Seit einigen Jahren erleben wir eine Hochkonjunktur historischer Fotobücher. Wie früher illuminierte mittelalterliche Handschriften faksimilewürdig waren, sind es heute seltene Fotobildbände der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Karl Blossfeldts "Urformen der Kunst" von 1928 (Wilde, Köln), Moi Vers "Paris" von 1930 (Steidl Verlag, Göttingen) und das hier anzuzeigende Mappenwerk "Métal" von Germaine Krull sind die Highlights dieser neuen editorischen Praxis.
"Métal" ist 1928 als meisterhaft gestaltetes Mappenwerk mit 64 losen, im Lichtdruck reproduzierten Bildtafeln in der Librairie des Arts Décoratifs des Pariser Verlegers A. Calavas erschienen. Sie zeigen emphatisch fotografierte Ansichten von Eisenbahnhebebrücken, Drehkränen, Schwungrädern, Schiffsaufbauten, Generatoren und den inneren Strukturen des Eiffelturms. Das Buch war von der französischen Presse als fotografische Verkörperung des "esprit moderne" enthusiastisch begrüßt worden. "Wir sehen nichts als eiserne T-Träger, Pylonen und Brücken aus Metall, Zahnräder, Pleuelstangen und Exzenter. Seit langem sind wir versucht zu sagen, dass nur dort, dort allein die große, reine Schönheit der modernen Welt zu finden ist. Welch eine verwirrende Poesie der elektrischen Stromabnehmer, welch zauberhafte Kugellager!", schrieb der renommierte Fotokritiker Jean Gallotti. Seit 1920 hatten Le Corbusier und Amédée Ozenfant in der Zeitschrift "L'Esprit Nouveau" die technische Rationalität zur Ästhetik des neuen Jahrhunderts erhoben. Während nicht wenige Ästheten den Eiffelturm um die Jahrhundertwende noch abreißen lassen wollten, erschien er Le Corbusier Mitte der Zwanzigerjahre "rein wie ein Kristall". Technische Rationalität wurde zu einem Konzept, das an die Stelle politischer und religiöser Welt- und Lebensentwürfe treten konnte. Es genügt, das Vorwort von Florent Fels zu "Métal" zu lesen, um gewahr zu werden, in welchem Maße die Technikverehrung in den Zwanzigerjahren quasi-religiöse Züge annehmen konnte. Leider ist dieser Text in dem ansonsten fabelhaften Reprint schlecht ins Deutsche übersetzt worden.
Obwohl Krulls "Métal" als Gründungswerk der fotografischen Moderne in Frankreich in die Geschichtsbücher eingegangen ist, sind die darin versammelten Bilder nicht das Ergebnis einer genuin französischen ästhetischen Entwicklung. Die Technikbegeisterung einer Fraktion der künstlerischen Intelligenz bot 1928 in Paris lediglich einen idealen Background, um eine Gruppe von Fotografien aus den zurückliegenden vier Arbeitsjahren der Krull zu einem wirkungsmächtigen Bildwerk zur Ästhetik moderner Metallkonstruktionen zusammenzustellen. Stilistisch gesehen atmeten diese Aufnahmen nicht den Geist der französischen, sondern den der deutschen, russischen und niederländischen Avantgarde. Es gab für diese Art von Fotografie in Frankreich keine Vorarbeiten. So wurde die Krull dort selbst zum Vorbild.
Die 1897 in Ostpreußen geborene, von 1915 bis 1918 an der Münchener Lehr- und Versuchsanstalt für Fotografie im Fotohandwerk ausgebildete Germaine Krull lebte erst ab 1926 in Paris, ein großer Teil der Metallfotos war bereits vor ihrer Übersiedlung in die französische Metropole in Rotterdam und Amsterdam gemacht worden. Nachdem sie zwei Jahre lang wenig erfolgreich ein Porträtatelier in Berlin geführt hatte, zog sie 1925 mit dem niederländischen Filmemacher Joris Ivens nach Amsterdam. Durch ihn lernte sie die dortige Filmavantgarde kennen, die sehr unter dem Einfluss der neuen russischen Filme eines Vertov, Eisenstein und Pudowkin stand. Im Umkreis des sozialistischen Schriftstellers und Theoretikers Arthur Müller-Lehning, der 1927 die "Internationale Revue i 10" herausgab, wurde sie mit der konstruktivistischen Fototheorie Laszlo Moholy-Nagys vertraut, der 1925 mit dem Bauhausbuch "Malerei Fotografie Film" das europäische Lehrbuch der "Neuen Fotografie" veröffentlicht hatte. Von allen diesen persönlichen, technisch-medialen und geistigen Begegnungen finden sich Spuren in ihren Fotografien.
