sehepunkte 6 (2006), Nr. 4

Arnd Reitemeier: Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters

Das im Titel angekündigte Vorhaben ist imposant: eine reichsweite Gesamtschau zur Verwaltung städtischer Pfarrkirchen im späten Mittelalter (1250 bis 1520). Angesichts der Masse an Quellen und der lokalgeschichtlich zersplitterten und ansonsten sehr dünnen Forschungslage wäre eine gelungene Umsetzung so notwendig wie bahnbrechend. Zugleich scheint es kaum möglich, alle Aspekte dieses so facettenreichen Themas in einer einzigen Arbeit zu berücksichtigen.

Arnd Reitemeiers demnach notwendige Beschränkung besteht in einer Schwerpunktsetzung bei der Quellenauswahl: Die Habilitationsschrift ist entstanden im Rahmen eines Forschungsprojektes über Kirchenrechnungsbücher, deren formale Beschreibung und methodische Analyse im ersten Kapitel als Nebenziele auch der vorliegenden Arbeit formuliert werden. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der vollständigen Auswertung der Rechnungsbücher von St. Willibrord in Wesel, denen jene von St. Nikolaus in Wesel, St. Sebald in Nürnberg, St. Moriz in Coburg, St. Martin und Unserer Lieben Frau in Bamberg, St. Jakob in Rothenburg, St. Marien in Bielefeld sowie Unser Lieben Frau und der Heilig-Kreuz-Kirche in Dresden vergleichend zur Seite gestellt werden. Hinzu kommen zahlreiche lose Nachrichten weiterer Einzelfälle aus dem gesamten Reich.

Solch ein Vorgehen ist gerechtfertigt, insofern die Ergebnisse ohnehin nur bedingt repräsentativ sein können und die Auswahl der genannten Orte sorgfältig getroffen wurde. Reitemeier nimmt dabei in Kauf, dass durch die Zurückstellung flankierender verfassungsgeschichtlicher Quellen viele der im zweiten Kapitel, einer Einführung in die Genese der Kirchenfabriken, angedeuteten Fragestellungen unbeantwortet bleiben müssen, besonders die Vermutung einer in Form der Kirchenfabriken durch die städtische Obrigkeit aufgebauten Kontrolle über die untergeordneten geographischen / sozialen Einheiten und das Pfarrwesen. Das ist bedauerlich, muss jedoch angesichts der Konzentration auf die Administration hingenommen werden. Durch den überwiegenden Verzicht auf nicht unmittelbar der Kirchenfabrik zugehörige, sondern nur mit ihr verbundene Rechnungen zu Benefizien und Stiftungen ist allerdings das Bild auch der pfarrkirchlichen Finanzverwaltung allein nicht ganz vollständig.

Die Fülle des (gut sortierten) Materials im Hauptteil der Arbeit ist dennoch sehr beeindruckend und angesichts der Forschungslage ein großes Verdienst. Kapitelweise erfolgt eine ausgiebige Beschreibung der Tätigkeitsfelder der Kirchenmeister. Konstitutiv war ihre Zuständigkeit für das Kirchengebäude als religiöser Ort der Gemeinde und als repräsentatives Bauwerk der Stadt, wie sie im dritten Kapitel beschrieben wird. Letztlich finden sich in der regen Bautätigkeit insbesondere des 15. Jahrhunderts auch der Ursprung der Kirchenfabrik als eigenständige Verwaltungseinheit sowie der Motor für ihre Kompetenzerweiterung. Reitemeier kann zudem zeigen, dass sich die Verantwortung der Kirchenmeister eben nicht nur auf die Kirchen und ihre Erbauung beschränkte, sondern auch ihre Instandhaltung und Pflege sowie die der vielen weiteren Gebäude und des Kirch- / Friedhofs beinhaltete. Gleiches gilt für den Punkt Ausstattung, unter dem er im vierten Kapitel Altäre, Bilder, Tafeln und Figuren, Kirchenschatz, liturgisches Gerät, Paramente, Leuchter, Gestühl, Möbel, liturgische Handschriften, Orgeln, Glocken und Kirchturmuhren subsumiert. Auch hier wird deutlich, dass nicht die Anschaffung, sondern vor allem die Pflege einen nicht zu unterschätzenden Aufwand darstellte - vor allem mit der wachsenden Zahl der Gegenstände.

