Im Jahr 2000 erschien als erster Band einer neuen Reihe der Titel "Was ist Gotik?" von Günther Binding, geschrieben, um zum Verständnis "der so beeindruckenden gotischen Architektur beizutragen". Diesem Ziel hat sich auch der Romanikband von Hartmann-Virnich verschrieben. In der Einleitung weist der Autor ausdrücklich darauf hin, dass er keine erschöpfende Literaturauswertung leiste, sondern von den mit den Methoden der Bauforschung gewonnenen Erkenntnissen und dem faktischen Baubestand ausgehe, wobei er um Verständnis bittet, dass der Schwerpunkt bei den ihm vertrauten Monumenten liege.
Eine Gesamtdarstellung der romanischen Architektur in Europa erscheint wie die Quadratur des Kreises und Hartmann-Virnich unternimmt dieses große Unterfangen, indem er die Bauten nach Form und Gestalt analysiert und damit gleichsam eine Grammatik der romanischen Architektur erstellt.
Überaus verdienstvoll ist das Kapitel zur Entstehung und Rezeption des Romanik-Begriffs und der Forschungsgeschichte, in dem die verschiedenen Forschungsansätze in der deutschen, englischen, französischen und italienischen Kunstgeschichtsliteratur und ihre Wechselwirkungen dargestellt werden. Dem Bearbeitungsansatz entsprechend geriet das Kapitel zu den historischen Grundlagen sehr kurz - im Grunde viel zu kurz, da es nur schlaglichtartig Einzelaspekte wiedergeben kann. Für den interessierten Laien, an den sich die Bände dieser Reihe ebenfalls richten, dürften sich die Zusammenhänge erst nach der Lektüre weiterer Literatur erschließen. Die weitgehende Ausblendung der politischen, wirtschaftlichen und kirchen- bzw. ordensinternen Bedingtheiten bei den richtungsweisenden Bauten wird der historisch interessierte Leser schmerzlich bemerken.
Im dritten Kapitel erörtert Hartmann-Virnich den Komplex Bauplanung, Bauorganisation und Bauausführung. Dabei "soll die Bedeutung des bauarchäologischen Ansatzes für das Verständnis der romanischen Architektur (...) an ausgewählten Beispielen veranschaulicht werden." Die im Detail aufschlussreichen Ausführungen zeigen deutlich die Forschungsschwerpunkte des Autors und werden damit zwangsläufig irreführend, wenn er beispielsweise ausführt, dass Gerüsthölzer meist aus Eiche bestehen. Dies mag für Frankreich zutreffen; darüber hinaus werden jedoch hierfür häufig Pappel, Esche, Buche oder andere Laubhölzer sowie Nadelhölzer verwendet. Die Abbildung eines der zahlreichen Beispiele, in denen die aus der Wand ragenden Gerüsthölzer noch zu sehen sind, wäre hier sehr anschaulich wesen. Gleiches gilt für die Gewölbeschalungen, für die zeitgleich Schalungen aus Krüppelhölzern, Latten und breiten Bohlen vorkommen. Teilweise sind sie noch in situ erhalten. Die meisten Ausführungen zur Bautechnik - etwa zur Steinbearbeitung - werden durch Befunde an französischen, insbesondere südfranzösischen Bauten bestimmt, die nicht ohne weiteres auf ganz Europa übertragen werden können. Bei der Austragung der Gebäudegrundrisse geht Hartmann-Virnich zwar auf die Verwendung von Pflöcken für die Schnurgerüste ein, erwähnt aber nicht die zahlreich anzutreffenden Ritzmarkierungen an mittelalterlichen Bauten, die auf unterschiedliche Arten der Maßaustragung in den verschiedenen Grundrissebenen hinweisen, die auch durch Bildbelege gesichert sind. Gerade in diesem Kapitel zur Bautechnik hätte sich der Leser eine stringentere Bebilderung und eine entsprechende Aufbereitung der Bauaufnahmen, beispielsweise von der Westwand des Südquerarms des großen Querhauses oder von der Westfassade der Abteikirche Saint-Gilles-du Gard gewünscht. Meist erschließen sich diese Abbildungen nicht von selbst. So kann der Leser im Falle von Cluny III die in der Bildunterschrift enthaltenen Hinweise auf Bauphasen und bauliche Veränderungen allenfalls erahnen; gleiches gilt bei dem Fassadenausschnitt von Saint-Gilles für den in der Bildunterschrift genannten Versatz vorgefertigter und teilweise unpassender Werkstücke. Sicher kann man in einem solchen Band nicht jeden Befund im Detail ausbreiten, doch wären hier wenige, gezielt ausgewählte und sorgfältig dargestellte Befunde nützlicher als die Ausbreitung vieler, letztendlich zufälliger Bespiele, deren Relevanz sich nur demjenigen erschließt, der solche Befunde bereits kennt.
