erwin Emmerling / Cornelia Ringer (Hg.): Das Aschaffenburger Tafelbild. Studien zur Tafelmalerei des 13. Jahrhunderts, München 1997; Joachim Poeschke / Hermann Arnhold u.a. (Hg.): Das Soester Antependium und die frühe mittelalterliche Tafelmalerei (= Westfalen 80, 2002), Münster 2005.
[2] Paul Binski / Christopher Norton / David Park: Dominican Painting in East Anglia: The Thornham Parva Retable and the Musée de Cluny Frontal, Woodbridge 1987.
Ann Massing (ed.): The Thornham Parva Retable. Technique, conservation and context of an English medieval painting (= Painting and practice - HMPP; 1), Turnhout: Brepols 2003, 236 S., ISBN 978-1-872501-07-9, EUR 125,00
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