Die Krull war eine pragmatische, keine theoriegeleitete Fotografin. Sie verwertete jedes Ausdrucksmittel, das ihr zur Bewältigung der jeweils gestellten Bildaufgabe angemessen erschien, gleichgültig, aus welchem ästhetischen Schulzusammenhang es stammte. Dies erklärt die große stilistische Heterogenität ihres Oeuvres, eine Eigenschaft, von der auch die Bildanthologie "Métal", ansonsten eines ihrer formal homogensten Werke, gekennzeichnet ist. Maschinenfotos im neusachlichen Stil eines Albert Renger-Patzsch, die im Auftrag des Automobilherstellers Citroen und der Pariser Elektrizitätswerke (CPDE) hergestellt worden sind, stehen darin neben nahansichtigen, bisweilen mit der Technik der Mehrfachbelichtung spielenden "freien" Fotos von feinmechanischen Preziosen aus dem Pariser Musée des Arts et Métiers sowie dynamischen Perspektiven auf Schiffsaufbauten à la Moholy-Nagy. Der größte Teil der Sammlung, der aus den um 1924-25 in Amsterdam und Rotterdam gemachten Fotos von Kränen und Hebebrücken sowie den 1927 fotografierten Innenansichten des Eiffelturms besteht, trägt jedoch eine unverwechselbar Krull'sche Signatur.
Diese ist in ihren stilistischen Bestandteilen bis heute nicht wirklich erforscht. Mit Recht hat man darauf hingewiesen, dass die Fotografien der Rotterdamer Eisenbahnhebebrücke - sie stellen die größte Gruppe in dem "Métal"-Konvolut dar - ästhetisch den Kameraeinstellungen von Joris Ivens' Anfang 1928 uraufgeführtem Film "De Brug" nahe stehen. Der Ausschnitt dieser Fotos ist oft formal wenig signifikant, er wirkt wie beiläufig gewählt. Dies verleiht dem Bild eine offene Struktur, so als handele es sich dabei um den zufälligen Moment einer Blick- oder Kamerabewegung. Es ist das Prinzip der bewegten, subjektiven Kamera des modernen Films, das diesen Fotografien zu Grunde liegt. Dadurch unterscheiden sie sich grundlegend von den nach den Regeln der Raum-Fläche-Geometrie gestalteten Fotografien des Konstruktivismus, denen sie oft subsumiert werden.
Es gibt noch ein weiteres Formelement, das sie von der konstruktivistischen Ästhetik der Technik trennt. Auf vielen Fotografien erscheinen die metallischen Strukturen der Kräne und Brückenbauten unscharf, silhouettenhaft, wie im Gegenlicht fotografiert. Dieser Eindruck wird durch die Weichheit des eingesetzten Reproduktionsverfahrens, des Lichtdrucks, noch verstärkt. Hier wirkt offenbar die piktorialistische Ästhetik aus Krulls Lehrjahren an der Münchener Fotoschule nach. Es war dies eine weichzeichnerische, auf die Wiedergabe atmosphärischer Stimmungen von Naturlandschaften und Interieurs abzielende Aufnahmemethode. Krulls Metallfotos wirken in der Geschichte der fotografischen Moderne deshalb so ungewöhnlich, weil die Fotografin diese Sichtweise an einem Gegenstand erprobte, der dieser diametral entgegenzustehen schien: den Ingenieursbauten aus Eisen. Während im Piktorialismus jedoch das Licht im Vordergrund stand, ist es für Krull der Schatten. Die aufregendsten und eigenwilligsten Fotos in dieser Gruppe nähern sich abstrakten Gemälden an, einige wirken fast wie Tuschezeichnungen. Die Monumente der Technik treten vor uns wie Spielfiguren in einem Schattentheater, schimärenhaft und doch wirklich. Für diese Bilder hat möglicherweise auch die frühe, abstrakte Filmästhetik Walter Ruttmanns Pate gestanden, die Germaine Krull während ihrer Berliner Jahre gemeinsam mit Joris Ivens rezipiert hat.