Das erste Hauptkapitel - Bauformen des flach gedeckten und gewölbten Raumes - zeigt deutlich die Grenzen des auf die Analyse der Bauform und Baugestalt reduzierten Ansatzes. Nur die Vernachlässigung der unterschiedlichen Nutzungen und der naturräumlichen Gegebenheiten, wie Klima, Vorkommen von Baumaterial etc. erlauben den Vergleich unterschiedlichster, weit verstreut liegender Gebäude. Dies mag für den typologisch arbeitenden Architekturhistoriker von gewissem Nutzen sein, dient aber kaum dem besseren Verständnis der Einzelbauten oder der romanischen Architektur im Allgemeinen. Mitunter ist die Darstellung der einzelnen Bautypen im Text und den Bildunterschriften zudem missverständlich: wie etwa bei der Darstellung des Langhauses vom Hildesheimer Dom. Während Hartmann-Virnich bei den französischen Beispielsbauten oft detailliert auf die Eingriffe und Veränderungen in die Bausubstanz im Zuge von Restaurierungen und Wiederaufbaumaßnahmen eingeht, fehlen diese hier vollkommen. So wird die 1945/60 geschaffene Raumform des Hildesheimer Langhauses als salischer Baukörper vorgestellt (136 f.) und für die Säulen werden Würfelkapitelle angenommen (246), während die noch erhaltenen Originalkapitelle ausschließlich als Zungenblattkapitelle ausgebildet sind. Im Falle der Stiftskirche von Nivelles (298) fehlt der Hinweis, dass die Obergeschosse des Westbaus eine Rekonstruktion an Stelle spätgotischer Umbauten sind - die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen.
Folgerichtig ist auch das zweite Hauptkapitel "Die Bauteile und ihre Gestaltung" ohne Berücksichtigung der Raumnutzung verfasst. Problematisch wird dies etwa in dem Abschnitt "Apsis und Chor", da der liturgische Chor oft wesentliche Teile des Querhauses und des Langhauses mit umfasst. Die Bedeutung der auf die jeweilige Nutzung abgestimmten Bauform findet bei dieser Darstellungsweise keinen Raum. Das Kurzkapitel "liturgische Ausstattung" (259 - 260) kann diesem Manko nicht abhelfen, zumal die wenigen genannten italienischen Beispiele die Gesamtthematik nicht abdecken. So fehlen beispielsweise Hinweise auf die erhaltenen Chorschranken und andere entsprechende Einbauten in romanischen Kirchen nördlich der Alpen, die alleine für eine einzelne Bauaufgabe unterschiedlichste, auf die jeweilige Nutzung der dortigen Kirchenbauten abgestimmte Ausformungen zeigen würden. Der wiederholte Hinweis auf die unklare oder unbekannte Nutzung von Räumen greift nicht, solange die oft detaillierten Ergebnisse neuerer Untersuchungen nicht berücksichtigt werden.
Die Auswahl der Beispiele erscheint oft zufällig, so etwa im Abschnitt "Fensterverschluss", wo auf die Abdrücke von im Mauerwerk verbauten Bohlen- und Blockfenstern an der Stiftskirche von Walbeck verwiesen wird (257), die in situ erhaltenen Blockfenster im Konstanzer Münster, mehrfach, u. a. 1956 publiziert, und die Bohlenfenster von St. Georg in Reichenau-Oberzell, ebenfalls mehrfach publiziert, aber unerwähnt bleiben. Im Abschnitt Bauskulptur (im Text erscheint fast ausnahmslos der Begriff Bauplastik), wird das erhaltene Pilzkapitell von Kreuzgang von St. Pantaleon in Köln als Exemplar häufiger geometrischer Formgebung früher Kapitelltypen genannt: zum einen handelt es sich hier aber um keine geometrische Form im strengen Sinne und zum anderen sind die bekannten Beispiele auf nur wenige Bauten beschränkt, sodass kaum von einer allgemein verbreiteten Form gesprochen werden kann.
