sehepunkte 6 (2006), Nr. 3

Gabriel P. Weisberg / Edwin Becker / Évelyne Possémé: L'Art Nouveau. La Maison Bing

Wie kein anderer Kunsthändler hat Siegfried Bing die Entwicklung und das Erscheinungsbild des Jugendstils, namentlich Pariser Prägung, durch sein vielfältiges Wirken mitbestimmt. Seine im Dezember 1895 eröffnete Galerie "L'Art Nouveau" bildete nicht nur einen künstlerischen Kristallisationspunkt der Epoche, sondern hat der Stilbewegung in Frankreich auch ihren gültigen Namen gegeben.

Den weit über Paris hinausreichenden Aktivitäten Bings als Händler, Sammler, Kenner, Vermittler und Autor ist eine Wanderausstellung durch vier europäische Kunstmetropolen gewidmet, für deren Organisation das Musée des Arts Décoratifs in Paris als Hauptleihgeber und das Van Gogh Museum in Amsterdam als Initiator verantwortlich zeichnen. Mit seiner Beteiligung erinnert das niederländische Institut an Bings Bedeutung für Vincent van Gogh, der kurzfristig für den Händler tätig war und von diesem zahlreiche japanische Farbholzschnitte für seine Sammlung erwarb.

Ein zentrales Anliegen der Veranstalter war es, nur solche Kunstobjekte japanischer Werkstätten und des Art Nouveau zu präsentieren, die Bing über seine Galerie verkauft oder auf Ausstellungen gezeigt hatte. In gleicher Weise Berücksichtigung fanden Gegenstände, die im Zuge der Versteigerung von Bings Privatsammlung im Jahr 1900 oder durch Schenkungen seines Sohnes Marcel in Museen und private Hände gelangten. Dementsprechend wurde bei dem alphabetisch nach Künstlern geordneten Verzeichnis der rund 400 Exponate am Ende des Begleitbandes auf detaillierte Objekterläuterungen verzichtet, hingegen auf Angaben über Erwerbungsumstände und Ausstellungsdaten besonderer Wert gelegt. Als höchst instruktiv erweisen sich dabei die Angaben zu den Verkaufspreisen Bings, die, mangels überlieferter Geschäftsunterlagen, mühevoll aus Museumsinventaren und Korrespondenzen ermittelt werden mussten.

Dem schmalen Katalogteil sind elf Beiträge ausgewiesener Fachleute für die Kunst des Art Nouveau wie Évelyne Possemé, Philippe Thiébaut und Rüdiger Joppien vorangestellt. In der Folge der großzügig bebilderten Texte wird das überaus facettenreiche Spektrum von Bings Persönlichkeit und Entwicklung zum bedeutendsten Kunsthändler des Fin de Siècle in allen erdenklichen Aspekten entfaltet. Schwerpunkte bilden Bings Tätigkeit als Japanhändler, seine Rolle als geradezu missionarischer Vermittler des Japonismus und Art Nouveau zwischen Europa, Asien und den Vereinigten Staaten, schließlich sein Wirken als Galerist und Produzent von Inneneinrichtungen in eigenen Werkstätten, deren bedeutendste Leistung der berühmte Pavillon auf der Pariser Weltausstellung von 1900 verkörperte. Den gewichtigsten Anteil an den Katalogbeiträgen hat Gabriel P. Weisberg, neben Edwin Becker und Évelyne Possémé Mitherausgeber des Kataloges und sicherlich der profilierteste Kenner der Materie. Seine anlässlich einer Wanderausstellung in den Vereinigten Staaten im Jahr 1986 erschienene Bing-Monografie hat bis heute ihren Rang als grundlegendes wissenschaftliches Werk bewahrt und lieferte offensichtlich das Vorbild sowohl für die Objektauswahl wie auch für die Themenstruktur in dem vorliegenden Band. [1]

In seinem einleitenden Essay gibt Weisberg eine detaillierte Schilderung des familiären Hintergrundes und der geschäftlichen Entwicklung des zunächst in Hamburg, seit 1854 in Paris tätigen Siegfried Bing. Eine entscheidende Weichenstellung bedeutete der von Weisberg minuziös nachgezeichnete Aufbau einer international agierenden Asiatica-Handlung in den 1870er-Jahren, aus der Bings überragende Stellung als kaufmännischer Vermittler, Sammler und Kenner insbesondere japanischer Kunst erwuchs. Die Bedeutung Bings als Repräsentant des Japonismus seit der Pariser Weltausstellung von 1878 wird in dem Katalogbuch in zwei separaten Aufsätzen mit berechtigter Ausführlichkeit gewürdigt. Während Christine Shimizu den verschiedenen Formen der - bei aller Kennerschaft durchaus subjektiv gefärbten - Annäherung Bings an die fernöstliche Kunst nachspürt, untersucht Weisberg die maßgebende Rolle des Pariser Kunsthändlers gleichsam als internationaler Propagandist des Japonismus, und zwar sowohl anhand seiner Geschäfts- und Ausstellungspraxis wie auch am Beispiel der von ihm in drei Sprachen edierten Monatszeitschrift "Le Japon Artistique". Besonders bemerkenswert ist die von Weisberg eingehend diskutierte japanische Kritik am angeblich dubios-kommerziellen Charakter und der mangelnden Sachkompetenz des Journals, zu dem neben Bing nahezu alle europäischen Japan-Experten wie Burty, Goncourt, Gonse und Brinckmann Beiträge lieferten.

