sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8

Rezension: Körperkultur in Deutschland vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik

Die zwei angezeigten Studien, die etwa gleichzeitig erschienen, befassen sich - vom inhaltlichen Fokus und vom Zeitraum her - mit demselben Thema: mit der Körperkultur in Deutschland vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik. Möhring und Wedemeyer-Kolwe wählen allerdings ganz unterschiedliche methodisch-theoretische Zugänge. Die beiden zitieren sich gegenseitig und hatten gegenseitig Einblick in die wichtigsten Forschungsergebnisse. Doch zusammen kommen die Studien nicht - auch wenn es viele Überschneidungen und Parallelthematisierungen gibt, handelt es sich nicht um eine Doppelspurigkeit, sondern um zwei selbstständige Werke mit markanten Interpretationsakzenten.

Der Körper hat sich als Thema einer interdisziplinär orientierten Geschichtsschreibung als abnutzungsresistent erwiesen. Noch immer ist er ein Attraktor kulturgeschichtlicher, diskursanalytischer und historisch-anthropologischer Studien. Auch im Untersuchungszeitraum der beiden Studien war der Körper ein Objekt des Begehrens und gleichzeitig wurde er einer - auch wissenschaftlich angeleiteten - Strategie der Objektivierung und Normierung unterworfen. Möhring spricht für die Weimarer Republik von einer "lebensreformerischen Obsession mit dem natürlichen Körper" (389). Wedemeyer-Kolwe zitiert Siegfried Kracauer, der in den 20er-Jahren mit seinen Miniaturen einen sensiblen und kritischen Überblick über die Phänomene des modernen Alltagslebens geliefert hatte und 1929 in seiner Studie "Die Angestellten" schrieb, die "Kultur des Körpers" sei für die "Massen" zu "einer Hauptform ihrer Existenz" geworden. Im "nackten Körper" der so genannten "Freikörperkultur" (FKK) sah er das "Sinnbild des aus den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen befreiten Menschen" (287, 430).

Beide Studien befassen sich mit der Genealogie des modernen Körpers, der im ausgehenden Wilhelmismus unverkennbare Konturen annimmt. Anders als Wedemeyer, der vor allem die Orientierungskrise des fin de siècle betont, weist Möhring eindrucksvoll eine ganze Reihe gestaffelter Aneignungsschübe und Bedeutungstransformationen nach. Mit dem Konzept der "historischen Mimesis" rekonstruiert sie, wie in der Zeit um 1800 die Antike im Sinne einer invented tradition als normatives Referenzsystem eingespielt wurde und wie sich ein Jahrhundert später nicht nur die Nacktkultur-, sondern die ganze Lebensreformbewegung in Auseinandersetzung mit diesen Griechenphantasmen formierte und diese auf zeittypische Topoi - Maschine und Leistung, Rasse und Reinheit, Volk und Stärke etc. - bezog. Mit Blick auf den Kollaps der Demokratie und die so genannte "Machtergreifung" Hitlers im Januar 1933 stellen beide Autoren die Frage, inwieweit die Nackt- und Körperkultur als Katalysator für den Aufstieg des Nationalsozialismus fungierte und - was nicht zwingend zusammengehört - sich in das "Dritte Reich" einordnete bzw. gleichgeschaltet werden konnte.