Nur am Rand kann der Autor auf Stuckausstattungen eingehen. Man hätte allerdings repräsentativere Beispiele als die Stuckfragmente der Quedlinburger Wipertikrypta oder die Fragmente in der dortigen Stiftskirche erwartet. Einen Hinweis auf die bedeutenden Stucktympana von St. Godehard in Hildesheim (der Bau ist im Text mehrfach erwähnt und abgebildet) und vom Dom in Erfurt vermisst man ebenso, wie einen solchen auf die zahlreich erhaltenen und gut aufgearbeiteten Stuckarbeiten in den sächsischen Kirchenbauten des 12. und frühen 13. Jahrhunderts.
Der Band ist überaus reich bebildert - leider handelt es sich dabei zum weit überwiegenden Teil um Aufnahmen von mäßiger bis schlechter Qualität. Gerade bei einem Band über Architektur sollte man eine qualitative Bildauswahl erwarten, wie sie die in derselben Reihe erschienenen Bände von Günther Binding: Was ist Gotik? und Stephan Hoppe: Was ist Barock? vorbildhaft zeigen. Die teilweise extrem stürzenden Linien verzerren die Raumproportionen oft bis zur Unkenntlichkeit. So ist die in der Bildunterschrift zur Innenansicht des Langhauses von Sainte-Magdalene in Vézelay genannte "Verformung der Kreuzgratgewölbe" dank dieser Aufnahmetechnik - abgesehen davon, dass es sich in ersten Linie um eine Verformung der Obergadenwände und der Wandstützen handelt - nicht mehr nachzuvollziehen.
Bei den vielfach vorhandenen Zeichnungen ist anzumerken, dass sie ohne feste Skalierung, bisweilen ohne jede Maßstabsangabe publiziert sind und manche Gegenüberstellung missverständlich ist. So erscheint St. Aurelius in Hirsau (in der von Dehio-Bezold veröffentlichten Rekonstruktion; die 1990 vom Landesdenkmalamt Baden-Württemberg herausgegebene dreibändige Monografie blieb unberücksichtigt) als Monumentalbau neben dem Grundriss von St. Peter und Paul in Hirsau. Gerade der mehrfach genannte erste Band dieser Reihe von Günther Binding zeigt, wie sinnvoll und nützlich die Verwendung einheitlicher Maßstäbe bei einer solchen Publikation ist.
Das von Hartmann-Virnich unternommene Unterfangen, eine Gesamtdarstellung der Romanik zu versuchen (8), macht die Überblicksdarstellungen von Hans Erich Kubach und Hans-Georg Mrusek [1] nicht entbehrlich. Der Band vermag auch nicht den Anspruch, die Bedeutung der historischen Bauforschung für das Verständnis der Romanik aufzuzeigen, einlösen. Zum einen gehen die heutigen Methoden der historischen Bauforschung weit über die Aufnahme und Dokumentation von Baubefunden hinaus. Zum anderen erscheint die Auswahl der Beispiele oft zufällig, die Befundlage wird meist nur angerissen und der Textinhalt verlangt oft einschlägige Grundkenntnisse des Lesers.
Die in den beiden Hauptkapiteln angewandte Methode der Bau- und Formanalyse ist nur ein Weg, sich dem Forschungsgegenstand zu nähern, vermag aber alleine kaum mehr als ein Instrumentarium zum Erfassen der Bausubstanz zu liefern. Ein Verständnis für die romanische Architektur, bzw. für den jeweiligen Einzelbau indes erschließt sich erst in einem übergreifenden kulturgeschichtlichen Ansatz. Ein Kenner romanischer Architektur wird hingegen in dem Band Hartmann-Virnichs viele Verweise auf weniger bekannte Beispiele finden, durch manchen Befund auf veränderte Fragestellungen aufmerksam werden und manche typologischen Wechselbeziehungen neu hinterfragen.
Anmerkung:
[1] Hans Erich Kubach: Architektur der Romanik, Stuttgart 1974; Hans-Georg Mrusek: Romanik, 4. Aufl. Leipzig 1991.
Andreas Hartmann-Virnich: Was ist Romanik? Geschichte, Formen und Technik des romanischen Kirchenbaus, Darmstadt: Primus Verlag 2004, 288 S., 150 Farb-, 84 s/w-Abb., ISBN 978-3-89678-491-9, EUR 39,90
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