Auf einer gegenüber seiner Monografie erweiterten Quellenbasis erläutert Weisberg Bings Aktivitäten in den Vereinigten Staaten, die bereits um 1882, also lange vor der USA-Reise des Kunsthändlers im Jahr 1894 einsetzten. In der für ihn kennzeichnenden Aufgeschlossenheit gegenüber den gestalterischen Innovationen außerhalb Frankreichs übernahm Bing nicht nur die Vertretung von Tiffany in Europa, sondern setzte sich auf dem Kontinent als erster für moderne Keramikmanufakturen wie Rockwood und Grueby ein, deren Erzeugnisse er an deutsche und skandinavische Museen verkaufte. Seine Schrift "La Culture artistique en Amérique" (1896) fand - vor allem in den USA - zwar ein zwiespältiges Echo, trug beim französischen Publikum jedoch wesentlich zur Kenntnisnahme der künstlerischen Bestrebungen in den Vereinigten Staaten bei.

Seine Offenheit für neue Stiltendenzen außerhalb Frankreichs und seine damit verbundene Risikobereitschaft stellte Bing, wie Philippe Thiébaut zeigt, besonders nachdrücklich bei der Gründung seiner Galerie "L'Art Nouveau" unter Beweis, deren erste Einrichtung stark vom linearen Dynamismus der Belgier van de Velde und Lemmen geprägt war. Die vorwiegend ablehnende Reaktion des Pariser Publikums wurde durch die Einbeziehung zeitgenössischer französischer Künstler wie der Nabis und Neo-Impressionisten keineswegs gemildert, sondern eher noch verstärkt. Erst der auf das Louis XV verweisende elegante Linienstil von Bings späteren "Hausdesignern" de Feure, Gaillard und Colonna vermochte, wie Karine Lacquement am Beispiel der Pariser Weltausstellung von 1900 aufzeigt, die französische Kundschaft Bings zu begeistern und ihm die erwünschten Verkaufserfolge zu ermöglichen.

Besonderer Erwähnung bedarf der abschließende Beitrag von Rüdiger Joppien, dessen profunde Würdigung Bings aus dem Jahr 1999 in der Bibliografie des vorliegenden Kataloges fehlt. [2] Der Autor untersucht den - in Weisbergs Monografie kaum thematisierten - Aspekt der Wirkungen Bings nach Deutschland, wo Kunsthandelshäuser wie "Hirschwald" und "Keller & Reiner" in Berlin in ähnlicher Weise wie die Galerie "L'Art Nouveau", doch ohne den missionarischen Eifer ihres Inhabers, das Kunstgewerbe und die Raumkunst des Jugendstils auf internationalem Niveau propagierten. Die hier aufscheinende Verflechtung der großen europäischen Kunsthändler und Galerien einerseits und deren über kaufmännische Interessen oft weit hinausgehenden Beziehungen zu den Kunstgewerbemuseen anderseits sind ein kennzeichnendes Phänomen der Epoche um 1900, für dessen vertiefte Erforschung der vorliegende Ausstellungskatalog vielfältige Anregungen bietet.


Anmerkungen:

[1] Gabriel P. Weisberg: Art Nouveau Bing. Paris Style 1900, New York 1986.

[2] Rüdiger Joppien: Siegfried Bings Kunsthaus "L'Art Nouveau". In: Renate Ulmer (Hg.): Art Nouveau. Symbolismus und Jugendstil in Frankreich. Ausstellungskatalog Institut Mathildenhöhe Darmstadt, Stuttgart/New York 1999, 116-127.

Rezension über:

Gabriel P. Weisberg / Edwin Becker / Évelyne Possémé: L'Art Nouveau. La Maison Bing, Stuttgart: Belser Verlag 2005, 295 S., 300 Farbabb., ISBN 978-3-7630-2441-4, EUR 49,90

Rezension von:
Michael Koch
Bayerisches Nationalmuseum, München
Empfohlene Zitierweise:
Michael Koch: Rezension von: Gabriel P. Weisberg / Edwin Becker / Évelyne Possémé: L'Art Nouveau. La Maison Bing, Stuttgart: Belser Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/03/9690.html


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