Wieder eine andere Sehweise repräsentieren die zirka ein Dutzend Fotografien des Eiffelturms. Auch hier gewinnen wir den Eindruck einer Kamerafahrt durch die innere Struktur dieses Bauwerks. Der Aufzug und seine Antriebsräder stehen sinnbildhaft im Zentrum dieser Bilder. Von innen gesehen, wird die komplizierte Konstruktion des Bauwerks keineswegs klarer oder transparenter, ganz im Gegenteil. Auch hier hat die Fotografin keinen konstruktiven, sondern einen expressiven Blickpunkt auf den Gegenstand eingenommen, der das Gewirr, das Netzartige und Undurchschaubare der filigranen Eisenverstrebungen nicht klärend abstrahiert, sondern noch verstärkt. Angesichts einiger Fotos meint man, in einen eisenverstrebten Stollen einzufahren. Nichts haben diese Bilder von der gestochen scharfen, auch noch die kleinste Niete wiedergebenden Präzision der Technikfotos eines Renger-Patzsch. Vieles haben sie mit den Ausdruckswerten der expressionistischen Filmkunst gemein. Einer der hellsichtigsten französischen Fotokommentatoren, der Paris-Schriftsteller Pierre Mac Orlan, hat dies bereits 1931 deutlich gesehen, als er im Vorwort zu einer ersten kleinen Krull-Monografie konstatierte: "Die Fotokunst ist die große expressionistische Kunst unserer Zeit".
Jeder kunst- und fotohistorisch interessierte Fachmann oder Laie wird begeistert sein, dass dieser Klassiker unter den Fotobüchern der Zwanzigerjahre jetzt zu einem erschwinglichen Preis wieder zu haben ist, und das in einer Druckqualität, die der Originalausgabe in nichts nachsteht. Man mag bedauern, dass in dem Begleitheft zu der Neuausgabe über die konkreten Entstehungsumstände der einzelnen Fotografien und des Mappenwerks insgesamt nichts zu erfahren ist. Die von den Herausgebern gemeinsam mit der Fotografin bereits 1978 für die Neuauflage erarbeiteten Titel und Datierungen der Fotografien sind hilfreich, wissenschaftlich jedoch nicht als endgültig zu betrachten. Bildtafel 15 gehört eher in den Werkzusammenhang der Objekte aus dem Musée des Arts et Métiers als in den der Aufnahmen des Pariser Elektrizitätswerks, Tafel 21 zeigt nicht Drehkräne im Hafen von Toulon, sondern im Hafen von Le Havre, wie eine Variante dieses Fotos in der Krull-Monografie von 1931 deutlich macht. Dort wurde die Aufnahme 1928 datiert, hier lautet die Datierung "1926". Wir verfügen bis heute über keine quellenkritisch gestützte Chronologie der Fotografien in "Métal". Verglichen mit der älteren Sekundärliteratur werden die meisten Fotos in der Neuauflage um zwei Jahre später datiert, was in vielen Fällen plausibel ist. Durch keine Quelle belegt sind bis heute die frühen Datierungen der Industrie- und Hafenfotos in Rotterdam und Amsterdam auf 1923 und '24. Hier bleibt für den Historiker noch manches zu tun.
Germaine Krull: "Métal". 64 Tafeln. Textheft mit einem Vorwort von Florent Fels, Köln: Ann und Jürgen Wilde 2004, EUR 220,00
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