sehepunkte 5 (2005), Nr. 12

Raimond Selke: August Becker (1821-1887). Der Darmstädter Landschaftsmaler aus der Düsseldorfer Schule

Ein schön gemachtes Buch, unprätentiös, mit einem gedrängten, aber jederzeit übersichtlichen Layout: Es beinhaltet die im Mai 2004 am Institut für Kunstgeschichte der Universität Regensburg angenommene Dissertation zur Monografie und zum Werkkatalog des Landschaftsmalers August Becker, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als einer der renommiertesten Repräsentanten der Düsseldorfer Schule galt. Besonders in Kreisen der Hocharistokratie und des gehobenen Bürgertums kaufte man seine Gemälde, deren Sujets ebenso aus der Alpengegend stammen wie aus Norwegen, den schottischen Highlands und den (damals) 'exotischen' Karpatenregionen Rumäniens. Zu Recht hebt der Autor mehrfach hervor, dass es die konservative, in der Tradition der Spätromantik verankerte, jede impressionistische Modernität vermeidende Grundhaltung Beckers war, die seine Beliebtheit in europäischen Fürsten- und Königshäusern ausmachte. Nicht zuletzt Queen Victoria von England tat sich als Käuferin und Sammlerin Beckerscher Bilder hervor. Dass Beckers Oeuvre aus immerhin rund 350 Ölgemälden, etlichen Skizzenbüchern und zahlreichen Zeichnungen somit einen beachtlichen Stellenwert in der Sozialgeschichte des Geschmacks beanspruchen darf, bestätigt der von Selke erstellte umfangreiche Werkkatalog auf Schritt und Tritt.

Eine systematische Erforschung von Beckers Lebenswerk fehlte bisher. Diesem Desiderat ist, um es vorwegzunehmen, mit vorliegendem Buch nachhaltig abgeholfen. Gleichzeitig ist eine gravierende Einschränkung angebracht: So sehr Selkes Arbeit als Werkkatalog befriedigt, ja mehr als nur befriedigt, so sehr enttäuscht sie den Leser, der auf umfassendere kunsthistorische Zusammenhänge aus ist. Gewiss, ein paar Mal ist davon die Rede, dass Beckers beste Werke eine effektvolle Dramaturgie verraten, die die Tradition der im 18. Jahrhundert begründeten Ästhetik des Erhabenen fortsetzt. Doch auf eine problemorientierte Begründung verzichtet die Dissertation in dieser Hinsicht. Gerade weil sich der Autor voll und ganz bewusst ist, dass Becker mit dem Gros seiner Bilder im Mittelmaß stecken blieb (siehe etwa 37), würde man als Leser gerne den 'Nutzen' erfahren, der der Beschäftigung mit solchem 'Provinzialismus' entspringt. Dort, wo Selke größere komparative Zusammenhänge anklingen lässt, scheinen mir die Vergleiche oft missglückt: zum Beispiel bei Nr. 120 'Bewaldetes Ufer in Norwegen', einer ziemlich konventionellen, naturalistischen Szenerie, die zweier kleiner Rückenfiguren wegen in einem Atemzug mit der sublimen Wirkung von Caspar David Friedrichs 'Mönch am Meer' genannt wird - immerhin eine der revolutionärsten Kompositionen des gesamten 19. Jahrhunderts; ja Selke bemüht gar den berühmten Satz Heinrich von Kleists, der mit der Metapher "... als ob einem die Augenlider weg geschnitten wären" die bedrohliche Unendlichkeit von Friedrichs Meeresszenerie umschreibt (95). Die Aussage auf Beckers Gemälde anzuwenden, heißt mit Kanonen auf Spatzen zu schießen!

Selke sieht ganz richtig, dass in den besten, also in etwa einem Dutzend der bis dato bekannt gewordenen Gemälde Beckers das Idiom der Spätromantik effizient ist. In diesen wenigen Fällen stellen sich erstaunliche Parallelen ein zum Werk des großen Carl Rottmann, mit dessen Bildproduktion sich Becker bewundernd in München auseinander setzte (man nehme etwa Beckers 'Rheinlandschaft bei Dossenheim' - Katalog Nr. 185); und es gibt gewisse Parallelen zur Erhabenheits-Attitüde Albert Bierstadts, eines der Begründer der Hudson River School in Amerika, den Becker in Düsseldorf kennen gelernt hatte.