Zu den Studien im Einzelnen: Der Sporthistoriker und Volkskundler Bernd Wedemeyer-Kolwe wählt in seiner Göttinger Habilitationsschrift einen breiten Zugriff auf das Phänomen der Körperkultur. Sein Blick fällt auf eine weit gefächerte, sich zunehmend noch differenzierende Bewegung, die sich von den gleichzeitig aufstrebenden Turnvereinen und Sportverbänden nicht nur ideologisch-konzeptionell, sondern auch organisatorisch unterschied, indem sie ein elitäres Selbstverständnis mit einem Hang zum Kommerz und zu bündisch-informellen Zusammenschlüssen kombinierte. Der Verfasser zeichnet das imposante Bild einer im Kaiserreich noch "zwischen mehreren Zehntausend und wenigen Hunderttausend Anhängern" umfassenden, in der Weimarer Republik dann auf "bis über eine Million Aktive" anwachsenden Bewegung, die sich primär "quer durch die neuen bürgerlichen Mittelschichten" rekrutierte. Im Unterschied zu den Turnern und zum Sport integrierte sie Frauen und Männer gleichermaßen und orientierte sich stark an bürgerlichen Normen und Wertvorstellungen, wies jedoch auch Bezüge zum Adel und zur Arbeiterklasse auf (425).

Im Körper sahen die Aktivisten der Bewegung den Ansatzpunkt eines neuen Selbstbezugs. Der "neue Mensch" war ein Versprechen auf die Zukunft, eine religiöse Emanation, er wurde zur attraktiven Ikone, zur utopischen Projektion, in dem Sakralisierungstendenzen (der Körper als "Tempel") eine paradoxe Verbindung eingingen mit forcierter Säkularisierung und Vermarktung. Der schwächliche "alte Adam" sollte überwunden werden durch körperliche Fitness, durch individuelle Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft, Gesundheit, Natürlichkeit, Widerstandsfähigkeit, Kraft, Ausdauer, Flexibilität und Zufriedenheit. Es ging um nichts weniger als um die Lösung der "sozialen Frage" und die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft, mithin die Schaffung paradiesischer Verhältnisse. Am Horizont nahm eine "soziale, wenngleich am modernen Industriestaat ausgerichtete Gemeinschaft" (428) Gestalt an. Diese war einer "Ganzheitsidee" verpflichtet, die wiederum die Sozialutopie des Völkischen mit einer rassisch reinen Volksgemeinschaft amalgamierte. Damit wurde die Idee einer gesellschaftlichen Umgestaltung mit dem Willen zum Ausschluss von "Minderwertigen" verbunden und nach rechts geöffnet. Antisemiten fanden hier ein Wirkungsfeld ebenso wie Rassisten. Die im Kontext eines zivilisations- und rationalisierungskritischen Gegenmoments zur Moderne entstandene Körperkulturbewegung förderte damit nationalsozialistische Modelle der Vergemeinschaftung. Einmal an der Macht oktroyierte das NS-Regime vielen Strömungen der Körperkulturbewegung seine Ordnung auf, während andere verboten wurden oder sich durch Rückzug ins Private und Informelle unsichtbar machten. Dies zeigt wiederum, dass das "Dritte Reich" keine monolithische Gleichschaltungsmaschine war.

Die Studie ist in vier Kapitel unterteilt. In der Einleitung formuliert der Verfasser einige theoretische Prämissen der Untersuchung und stellt Fragen, die das widersprüchliche Profil, die Handlungsspielräume, die Körperentwürfe und die Sinnstiftungsstrategien der Bewegung betreffen und diese in einen größeren historischen Zusammenhang einzuordnen versuchen. Das Schlusswort (Kapitel 4) resümiert in acht Punkten die wichtigsten Resultate. Das zweite Kapitel - das empirische pièce de résistance der Studie - operationalisiert das Thema. Um eine analytische Struktur in das unübersichtliche, in unterschiedlichen Richtungen ausfransende Forschungsfeld zu bringen, macht der Autor in Anlehnung an "zeitgenössische Typenbildungen" (22) einen Gliederungsvorschlag. Er teilt die facettenreiche, in sich selbst widersprüchliche, in permanentem Wandel begriffene Bewegung "in vier große Blöcke" (23) ein, die er von "vier großen Prinzipien" beherrscht sieht. Die entsprechenden Unterkapitel lauten kurz und bündig: Rhythmus, Reinkarnation, Licht und Luft sowie Kraft und Schönheit, worunter bodybuilding und fitness subsumiert werden. Diese Teile weisen zwar etliche deskriptive Durststrecken auf, doch staunt der Leser, was der Verfasser alles aus dem Quellenfundus zaubert. Für die Darstellung wurde eine beachtliche Menge an ungehobenem, heterogenem und weithin auch fragmentarischem Material aus den Tiefen der Archive und Bibliotheken ans Licht der Forschung befördert. Auf dieser disparaten Grundlage zeichnet sich eine geradezu rettungslos komplexe Gemengelage von Strömungen, Organisationen, Netzwerken und Tendenzen ab. Immer wieder thematisiert der Verfasser "die Schwierigkeit der Einordnung und Abgrenzung" (hier 291) und stellt fest, die unterschiedlichen Bereiche der breiten Lebensreformbewegung seien "personell, inhaltlich und organisatorisch eng miteinander verflochten" gewesen (198).