Insgesamt gelingt es Reitemeier durch seine detaillierte Schilderung von Unterschieden, das Bild ebenjenen heterogenen Phänomens zu zeichnen, das die Pfarrkirchen im Reich vermutlich waren. Dabei unterliegt er allerdings oft einer Fixierung aufs Materielle, mithin auf die Frage: Was besaß die Kirchenfabrik beziehungsweise wofür wurde Geld ausgegeben? Genau dies ist aus den Rechnungsbüchern natürlich besonders gut zu ersehen; sie geben jedoch kaum Auskunft über die Beziehungen der handelnden Personen. Das führt zu einer Vernachlässigung des Aspekts der Kommunikation: So sind beispielsweise die für die Beteiligung der Laien im Rahmen der Pfarrgemeinde enorm wichtigen Bruderschaften oder die Beziehungen zu Stiften und Klöster im fünften Kapitel über die religiösen Handlungen unterrepräsentiert. Die konkrete Beschreibung der Einbindung der Kirchenmeister in den sozialen Kontext der Stadt beschränkt sich an späterer Stelle (Kapitel 7) im Grunde auf ihre Festessen sowie die Geschenke, die sie verteilten. Und auch bei der Untersuchung des Personals dominiert vor allem die Frage, wer wen für welche Tätigkeit bezahlte. Deutlich wird durch diese Perspektive allerdings der immense organisatorische Aufwand, der den Kirchenmeistern großes Geschick in der Verwaltung und die Fähigkeit zum Delegieren an einen nicht geringen Stab von Mitarbeitern abverlangte. Und auch wenn in der klassischen Kirchengeschichte die Rolle der Pfarrer dabei zu wenig betont sein dürfte, denen nur eine - leider nicht vertiefte - "Verbindungsfunktion" zu den Gemeindemitgliedern (324) zugebilligt wird, so muss doch insgesamt die Berechtigung des wirtschaftshistorischen Ansatzes der Arbeit anerkannt werden. Denn nicht nur findet dieser seinen gelungenen Höhepunkt im sechsten Kapitel, einer fundierte Analyse der Einnahmen-Ausgaben-Relation der Kirchenfabriken sowie ihrer finanziellen Gesamtsituation; in der Folge wird auch klar, dass an vielen Stellen zu Recht mit Nachdruck auf die Rolle der Kirchenmeister "als Mittler und zugleich Geldgeber für Aktivitäten innerhalb der Pfarrverbände" (607) hingewiesen wurde - beispielsweise bei der Zuständigkeit für den Rahmen der sakralen Handlungen, Kirchenfeste und Prozessionen. Nicht zuletzt schufen sie in genau dieser Funktion "zu einem erheblichen Teil die Bedingungen für die Identifikation der Gemeindemitglieder mit ihrer Kirche" (607).

Hier zeigt sich ein interessantes Spannungsfeld, denn dieser Verantwortlichkeit stand ein ansonsten überwiegend auf die Interessen der Oberschicht ausgerichtetes Wirken gegenüber, das vor allem in der für die Kirchenfabrik zentralen Verwaltung der Stiftungen zum Ausdruck kommt, für die eine "Konnex zwischen der Bewusstwerdung um die zu bewahrende Erinnerung auf der einen und der Politik des Rates oder der herrschenden Familien auf der anderen Seite" (598) konstatiert werden kann. Der Wandel hin zu einer individuelleren Erinnerung steht dabei für eine wachsende soziale Differenzierung in der Gesellschaft, doch verlief dieser Trend eben auch parallel zu der angedeuteten integrativen Funktion der Pfarrkirche für die Stadt wie für die Gemeinde - und zwar über die herrschenden Schichten hinaus: durch die Inszenierung von Schauspielen und Festen, den Verkauf von Ablässen sowie die Förderung des Kirchenbaus, der mitsamt Turm, Glocken und Orgel die Stadt prägte und den Bewohnern so Identität gab.

Damit schließt sich der Kreis, denn die "immer stärkere Bedeutung der Memoria im Hinblick auf die Generierung sozialen Bewusstseins und familiärer Erinnerung ging mit Bestrebungen einher, die Pfarrkirche zu erneuern" (606): Und umgekehrt: "Symbolisierte das Kirchengebäude das Selbstbewusstsein der Stadt nach außen, so vertraten die Kirchenmeister das Selbstverständnis des Rates und der führenden Familien im inneren der Kirche" (608): Es gab also einen engen Zusammenhang zwischen dem religiösen Leben in der Kirche, dessen Finanzierung und Organisation die Kirchenmeister sicherzustellen hatten, und der städtischen Sozialordnung. Auf den Punkt gebracht, rechtfertigt Reitemeier damit schließlich die Ausrichtung seiner Arbeit. Denn insgesamt haben demnach die wirtschaftlich-finanziellen Möglichkeiten der Kirchenmeister zugenommen, während sie politisch immer stärker an den Rat der Stadt gebunden waren. "Und angesichts dieser Abhängigkeit waren die Kirchenmeister eben mehr Verwalter der Kirchenfabrik als Gestalter des kirchlichen Lebens in der Gemeinde" (603):

Am Ende der Arbeit wird damit die ganze Stärke ihrer wirtschafts- und verwaltungsgeschichtlichen Analyse deutlich. Und doch muss der politisch-soziale Teil der Aussage noch eingehender untersucht werden, denn weit reichende Thesen wie die Bezeichnung der Kirchenfabrik als "wichtiges Instrument des Rates zur Herrschaft in der Stadt" (624) oder die Entdeckung einer "Schicht städtischer Funktionsträger" unterhalb der Ebene des Rats (620) werden weniger aus eigenen Quellen heraus belegt, sondern greifen auf Annahmen der Sekundärliteratur zurück. Durch Reitermeiers Arbeit existiert aber nun eine materialreiche Grundlage für die Erforschung auch dieser Fragen - so wie insgesamt die Zusammenstellung eines solch umfangreichen Kompendiums einen Standard auf diesem Gebiet setzen wird.

Rezension über:

Arnd Reitemeier: Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; 177), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 722 S., ISBN 978-3-515-08548-9, 90,00

Rezension von:
Tobias Wulf
Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, Universität Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Wulf: Rezension von: Arnd Reitemeier: Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/04/9557.html


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