Die Erhabenheit der Landschaft - die fand ihr adäquates malerisches Element in der panoramaartig, aus hohem Blickwinkel aufgenommenen Überschau, die die Einzelphänomene zur mehr oder weniger grandiosen Theatralik summierte; die in dramatischen Helldunkel-Kontrasten und mit mächtigen Wolkenwänden eine von Elementarkräften durchdrungene, sich ins Unbestimmte und Grenzenlose erstreckende 'Urlandschaft' vorführt. Weniger bei Rottmann, wohl aber bei Bierstadt und vor allem bei Becker trifft auf den Panoramaeffekt ein kontroverser, weil extrem nahsichtiger Zug: In überrealer Genauigkeit sind unterschiedlichste botanische, geologische und meteorologische Phänomene veranschaulicht. In vielen schulbildenden spätromantischen Richtungen der europäischen und amerikanischen Landschaftsmalerei begegnet man jener topografischen und geologischen Präzision und Nahsicht im Verein mit dem aus der Semantik des Erhabenen entspringenden 'Raumdurst'. Die entsprechende Kombinatorik aus Panorama und morphologischer 'Nahaufnahme' hat übrigens auch die frühe Fotografie übernommen, gelegentlich sogar inauguriert. Über solche Affinitäten erfährt der Leser des vorliegenden Buches so gut wie Nichts.

Die Rezension mit dem soeben geäußerten Statement abzuschließen, wäre allerdings höchst ungerecht. Hauptanliegen von Selkes Arbeit war zweifellos der derzeit bestmögliche Überblick über Leben und Werk des Malers Becker. Dass sich angesichts der Fülle an Materialien, die der Autor hierzu aufzuspüren und zusammenzutragen wusste, die wissenschaftliche Leistung auf die weitgehend immanenten Kriterien eines Oeuvreverzeichnisses verengte, ist mehr als verständlich.

Es ist bewundernswert, mit welcher Akribie und Sachkenntnis Selke Fakt um Fakt abhandelt und dabei kein noch so kleines Detail vernachlässigt. Hierfür nur ein einziges (wahllos herausgegriffenes) Beispiel, die 'Ansicht von Schloss Waldleiningen' (in Hampton Court Palace) aus dem Jahre 1863: Der Katalogeintrag Nr. 211 verfolgt die Geschichte Waldleiningens bis ins 18. Jahrhundert zurück, stellt die sich abwechselnden Schlossbauten samt ihren jeweiligen Bauherren und Architekten vor, ehe sich die Deskription der umgebenden Landschaft und damit einem weiteren Spezifikum des Gemäldes zuwendet. Und selbstverständlich diskutiert Becker ausgiebig die Genese und die weiteren Schicksale des Bildes. Eine vergleichbare, eine richtiggehend enzyklopädische Vorgehensweise bestimmt sämtliche Beiträge dieses Buches. Dass auch Quellenanhang, Bibliografie, der gesamte wissenschaftliche Apparat keine Wünsche offen lassen, versteht sich in solchem Kontext und bei einem derart kundigen Autor fast von selbst.

Welches Fazit darf man, soll man ziehen? Nur derjenige, der sich in der Zeit und im Genre der Landschaftsmalerei bereits zu bewegen weiß, wird Selkes Ausführungen mit Gewinn in eine übergreifende Gattungsgeschichte einbauen können. Wer aber etwas über August Becker, über dessen Produktion, über die Preise der Bilder, über die Art und Weise wie ein geschäftstüchtiger und erfolgreicher Gesellschaftsmaler des späteren 19. Jahrhunderts seine Kunst einem lückenlosen Verwertungsprozess unterwarf, wer über solche Dinge Näheres erfahren will - der wird zu Selkes Buch greifen und dieses als Fundgrube schätzen. Noch lange wird 'der Selke' als Bestandskatalog ein Standardwerk bleiben, unverzichtbar nicht zuletzt für den Kunst- und Antiquitätenhandel, für Museen und für Sammler!

Rezension über:

Raimond Selke: August Becker (1821-1887). Der Darmstädter Landschaftsmaler aus der Düsseldorfer Schule. Biographie und Werkkatalog, Koblenz: Görres-Druckerei 2005, 320 S., ISBN 978-3-935690-39-3, EUR 48,00

Rezension von:
Norbert Wolf
München
Empfohlene Zitierweise:
Norbert Wolf: Rezension von: Raimond Selke: August Becker (1821-1887). Der Darmstädter Landschaftsmaler aus der Düsseldorfer Schule. Biographie und Werkkatalog, Koblenz: Görres-Druckerei 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 12 [15.12.2005], URL: https://www.sehepunkte.de/2005/12/8366.html


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