Die Stärke der Analyse liegt im gewagten Erschließen neuer Felder, im Detailreichtum, im hohen empirischen Auflösungsvermögen und schließlich im Versuch einer Verdichtung von Informationen zu einem beeindruckenden Gesamtbild. Es zeigt sich auch ein intensives Bemühen um eine Situierung der empirischen Befunde in einem weiteren gesellschafts- und politikgeschichtlichen Kontext und um die Rezeption der vorhandenen Forschungsliteratur. Allerdings wird - trotz Verweis auf Kulturgeschichte und Historische Anthropologie - nie der Versuch gemacht, eine Gruppe oder Strömung mikrogeschichtlich zu analysieren und die komplexen Wechselwirkungen zwischen subjektiven Situationsdeutungen und sozialen Rahmenbedingungen herauszuarbeiten. Kaum hat man etwas zur Kenntnis genommen, kommt der nächste Punkt. Die Widersprüchlichkeit der Bewegung - die Tatsache, dass sie einen antimodernen Impetus aufwies, diesen jedoch immer wieder modern wendete und somit Zivilisationskritik und Rationalisierungsglauben unentwirrbar miteinander verschränkt - wird zum interpretativen Mantra, das immer beide Seiten des "neuen Menschen" präsent hält, der dann auch im Nationalsozialismus seine Ambivalenz beibehält. Man erkennt in der Arbeit zudem - trotz Themenfeldervielfalt - einen organisationsgeschichtlichen bias, der den Ausblick auf die Dynamik der Interaktion zwischen Diskursen, Praktiken und Institutionen verbaut.

Die Dissertation der Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Maren Möhring bietet von der thematischen Breite her weniger. Sie konzentriert sich auf die deutsche Nacktkultur, die 1925 offiziell in FKK umbenannt wurde. Der nackte Körper wird dabei in seiner imaginären Doppelung als "griechische Statue" und als "organische Maschine" analysiert. Es wird deutlich, wie sich diese beiden Modelle nach Geschlecht und nach "Rasse" differenzieren und wie sich gerade über die Konstruktion des Körpers die Diskriminierungen der Moderne realisieren. Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Ein Erster zeichnet die "Erarbeitung eines natürlichen Körpers" nach, der dabei seine Unschuld, sollte er sie noch besessen haben, vollends verliert. Die "Befreiung von Zwängen", die "Rückkehr zum Natürlichen" wird dechiffriert als ein Normierungsprozess, als intrinsisch motivierte "Selbstnormalisierung", welche die Geschlechterdifferenz vertieft und verstetigt. Teil zwei befasst sich mit der Anverwandlung der Schönheit griechischer Statuen durch den diese nachstellenden männlichen Körper, dessen Wahrheit allerdings nicht in einem humanistischen Wertekodex, sondern in rassenbiologischen Kriterien zum Vorschein kommt. Ein dritter Teil untersucht medizinisch-hygienische Diskurse und ihre Maschinenmetaphorik. Mit der Pflicht zur Gesundheit korrespondiert ein Zwang zur Selbstbeobachtung und Körperkontrolle. Die Forderung nach "nackter Gattenwahl" mit ihren antisemitischen und rassistischen Motiven sanktionierte die Ehe als eine Fortpflanzungsinstitution im Dienste einer reinen und starken "Rasse".

Insgesamt wird - worauf die Verfasserin zuvor immer wieder hinweist - klar, dass die Uneindeutigkeit der Diskurse die nacktkulturelle Unterdrückungsgeschichte des Körpers auflösen und damit Spielräume öffnen, gleichzeitig aber einem effizienteren Zugriff auf den Körper und damit einer effektiveren Machtausübung zum Durchbruch verhelfen kann. Das Sowohl-als-auch, das bei Wedemeyer-Kolwe vorherrscht, wird bei Möhring durch eine asymmetrische Ambivalenz ersetzt. Diese ermöglicht es, die ideologische Drift der Bewegung präziser zu fassen und die Verbreiterung einer biopolitischen Lesart des nackten Körpers in eine Kontinuitätslinie zur nationalsozialistischen Körperpolitik zu stellen. Klarer wird in Möhrings Studie auch die Verbindung von bodybuilding und nationbuilding herausgearbeitet. Der Umschlag einer individuellen Preokkupation in ein kollektives Projekt zur biologisch-moralischen Aufrüstung der eigenen Nation auf rassischer Grundlage sowie die Versuche, die Volkskraft über nationale Regeneration zu stärken, werden immer wieder betont. Gerade der theoretisch ambitionierte körpergeschichtliche Zugriff bringt allerdings auch einige Schwächen dieser Untersuchung zum Vorschein.

Möhring dekonstruiert fixe Vorstellungen eines universellen biologischen Wesens oder einer befreiten Nacktheit ebenso, wie die Behauptung eines naturgegebenen sozialen Geschlechterdualismus oder einer Unterteilung der Menschheit in Rassen, als eine von wissenschaftlichem Wissen, politischen Kräftekonstellationen und sozialen Bedingungen geprägte kulturelle Konstruktion. Sie zeigt, dass der Körper sich nicht in den Weisen des Redens über ihn auflöst, dass er vielmehr auch durch nichtdiskursive Praktiken geprägt wird und eine widerständige Materialität oder materielle Widerständigkeit aufweist. Körperlichkeit transformiert sich in Diskursen - transzendiert sie aber gleichzeitig, sodass die Ordnungen des Sichtbaren nicht den Grenzen des Sagbaren unterworfen sind. Diese Einsicht, die auch die Frage nach dem Zusammenhang von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken impliziert, wird auf das Konzept einer Performativität des Körpers bezogen. - Zumeist bleibt dieser Anspruch der Forschungspraxis allerdings äußerlich und wird nicht so eingelöst, wie sich das ein theoretisch interessierter Leser gewünscht hätte.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Wem es um thematische Horizonterweiterung, um einen breiten Überblick über das schillernde Feld von Strömungen, Bewegungen, Bünden und Vereinen geht, wird sich mit Bernd Wedemeyer-Kolwe besser bedient wissen. Wer die theoretischen Probleme, die mit der Historisierung des menschlichen Körpers verbunden - und in vielem bis heute ungelöst sind - wird weit mehr prospektive Inspirationen aus Maren Möhrings "Marmorleibern" ziehen. Den aficionados der Körpergeschichte möchte man beide Publikationen zur vergleichenden Lektüre empfehlen.

Rezension über:

Maren Möhring: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890 -1930) (= Kölner Historische Abhandlungen; Bd. 42), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 463 S., ISBN 978-3-412-14904-8, EUR 49,90

Bernd Wedemeyer-Kolwe: "Der neue Mensch". Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, 519 S., ISBN 978-3-8260-2772-7, EUR 68,00

Rezension von:
Jakob Tanner
Historisches Seminar, Universität Zürich
Empfohlene Zitierweise:
Jakob Tanner: Körperkultur in Deutschland vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik (Rezension), in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/07/8023.html


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